Wenn Erinnerungen Geschichte werden
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Wenn Erinnerungen Geschichte werden
Wenn Erinnerungen Geschichte werden Gedanken der Generation ’78 bis ’82 zur Wiedervereinigung Von Katharina Guderian B ueenos Aires (AT) – Sie haben den Fall der Mauer miterlebt. Ihre Erinnerung an die Wiedervereinigung ist aber oft nur vage. Die ehemalige Trennung spüren sie hingegen deutlich. Die Generation der zwischen 1978 und 1982 geborenen Deutschen erinnert sich an den Mauerfall und blickt in die Zukunft. „Ich saß beim Fall der Mauer mit meinen Eltern vor dem heimischen Fernseher. Die Bilder aus dem TV zeigten eine Mauer, die niedergerissen wurde und sehr viele Leute, die sich in die Arme fielen. Ich war damals acht Jahre alt. So wirklich verstanden habe ich nicht, was da passiert“, erzählt Nadine Köhler, 27, geboren in Schweinfurt. Das ist die typische Erinnerung der meisten, die zur Zeit des Mauerfalls zwischen sechs und elf Jahre alt waren und im westlichen Teil Deutschlands aufwuchsen. Fernsehprogramme, Sondersendungen und ein vages Gefühl, dass irgendetwas Wichtiges vor sich ging. Was? Keine Ahnung. Wer nahe an der Grenze aufwuchs, erlebte den Mauerfall intensiver. „Als Berliner Junge hat man die geteilte Stadt natürlich mitbekommen. Mit meinen stolzen neun Jahren damals, weiß ich noch wie meine Eltern mich mitgenommen haben und wir zum Grenzübergang Check Point Charlie gefahren sind. Ein ungewohntes Gefühl, unbekannte Leute lagen sich in den Armen und haben gefeiert, viel Polizei und überall die stinkenden Trabis. Jeder Ostdeutsche hat ja damals als Begrüßungsgeschenk 100 Deutsche Mark bekommen. Ich weiß noch, in den Wochen danach konnte man die Ostdeutschen immer daran erkennen, dass sie entweder einen Videorecorder oder Fernseher unter dem Arm hatten und bei der Pizzeria in der riesigen Schlange gerade auf ihre erste Pizza warteten. Ein komisches Gefühl, wenn man merkt, dass solche Sachen nicht für jedermann zugänglich sind“, beschreibt André Preussler, 28, geboren in Westberlin. Auch diese Generation der im Osten Aufgewachsenen hat kaum bewusste Erinnerungen, wenn auch die Wiedervereinigung für sie mehr Neues mit sich brachte. „Die erste Erinnerung, die ich wirklich präsent habe, ist der erste Besuch im Westen. Das wurde dermaßen geplant und zelebriert, dass man als Kind dachte man fährt in ein paradiesisches Land. Da meine Eltern beide berufstätig waren, sind wir also nicht gleich bei nächster Gelegenheit los, sondern erst an einem späteren Samstag. Ziel war das 25 Kilometer entfernte Coburg und der Trabi wurde bepackt als würden wir unterwegs übernachten. Meine Eltern hatten Essen, Kissen und Dekken mitgenommen, da sie gehört hatten, dass man am Grenzübergang durchaus einige Stunden wartend verbringen würde. Das war auch der Grund warum wir morgens um fünf Uhr in Hildburghausen losgefahren sind, man wollte ja noch was vom Tag im Westen haben. Wir kamen am „Grenzübergang“ an, es stand ein Auto vor uns, wir waren sofort dran, wurden durchgewunken und waren nach 45 Minuten in Coburg, morgens 5.45 Uhr. Unterwegs durften sich meine Eltern ihr Begrüßungsgeld abholen. Von dem Geld haben wir uns später am Tag unter anderem mit Schokolade eingedeckt. Die Fahrten in den Westen wurden relativ schnell normal und meine Mutter und ich sind oft zum einkaufen „rüber“ gefahren“, erinnert sich Rebekka Huhn, 26, geboren in Neuhaus am Rennsteig. Sie alle waren noch zu klein um große Hoffnungen und Wünsche in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung zu hegen, politische Gedanken kamen nicht auf. „Ich habe gedacht, dass wir bei Olympia mehr Medaillen holen“, erinnert sich Moritz Schildgen, 29, geboren in München. „Ich habe gedacht, dass nun alle Ostdeutschen in den Westen kommen und habe mir überlegt, wo die denn alle wohnen wollen“, beschreibt Marion Hußlein, 27, geboren in Werneck. Foto: Fabian May Mauerrest - Relikt aus 40 Jahren Teilung. Ihnen allen ist klar, dass der Mauerfall für ihre Eltern eine wesentlich größere Bedeutung hatte, als für sie. „Wir sind einfach zu jung gewesen, als die Mauer gefallen ist, wir haben viele Widrigkeiten nicht mitbekommen“, so André. „Für die jüngere Generation ist die Wiedervereinigung viel leichter zu bewältigen, weil wir damit aufgewachsen sind. Für die Generation unserer Eltern ist das schwieriger, weil sie den gesamten Kalten Krieg miterlebt haben“, glaubt Nadine. “Das prägendere Erleben der Ereignisse bleibt den älteren Generationen, die die Teilung und den Mauerbau hautnah miterlebt haben, vorbehalten. Jüngere Generationen können die Umstände und Entwicklungen nur aus Geschichtsbüchern und TV- Mitschnitten nacherleben beziehungsweise versuchen nachzuempfinden“, stimmt Michael Scharnagl, 30, geboren in Hanau, zu. Für die Kinder des Westens hat sich scheinbar durch den Mauerfall nicht viel verändert. Außer dem Solidaritätszuschlag, den die mittlerweile Berufstätigen zahlen müssen. Wer im Osten aufwuchs, spürte Veränderungen im Alltag, war aber noch jung und unbedarft genug, um die neue Situation schnell als normal zu empfinden. „Für mich sind damals alltägliche Rituale weggefallen. Zum Beispiel der Pioniersgruß oder der morgendliche Appell auf dem Schulhof. Außerdem weiß ich noch, dass ich mit meiner Mutter vor dem Kleiderschrank saß und Freitag, 3. Oktober 2008 meine Uniform und Pionierstuch (auf das ich so stolz war) rausgesucht habe, weil ich es ja jetzt nicht mehr brauchte. Mit der Zeit hat man gemerkt, dass sportliche Ereignisse weniger wurden und der Nachmittagshort nicht mehr Pflicht war. Ich weiß noch, dass auf einmal eine Klassenkameradin spontan mit ihren Eltern weggezogen ist, ohne Vorankündigung. Ansonsten wurde es schnell Normalität, dass die Mauer gefallen war“, erinnert sich Rebekka. Auch wenn sie die Zusammenführung nicht bewusst erlebt haben, spüren sie die Schwierigkeiten, die sie mit sich brachte, deutlich. „Die aktuelle Situation sehe ich als sehr schwierig an. Ein Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und deren Verteilung auf West und Ost genügt da schon“, meint Michael. „Fährt man durch’s „Hinterland“, wo der „Aufschwung“ noch lange nicht angekommen ist, sieht man kleine Ortschaften mit heruntergekommenen Häusern, verwilderten Gärten, ohne Bürgersteige, Schutthalden und Müllbergen. Man spricht mit Menschen, die durch den Mauerfall eher ins Straucheln kamen als dass sie davon profitiert ARGENTINISCHES TAGEBLATT haben, die jetzt arbeitslos sind, weil viele Betriebe, insbesondere die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG), dicht gemacht haben und es deren Berufsbild gar nicht mehr gibt, die zu alt sind, um umgeschult zu werden und die zu DDR-Zeiten durch das System aufgefangen wurden, jetzt aber tief fallen. Damit wird es für den Osten auch immer schwieriger, mit dem Westen gleichzuziehen. Die qualifizierten Arbeitskräfte gehen schließlich weg“, beschreibt Martina Faust, 28, geboren Frankfurt am Main, ihre Erfahrungen. „Aus den versprochenen blühenden Landschaften ist nichts geworden. So wurden wegen der Wiedervereinigung große und durchaus dringend benötigte Infrastrukturmaßnahmen im Südwesten Deutschlands nicht oder nur eingeschränkt durchgeführt. Der Wiederaufbau des Ostens stellt nach wie vor eine große finanzielle Belastung für den Bund und die Länder dar. Ich frage mich natürlich auch, warum von meinem Verdienst der Soli abgezogen wird. Steuerliche Umverteilungen lösen nicht die Ursachen, für die heute nicht allzu rosige Situation im Osten. Nach der Wiedervereinigung wurden schwerwiegende politische und wirtschaftliche Fehler gemacht. Im Osten wurden das Lohnniveau und die Lebenshaltungskosten viel zu schnell an das Westniveau angepasst. Somit ging jeglicher komparativer Kostenvorteil verloren. Unternehmen hatten keinen Nutzen mehr an Investitionen im Osten im Vergleich zum Westen, mit der Folge von Arbeitslosigkeit, schlechter Wirtschaftsentwicklung im Osten und der „Flucht“ junger Menschen an Unis im Westen“, analysiert Alexander Volk, 28, geboren in Tübingen. Eine echte Einheit gibt es ihrer Meinung nach noch lange nicht. „Nach außen hin sicher, aber es gibt bestimmt viele Menschen – egal aus welcher Region – die insgeheim oder auch lautstark der anderen Seite die Schuld für die eigene Lage zuschieben. Außerdem scheint jeder mehr oder weniger unter sich zu bleiben und die Regionen vermischen sich noch nicht allzu sehr“, meint Rebekka. „Nach innen betrachtet ist der Integrationsprozess noch lange nicht abgeschlossen. Die Diskrepanzen sind einfach noch zu tief verankert. Erscheinungsweisen und Ge- 2 gebenheiten sind da sehr vielfältig und nicht selten. Wie etwa das Belächeln der Nummernschilder auf der Autobahn oder der Kassiererin im Supermarkt mit ostdeutschem Dialekt“, so Michael. „Ich denke es wird wohl noch einmal so lange dauern, bis das Ossi/Wessi-Denken verschwinden kann und man nicht mehr in neue und alte Bundesländer aufteilt“, so Nadine. „Und solange man noch von „Wessis“ und „Ossis“ spricht - so liebevoll das auch gemeint sein mag - gibt es in vielen Köpfen immer noch die Mauer“, beschreibt Martina. „Es wird noch ein wenig dauern, bis die Wiedervereinigung auch in den Köpfen der Menschen abgeschlossen ist, aber von Generation zu Generation wird das Ost-/West-Denken immer weniger ein Thema sein“, glaubt Michael. André fügt hinzu: „Noch spielen diese Gedanken bei vielen, vielleicht aber nur bei denjenigen die davon direkt betroffen waren, im Unterbewusstsein eine Rolle. Doch mit der Zeit wird das verschwinden, besonders wenn die Leute nicht mehr leben, die es live miterlebt haben. Dann wird die Wiedervereinigung auch nur ein Teil der Geschichte sein.“ Große Brüder Zwölf Monate lebten und arbeiteten die deutschen Jugendlichen Jan-David und Fabian in Sozialprojekten der Diözese Quilmes Von Barbara Neumann Q uilmes (AT) - “24...67...90...”. “Linea!” Eduardo hat gewonnen! Vier Karamellbonbons für die Reihe und acht für die ganze Karte. Jan-David zählt noch einmal genau nach ob Eduardo auch nicht gemogelt hat. Dann überreicht er ihm den süßen Gewinn. Eduardo strahlt. Noch eine Runde spielt Jan-David mit den älteren Herrschaften “Bingo” an diesem Nachmittag. Dann sind die Bonbons alle und es ist Zeit für eine Siesta nach dem Mittagessen in der Essensausgabe (comedor) der Caritas Quilmes. “Das gehörte immer zu meinen Lieblingsarbeiten dort”, erinnert sich der 21-jährige Deutsche jetzt. Gemeinsam mit Fabian Günther verbrachte Jan-David Echterhoff ein freiwilliges soziales Jahr in der Diözese Quilmes, Provinz Buenos Aires. Zwischen Abitur und Studium wollten Fabian aus Bielefeld und JanDavid aus Verl bei Paderborn neue Erfahrungen machen, einmal für andere da sein, ein fremdes Land kennen lernen. Dass es sich dabei aber keineswegs um zwölf Monate Urlaub handelte, wurde jedem schnell klar, der die beiden in ihrem derzeitigen Zuhause besuchte. Das teilten sie sich mit 16 weiteren Jungen, die ebenfalls im Kinderheim der lokalen Organisation “Madre Teresa de Calcuta” wohnen. Sie kommen aus zerrütteten Familien oder haben ein Leben auf der Straße hinter sich. Ihnen sollten Jan-David und Fabian Begleiter und Vorbild sein. “ Ich fühlte mich aber nicht wie einer der Erzieher”, beschreibt Fabian ihre Rolle.” Wir waren eher so etwas wie große Brüder.” Er habe den besten Zugang zu den Jungs bekommen, wenn er einfach mit ihnen Fußball spielte oder auf dem Markt etwas einkaufen ging. “Gespräche mit einzelnen Kindern, wenn sie einem etwas von sich selbst erzählen”, das seien die schönsten Erfahrungen, findet Jan-David. Im Heim bewohnten die beiden Deutschen jeweils ein winziges Zimmer. Mit Fotos von Freunden, Bildern oder einem bunten Tuch an der Wand machten sie sich aus den kargen Räumen ihr Zuhause. Dennoch fehlten ihnen viele Dinge. “Ich habe so etwas wie ein Vereinsleben ver- Fabian (vorne, rechts) und Jan-David (vorne, links) aus Deutschland waren ein Jahr lang “große Brüder” für die Jungen des Heims “Madre Teresa de Calcuta”in Quilmes. misst”, sagt Fabian. “Ich fand es anstrengend, keinen richtigen Ort zu haben, wohin ich Freunde einladen kann”, fügt Jan-David hinzu. Gefahr auf den Straßen, schlechte hygienische Situation, Spanisch lernen – vieles hatten sich die beiden anders, manches leichter vorgestellt. Trotz der Offenheit der Menschen sei es beispielsweise schwer gewesen, gute Freunde zu finden. Viele Bekanntschaften blieben auf einer oberflächlichen Ebene. Da waren sich Jan-David und Fabian oft gegenseitig die einzigen Ansprechpartner. “Und das obwohl wir uns am Anfang ziemlich auf die Nerven gegangen sind”, gibt Jan-David schmunzelnd zu. Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT Auch Fabian grinst: ”Ja, wir sind sehr verschieden”, erklärt er. Die beiden wirken wie alte Freunde. Außerhalb ihres Lebens im Jungenheim arbeiteten sie in unterschiedlichen lokalen Sozialprojekten mit, die auch überwiegend Teil der Caritas sind. Fabian beispielsweise gab in einer Essensausgabe mit angeschlossenem Gemeinschaftszentrum Computerunterricht für 8- bis 12jährige Jungen und Mädchen. Er arbeitete in einem Kindergarten mit und beteiligte sich an Gruppenstunden in einem “gemischten” Heim von Jungen und Mädchen. Jan-David gab neben seinen regelmäßigen Besuchen in der Suppenküche (comedor) für Senioren, Unterricht für Vorschulkinder in einer Ganztagsbetreuung und arbeitete im JugendFreizeitreff “Copa de leche” mit 8- bis 15-Jährigen. Manchmal fragen sich die beiden Deutschen, warum so wenig junge Argentinier bereit sind, in sozialen Organisationen vor Ort mitzuarbeiten. “Ich glaube, viele Jugendliche, zum Beispiel aus der Hauptstadt wissen gar nicht, wie viele Hilfsprojekte es dort gibt”, erklärt sich Fabian die Tatsache, dass sie als freiwillige Helfer stets unter sich blieben. “Dabei bräuchten die Kinder, mit denen wir gelebt haben, dringend gute Vorbilder”, sagt Jan-David. Im Heim blieben die Jungen auch in Hat auch niemand gemogelt? Jan-David spielt mit den Senioren Bingo. 3 ihrer Freizeit ausschließlich unter sich. Auf Besuche in der nur rund 50 Zugminuten entfernten Hauptstadt, das Erlernen eines Instruments oder einer Sportart hätten die meisten gar keine Lust. Sie stritten sich lieber um die wenigen PCs im Gemeinschaftsraum, an denen sie Computerspiele spielen können, schliefen oder “hingen einfach nur rum”, beschreiben die beiden Deutschen den Alltag im Heim. Die Jugendlichen wirkten “abgestumpft” und “antriebslos”. “Obwohl sie es dort mit Sicherheit deutlich besser haben als in vielen staatlichen Heimen”, wie Fabian betont, fehle es ihrer Ansicht nach vor allem an guten Erziehern, die Vorbilder sein und die jungen Erwachsenen motivieren können, ihr Leben kreativer zu gestalten. Etwas, was Jan-David und Fabian kaum leisten konnten. Denn sich mit argentinischen Männern zu identifizieren fiele den Heimjungen fraglos wesentlich leichter. Zumal die beiden Deutschen auch “nur” zwölf Monate mit ihnen gemeinsam verbrachten, wenig Zeit um nachhaltigen Einfluß auf die Erziehung auszuüben. Gleichzeitig war es viel Zeit um die Lebenswelt der Heimkinder kennenzulernen, die direkten Auswirkungen von Bildungs- und finanzieller Armut zu erleben und schließlich das eigene Weltbild neu zu überdenken. “Ich habe dort so viel, vor allem mehr Toleranz gelernt”, resümiert Fabian. Auf die Erlebnisse in einer kulturell wie gesellschaftlich so fremden Situation waren die beiden freiwilligen Sozialarbeiter gründlich vorbereitet worden. Insgesamt 3 Monate lang, über ein dreiviertel Jahr verteilt, nahmen sie an Seminaren der Steiler Missionare teil. Der katholischen Ordensgemeinschaft aus dem niederländischen Ort Steil gehört der Leiter der Caritas Quilmes an. Er organisierte nun schon zum siebten Mal den einjährigen Aufenthalt für deutsche Jugendliche in der Diözese Quilmes. Ziel dieses “freiwilligen sozialen Jahres”, das viele junge Männer auch als ihren Zivildienst absolvieren, ist neben der Arbeit in den Hilfsprojekten auch die persönliche Weiterbildung der Jugendlichen. Während den Vorbereitungsseminaren in Wien, Freiburg und Steil reflektierten sie daher einzeln oder in Gesprächsrunden mit anderen über ihre Erwartungen an “ihre” zwölf Monate, über die Gründe, dem komfortablen deutschen Leben eine Zeit lang Lebewohl zu sagen aber auch über Ängste und eventuelle Schwierigkeiten. Wenn Jan-David dienstags vormittags den Bus zur Senioren-Suppenküche nahm und dort von seinen “Omis und Opis” strahlend begrüßt wurde, wußte er ganz genau, warum er sich für dieses Jahr in Quilmes entschieden hat und auch, dass es sich für ihn gelohnt hat. Kleine Taten können Großes bewirken „Che Pibe“ – unerschütterlicher Idealismus im Elend von Buenos Aires Von Katharina Guderian B uenos Aires (AT) - Kein Einhei-mischer würMaradona, bleibt ein Einzelfall. „Die Kinder sind de hier jemals freiwillig einen Fuß hinsetunter solchen Umständen am verletzlichsten“, hat zen. Villa Fiorito ist eines der gefährlichsten Arder 42-jährige Argentinier Sergio Val erkannt. menviertel im Großraum Buenos Aires. Der AllMit unerschütterlichem Idealismus betreibt er, tag dort wird bestimmt von Arbeitslosigkeit, Gegemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Schwewalt, Drogen und Hunger. Eine blonde, auslänster Marcela, in Villa Fiorito seit über 20 Jahren dische Frau fällt auf. Das Mobiltelefon in den eine soziale Einrichtung für Kinder, die mehr will BH gesteckt, die Kamera in die Unterhose, bloß als sie mit Lebensmitteln zu versorgen. ‚Che niemandem in die Augen sehen, nur sprechen, Pibe’ will das Leben verändern. wenn es unbedingt sein muss und dann nur ganz Im von bunt bemalten Betonwänden umrahmleise. Möglichst unauffällig. ten Hof vor dem ‚Casa del Niño’ spielen ein paar Der Weg führt über die Hauptstraße Baradero Jungs mit Karten. Sie springen sofort auf und – die einzige geteerte Straße des Viertels. Die rennen auf den Besuch zu, als er durch das MeAutos müssen dort großen herausgerissenen Teertallgittertor tritt. Der 20-jährige Ruben Stegbauklötzen ausweichen, die überall auf der zerklüfer aus Feudenheim bei Mannheim, einer der zwei teten Straßendecke liegen. Die anderen Straßen Deutschen, die seit einem Jahr Sozialdienst bei ähneln ausgespülten Erdrinnen. Auf ihnen ste‚Che Pibe’ machen, wird laut jubelnd begrüßt. hen große Pfützen in denen Abfall schwimmt. Er und die zwei Mädchen, die er mitgebracht hat, Wenn der nahe gelegene Fluss über die Ufer tritt, werden mit Fragen gelöchert. „Sind in Deutschist das ganze Viertel überschwemmt. Nicht einland alle blond? Sind deine Augen echt, oder mal die öffentlichen Busse können dann noch trägst du Kontaktlinsen? Ist eine davon deine fahren. Die Häuser sind zerfallen oder nur halb Freundin?“ fertig und haben meist Gitter an den Fenstern. Im ersten Stock in einem Klassenzimmer mit Früh übt sich, wer später ein Eine Familie mit vier Personen muss im großer Tafel malen ein paar Kinder konzentriert Fußballstar werden will. Durchschnitt mit 600 Pesos pro Monat auskommit Buntstiften in ihre Hefte. Sie haben gerade men. Wer hier aufwächst hat wenig Perspektiven. Die mehrfach ver- von der Betreuerin eine Geschichte über den ehemaligen Präsidenten filmte Erfolgsgeschichte des bekanntesten Sohnes des Viertels, Diego Domingo Sarmiento gehört und lassen jetzt ihrer Kreativität auf dem Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT Papier freien Lauf. Nur wenn Fotos gemacht werden, können sie einfach nicht mehr still sitzen, sondern werfen sich sofort aufgedreht in Pose. Danach schlagen sie sich fast darum, wer die Fotos zuerst anschauen darf. Eine Digitalkamera sehen sie nicht oft. In die ‚Casa del Niño’ gehen Kinder von fünf bis 14 Jahren, entweder vormittags oder nachmittags. Je nachdem, wann sie die Schule besuchen. Denn um zu ‚Che Pibe’ gehen zu dürfen, muss, wer im Schulalter ist, auch in die Schule gehen. Das ist Grundvoraussetzung. In der ‚Casa del Niño’ bekommen sie Nachhilfe, spielerisch wird gelernt und sich bei Freizeitaktivitäten wie Fußball oder Puppenspielen ausgetobt. Ein Angebot für Eltern und Kinder Der „Jardin de Infantes“, ein paar Straßenblöcke weiter, ist die Einrichtung für die ganz Kleinen von 45 Tagen bis fünf Jahren. „Wir bereiten sie hier auf die Schule vor und bringen ihnen Sozialverhalten bei. Das ist schon von klein auf ganz wichtig“, erklärt Fatima Nuñez, die Leiterin des Hauses für die Kleinen. Die Eltern hätten das erkannt und würden das Angebot von ‚Che Pibe’ – das vollständig kostenlos ist – sehr zu schätzen wissen: „Sie bringen ihre Kinder nicht her, um sie loszuwerden, sondern weil sie wissen, dass sie hier etwas lernen.“ Auch die Eltern lernen etwas. „Die Mütter sind oft so jung, dass wir ihnen erst beibringen ihr Kind zu waschen und zu füttern“, erzählt Fatima. Im Gegenzug werde aber auch erwartet, dass sich die Eltern in der Organisation engagieren. Und die meisten machen das. „Sie kommen regelmäßig zu den Treffen und nehmen an unseren verschiedenen Aktionen teil“, erkennt Fatima an. Die verschiedenen Jahrgangsstufen im ‚Jardin de Infantes’ sind – wie das in Argentinien üblich ist – in Farben aufgeteilt. Im Raum hinten rechts im Gebäude sitzen die Fünfjährigen mit den gelben Leibchen im ‚Sala Amarilla’ und schreien laut stampfend ein Lied zum Abschied. Im Flur warten schon ihre jungen Mütter, um sie abzuholen. Im ersten Stock ist die Kinderkrippe. Hier bolzen die kleinen Maradonas mit den Gummibällen, die ihnen an diesem Tag geschenkt wurden, während die Betreuerin einen kleinen Jungen auf einer Matte auf dem Boden wikkelt. Hinter dem Gebäude des „Jardin de Infantes“ liegt der zugehörige Fußballplatz, direkt an ihn grenzt ein Meer aus Wellblechdächern. Filmkurs statt Paco Vor dem Gebäude für die Kleinen steht ein niedriges, schuppenähnliches Haus, in dem sich die Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren treffen. Anstatt auf der Straße rumzuhängen und sich mit Drogen und Schlägereien die Zeit zu vertreiben, nehmen sie im ‚Casa del Joven’ an verschiedenen kreativen und sportlichen Freizeitaktivitäten teil. Besonders beliebt ist der Filmworkshop, für den ein Filmprofi auf freiwilliger Basis jeden Donnerstag in die Villa kommt. Für ihren Kurzfilm ‚Solo’ erhielten sie sogar vom Erziehungsministerium von Buenos Aires 2006 einen Preis. Die gerahmte Auszeichnung hängt zwischen mit Büchern durcheinander voll gestopften Regalen, Autoreifen und alten Möbeln im großen Raum an der Wand. Der 16-jährige, in dem Bezirk geborene, Walter Nogueira meint, er habe großes Glück gehabt. Im Gegensatz zu seinen Altersgenossen ginge es ihm super. Neben der Schule arbeitet er als Breakdance-Lehrer in der nächsten großen Stadt Lanús und hat sogar vor zu studieren. Am liebsten Chemie. Andere Kinder in seinem Alter ziehen nachts durch die Straßen und sammeln Karton, Plastik und Glas aus dem Müll. Für ein Kilo Plastik gibt es an den Recyclinghöfen 1,20 Pesos. Dafür müssen sie etwa 100 kleine Colaflaschen sammeln. Doch auch Walter kennt die Probleme der Menschen aus den Villas gut. „Wer hier lebt, hat nicht viel Selbstvertrauen. Und es ist schwer, überhaupt eine Arbeit zu bekommen, weil einem auch die Arbeitgeber nicht vertrauen“, erzählt er. Drogen sind ein Problem, denn sie sind sehr leicht zu bekommen. Wer ganz verzweifelt ist, raucht Paco, ein chemischer Stoff der bei der Kokainproduktion abfällt. Es ist billig – eine Menge für etwa 30 Pesos reicht zwei Wochen. Doch Paco hinterlässt geistige Schäden. Die Mädchen werden früh schwanger. Da Abtreibung illegal ist, schlucken sie ein paar Tabletten gegen sauren Magen, dann ist das Problem gelöst. „Eigentlich sind diese Tabletten verschreibungspflichtig, doch irgendwie kommen sie immer dran, wenn sie wollen“, weiß Walter. Oder sie bekommen die Kinder, obwohl sie selbst noch Kinder sind. Drei der fünf Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, die an diesem Tag im ‚Casa del Joven’ sind, haben schon einen Sohn oder eine Tochter, eine von ihnen ist schwanger. Rückhalt in den Familien ist selten. „Das ist eine Ignoranz, die aus Armut entsteht“, beschreibt Walter. Jeder kümmert sich um sich selbst. Niemand denkt an die Zukunft, sondern nur an den Moment. „’Che Pipe’ gibt uns sozialen Rückhalt, es hilft uns bei den psychischen Problemen, ist eine Anlaufstelle bei Ärger mit der Familie. Und es hilft uns unsere Rechte kennen zu lernen – Rechte gegen soziale Diskriminierung und ganz grundlegende Menschenrechte.“ 4 Ruben mit seinen “kleinen Brüdern” im “Jardín de Infantes. Beim Essen fängt es an An diesem Tag kochen die Jugendlichen gemeinsam. Das Essen ist überhaupt ein wichtiger Bestandteil von ‚Che Pibe’, alle Häuser haben eine Küche, und jedes Kind bekommt hier täglich eine Mahlzeit. „Ohne ‚Che Pibe’ würden die meisten Kindern nur einmal am Tag etwas zu essen bekommen. Oft muss auch ein Glas Milch eine Mahlzeit ersetzen“, erzählt Ruben. Den Eltern hilft das enorm, denn sie können es sich meist schlicht nicht leisten, ihre Kinder ausreichend zu ernähren. Sergio selbst macht die Einkäufe im Großmarkt. Mit seinem grauen Pickup fährt er auf der staubigen Straße vor und schleppt palettenweise Eier, Obst, Brot und Gemüse ins Haus. Die Organisation finanziert sich hauptsächlich durch Sachspenden und einem Zuschuss von der Regierung. Doch der reicht natürlich hinten und vorne nicht aus. Das Geld wäre genug für 260 Kinder, insgesamt zählt ‚Che Pipe’ derzeit aber etwa 350. „Wir müssen dann eben unsere Ressourcen optimieren. Billiger einkaufen, Spenden annehmen, die Mitarbeiter müssen bei ihrem Gehalt zurückstecken“, erklärt Sergio pragmatisch. Trotzdem – neben dem Erziehungsangebot ist die Nahrungsversorgung gleich wichtig. Da werden keine Abstriche gemacht. Denn Sergio plant weiter: „Man braucht etwas im Magen, um denken zu können.“ Politische Bewegung Nur auf den ersten Blick ist ‚Che Pibe’ ein normaler Kindergarten, Kinderbetreuung und Jugendtreff mit Essensausgabe. Die Organisation will viel mehr als Sozialhilfe leisten, sie will politisch etwas bewegen. Überall an den Wänden hängen Plakate der Organisation ‚Movimiento Nacional de Chicos del Pueblo’, mit der sich ‚Che Pibe’ gemeinsam für die Kampagne ‚El hambre es un crimen’ stark macht. Es werden Märsche und Demonstrationen organisiert, die auch schon mal vor das Provinzrathaus in Lomas de Zamora führen, um für eine Asphaltierung der Straßen und die Schaffung einer Kanalisation zu demonstrieren. „Daraufhin hat die Regierung sogar versprochen etwas zu unternehmen, aber in Argentinien dauert immer alles ein bisschen länger“, erinnert sich Ruben. Schon die Siebenjährigen kommen auf die Märsche mit, oft wird gemeinsam mit dem großen Bus, den Maradona der Organisation gespendet hat, zu den Demonstrationen gefahren. Politik ist die zweite große Säule, auf der ‚Che Pipe’ aufgebaut ist. Sergio handelt im Kleinen und denkt im Großen. Jedes Kind, das von ihm eine Banane bekommt, und jedes Kind, das bei ‚Che Pibe’ ein Buch aufschlägt, sieht er im großen politischen Rahmen. Es ist kaum möglich, sich mit ihm nur über den Aufbau der Stiftung zu unterhalten. Er driftet sofort in weltpolitische Dimensionen ab. Auf die Frage, was die Stiftung für die Kinder tut, antwortet er: „Am wichtigsten ist, dass sie den Hunger im Land bekämpft, die Produktivität Argentiniens wieder belebt – und ein Gesundheitssystem muss eingeführt werden.“ Die Privatisierung der Unternehmen und die Kommerzialisierung hätten den ARGENTINISCHES TAGEBLATT Freitag, 3. Oktober 2008 5 Ein Schokoriegel für alle Großes Herz und groß Ziele: der Gründer Sergio. produktiven Apparat des Landes zerstört. „Eigentlich produziert Argentinien vier Mal so viel Nahrungsmittel, wie seine Bevölkerung braucht. Doch sie werden aus Profitgier exportiert, oder für Treibstoffe verwendet. Und das wenige, das übrig bleibt, verwalten wenige große Unternehmen aus fremden Ländern, die auch nur an Profit interessiert sind“, erläutert er weiter. Sergio hätte sogar die umstrittenen, von der Regierung angestrebten Exportzölle gut geheißen. Denn so wären die Produzenten gezwungen gewesen, wieder mehr im Land zu verteilen. Zehn Kinder sterben täglich alleine im Großraum Buenos Aires an Unterernährung. Dabei könnte es laut Sergio so einfach sein, dem ein Ende zu bereiten: „Die Regierung hat derzeit 50 Milliarden Pesos Reserven, die sie nur ansammelt, um noch mehr Reserven zu haben. Dabei müssten sie nur vier Milliarden Pesos pro Jahr investieren, und niemand müsste mehr hungern.“ Er glaubt fest daran, etwas verändern zu können. Während Sergio als junger Jurastudent in einem Gefängnis arbeitete, lernte er viele, zum großen Teil noch sehr junge Männer aus Fiorito kennen. Diese erzählten ihm ihre Geschichten und Sergio beschloss die Situation in dem Viertel mit der Gründung von ‚Che Pibe’ zu ändern. Seinen Idealismus hat er sich über Jahrzehnte hinweg bewahrt. Auch wenn er weiß, gegen welche festgefahrenen Machtgefüge er dabei ankämpft. „Kann ich wirklich sagen, was ich denke?“ fragt er zaghaft, nachdem das Tonbandgerät ausgeschaltet ist. „Der Kapitalismus ist der größte Feind der Kinder. Dieses System zerstört die Erde und hat längst bewiesen, dass es sich gegen die Menschheit richtet“, fügt er rasch hinzu. Es ist ihm wichtig, den Kindern, der nächsten Generation an Entscheidern, seinen Idealismus und seinen Tatendrang mitzugeben. ‚Che Pibe’ heißt so viel wie ‚Hey Junge’ – eine Aufforderung wie: Hey, los, du kannst etwas unternehmen. Zu diesem Zweck lernen dort die Kinder ihre Rechte, erkennen überhaupt erst in welcher Situation sie sich befinden und was ihnen eigentlich zusteht. Und sie lernen, dass sie gemeinsam etwas bewirken können, anstatt alleine zu resignieren. Auch Ruben hat in dem vergangenen Jahr viel gelernt. „Es hat meine Zukunft beeinflusst. Ich werde zum Beispiel nun nicht mehr das studieren, mit dem ich später wohl am meisten Geld verdienen kann, sondern das, worauf ich Lust habe“, stellt er fest. Er gehört bereits zur vierten Generation an deutschen Freiwilligen, die immer zu zweit für ein Jahr lang bei ‚Che Pibe’ mithelfen. Die mit den Kindern Fußball spielen, ihnen Englischunterricht geben, mit ihnen auf Demonstrationen und zum Camping fahren und wie große Brüder für sie sind. (Mädchen haben sich zu dem Projekt bisher nicht getraut.) „Ich habe auch gelernt zu teilen“, erzählt Ruben weiter. Denn die Gemeinschaft ist bei ‚Che Pibe’ grundlegend. Alle sind gleichwertig, alle sollen das Gleiche bekommen. „Am Anfang war es für mich schon komisch, dass ich mir bei Ausflügen nicht mal einen Schokoriegel kaufen konnte. Denn den hätte ich dann mit allen teilen müssen, oder für alle einen kaufen“, erinnert sich Ruben. Die Kinder eignen sich den Gleichheitsgedanken, das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Tatendrang an und tragen sie weiter in ihr Leben außerhalb von ‚Che Pibe’. Die Arbeit der Organisation trägt Früchte. Zum Beispiel hat die Gemeinde bereits angefragt, ob ‚Che Pibe’ einen Plan von der Umwelt- und Sicherheitslage des Viertels erstellen könne. „Das ist perfekt für uns, denn die Kinder kennen jede einzelne Straßenlaterne im Viertel, die nicht funktioniert“, sagt Ruben anerkennend. Licht bedeutet Sicherheit auf den grauen Straßen von Villa Fiorito. Und wenn der Gemeinderegierung einmal ganz genau vor die Nase gehalten wird, mit welchen einfachen Maßnahmen sie das Leben der gesamten Viertels verbessern könnte, hat sie kaum eine Ausrede mehr, es nicht zu tun. Für viele ist die “Casa del Joven” ein Familienersatz, so Walter. Sonne, Krone und Sissis langer Schatten Das Otto-Wulff-Gebäude aus der Kaiserzeit Von Federico B. Kirbus N icolás Mihanovich (1846 1929) war im kleinen Dorf Doli nahe Ragusa (das heutige Dubrovnik) in Dalmatien geboren, die Heimat auch von Franz von Suppè, seinerzeit zu ÖsterreichUngarn gehörend. Mihanovich hatte es als Reeder zu ungeheuren Reichtum gebracht, sein Unternehmen beschäftigte zeitweise 5000 Mitarbeiter und betrieb Dutzende von Fluss- und Seeschiffen. Wegen seines Ansehens war er 1899 zum k.u.k. Ehrenkonsul in Argentinien ernannt worden, eine Auszeichnung, der er durch etwas Aussergewöhnliches gerecht werden wollte: nämlich durch den Bau eines monumentalen Repräsentativgebäudes, das durch eben seine Erhabenheit die Bedeutung des Kaiser- und Königreiches unterstreichen sollte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts pulsierte die Stadt mit ihren Kontoren, Lagerbarracken, Fabriken und dem Hafen noch weitgehend südlich der Plaza de Mayo: in den Stadtvierteln Monserrat, San Telmo, Barracas und La Boca del Riachuelo. Hochhäuser in unserem Sinne gab es seinerzeit noch keine. Die Kirchtürme waren die am weitesten sichtbaren Wahrzeichen. Lediglich an der Paseo Colón Ecke Alsina erhob sich das später von Aerolíneas Argentinas benutzte Edificio de los Ferrocarriles Británicos, das Railway Building: 1910 konzipiert, 1914 in Betrieb genommen, 16 Stock, weit und breit das höchste Gebäude der Altstadt. Und am entgegengesetzten Ende (Norden) der Stadt das 1909 von Tornquist fertiggestellte Plaza Hotel, ein Doppelblock, allerdings nur neun Stockwerke hoch. Doch Konsul Mihanovich wollte höher hinaus. An der Belgrano (damals noch Strasse, erst ab 1948 Avenida) Ecke Perú fand man ein geeignetes Baulos für das Vorhaben, 20 mal 30 spanische Varas. Freitag, 3. Oktober 2008 Mitbesitzer der Parzelle und eigentlicher Auftraggeber war Otto Wulff, ein durch Holzschlagbetriebe (Obrajes) im Chaco und dann im benachbarten Uruguay zu Wohlstand gelangter deutscher Einwanderer und mit Mihanovich sowohl befreundet als auch geschäftlich verbunden. Die „Barraca Otto Wulff“ war in Colonia del Sacramento bedeutsam, und dort hatte der Mann auch ein grosses Stück Land, wo es heute noch den Parque Otto Wulff gibt. Während Mihanovich also die Gallionsfigur des Vorhabens blieb, war Otto Wulff der eigentliche Bauherr dessen, was in Architekturzirkeln bei uns noch heute als „Torre Otto Wulff“ bekannt ist. Gute bzw. bekannte Architekten waren allerdings zu dem Zeitpunkt rar, weil allerorten gefragt und beschäftigt, also die Palanti, Tamburini, Le Monnier, Christophersen, Altgelt oder Torres Armengol. Der Bauherr griff daher kurzentschlossen auf einen Quereinsteiger zurück, nämlich auf den dänischen Architekten Morten F. Rönnow, der in Buenos Aires ansonsten nur für die Dänische Kirche (Carlos Calvo 257) verantwortlich zeichnet. Den Bau übernahm die Firma Dirks und Dates. Im Jahr 1912 ARGENTINISCHES TAGEBLATT stand der Entwurf, nur zwei Jahre später war die Konstruktion fertig. Ein in seiner Art einmaliges Gebäude, heute zwar geschwärzt vom Rauch und Ruß der Zeit, aber absolut eklektisch, Destillat von Jugendstil, Art Nouveau, Modern Style oder was immer man um die vorige Jahrhundertwende darunter verstand. Mit knapp 60 Metern sollte das Otto-Wulff-Gebäude der für viele Jahre noch höchste Bauklotz von Buenos Aires bleiben. Rönnow baute in das von (sehr selten!) zwei Kuppeln getoppte Eckhaus alles hinein, was man seinerzeit an Dekoration schick fand. Die Hauptfassade etwa wird von acht Atlanten getragen, nicht von Steinmetzen ziseliert, wie damals üblich, sondern aus einer Zementmischung modelliert. Jede Figur stellt den Vertreter eines Berufsstandes dar, der mit der Verwirklichung des Gebäudes zu tun hatte: Schmid, Zimmermann, Maurer, Bildhauer usw., an der Eckfassade der Architekt und der Baumeister höchstpersönlich. Andere Gesimsskulpturen stellen hingegen autochthone Tierfiguren dar: zwei flugbereite Kondore (jede ihrer Schwingen etwa fünf Meter hoch!), Pinguine, Eulen, Waschbären, aber auch Ein- Gesamtansicht des Otto-Wulff-Gebäudes, Belgrano Ecke Perú. 6 Doppelkuppelaufbau des Gebäudes. geborenenkaziken und Indianer. Dazu 28 individuelle Balkons und ein Rundumgang mit Balustrade – eine ungeheure Ornamentalik. Wer von unten alles näher betrachten möchte, sollte wohl schon einen Feldstecher dabei haben. Die Krönung des Bauwerks, übrigens eines der ersten bei uns aus Eisenbeton, sind die beiden Kuppeln, die an sich die Depots für das fliessende Wasser beinhalten. Die eine Kuppel trägt die Sonne und ist dem „guten“ Habsburger Kaiser Franz Josef I. gewidmet. Auf der zweiten ruht eine Krone und ein Mond (noch bis vor kurzem vorhanden), die Kaiserin Elisabeth Amalie Eugenie, Prinzessin in Bayern, genannt Sissi, zugeeignet ist. Nur vier Jahre lang, von seiner Eröffnung 1914 bis 1918, jenes Jahr, das das Ende der Donaumonarchie bedeutete, funktionierte hier die diplomatische Vertretung des Kaiserreichs. Doch auch das Gelände, auf dem sich der gigantische Bau erhob, war schon reich an Geschichte. Hier befand sich nämlich die Residenz des vorletzten Vizekönigs am Río de la Plata (18011804), Joaquín del Pino Sánchez de Rojas Romero y Negrete. Dieses Haus versuchten die Briten bei ihrer Invasion 1807 in Bue-nos Aires, allerdings vergeblich, zu stürmen und zu besetzen, obwohl sie bis auf die Terrasse (Azotea) vorgedrungen waren. Nach Del Pinos Tod lebte hier seine Witwe, weshalb das Anwesen im Volksmund die Bezeichnung Casa de la Vieja Virreina erhielt. Rönnow machte von der Casa de la Virreina, bevor es abgerissen wurde, eine minutiöse Bestandsaufnahme nebst Detailplänen, die er der Architekturakademie zukommen liess. Ein knappes Jahrhundert nach seinem Entstehen ist das Gebäude Otto Wulff noch immer ein imposanter Anblick, weiterhin bewohnt, wiewohl eine Renovierung erheischend. Sechseckige Laternen krönen die Kuppeln. Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT 7 Das Heimatlied Vom deutschen Radio in Argentinien Von Diana Hörger B uenos Aires (AT) - “Hallo, guten Morgen Deutschland!” Wie jeden Sonntag um Punkt 10, ist Tom Astors Hit in Claypole, im Studio des kleinen Radiosenders im südlichen Vorort von Buenos Aires, zwischen den holzverkleideten Wänden und der Blumen-Stofftapete zu hören. Noch bis ins Zentrum der Millionenstadt kann man den Sunnyboy mit dem Stetson-Hut und dem Karohemd auf Radio Popular empfangen. Der Moderator der wöchentlichen deutschen Sendung “Treffpunkt Deutschland”, Hans Dieter Mussing, trägt sein Karohemd, anders als der Country-Sänger aus dem Sauerland, ordentlich gebügelt. Während der letzten Takte des Liedes bereitet er sich ein letztes Mal auf die Sendung vor. Sorgfältig nimmt er die Moderationstexte aus dem schwarzen Aktenkoffer. Alle Blätter sind sortiert und mit Heftklammern in verschiedenen Farben gekennzeichnet. Ein Exemplar bekommt der Techniker, der “Radiooperador” Gustav Bauer, eines der “Co-Moderator” und Übersetzer Ricardo Kaiser. “Es gibt zwei Möglichkeiten eine Sendung zu gestalten”, erklärt Mussing, “man kann reden wie einem der Schnabel gewachsen ist, oder zweitens, man ist vorbereitet.” Mussing bevorzugt eindeutig letztere Methode. Er ist davon überzeugt, dass eine korrekte deutsche Sprache zur Qualität der Sendung beiträgt. “Immerhin”, so gibt der 71-Jährige zu Bedenken, “hören uns auch einige Universitätsprofessoren.” “Treffpunkt Deutschland” ist nicht die einzige deutsche Radiosendung in Argentinien. Rund zehn Programme auf unterschiedlichen Frequenzen gibt es allein im Großraum Buenos Aires. Die deutschsprachigen Sendungen wie “Unsere Leute” oder “Fiesta Alemana” sind allesamt “Fensterprogramme”, meist zweistündige Enklaven, auf spanischsprachigen Sendern. Viele von diesen Radioanstalten sind offiziell gar nicht genehmigt. Mussing schmunzelt: “Aber es ist hier wie mit Vielem in Argentinien: Es gibt Dinge, die existieren gar nicht und es gibt sie trotzdem!” Aquí Alemania Hier Deutschland Gisela Ranks Kommunalsender 88 FM ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Auf dem Flur des Senders hängt, neben weiteren Urkunden, die offizielle Genehmigung in einem schmalen schwarzen Rahmen. Im Jahr 1988 beantragte ihr Mann erfolgreich die Lizenz und verhalf der winzigen Station in Vicente López im Norden von Groß-Buenos Aires so zu ihrem Namen und zu ihrer Frequenz. Auch der Stil ihres zweistündigen deutschen Programms “Aquí Alemania-Hier Deutschland” setzt sich vom Konzept, wie es in “Treffpunkt Deutschland” verfolgt wird, ab. Von Mussings Moderationsphilosophie aus betrachtet, hat Rank sich eindeutig für die erste der beiden möglichen Varianten entschieden. Jedes Mal, kurz bevor die rote “Aire“-Lampe im etwa fünf Quadratmeter großen Studio aufleuchtet, singt Jürgen von der Lippe noch die ersten beiden Sätze seiner Morgenmuffel-Hymne: “Guten Morgen liebe Sorgen” und gibt dann das Wort ab an Gisela Rank. “Eine Minute fehlt bis zehn Uhr morgens. Falta un minuto para las diez de la mañana.” Ganz locker liest sie dann das Wetter aus der Zeitung vor: “Ich glaube es gibt noch mehr als 18 Grad heute. Es ist eigentlich viel zu warm für diese Jahreszeit.” Die 58-Jährige moderiert die Sendung alleine. Einzig Verónica Zeller sitzt am Schaltpult hinter der Glasscheibe, die sie vom winzigen mit Teppichboden isolierten Studio trennt. Auf Giselas Ansage hin spielt Verónica jetzt das “Schlümpfelied” von Vater Abraham. Musik ist für die Moderatorin der Dreh- und Angelpunkt ihrer Sendung, die jeden Sonntag zwischen 9.30 und 11 Uhr ausgestrahlt wird. Während die blauen Winzlinge und ihr rauschebärtiger Begleiter im Hintergrund von ihrem Herkunftsort singen, erzählt die gebürtige Argentinierin von den Anfängen ihrer Sendung. “Wir hatten also die Musik, die unsere Großeltern mitgebracht hatten, aber wussten nichts von neuen Sängern, neuen Gruppen. Von moderner Musik kam hier nichts an.” Ihre Verwandtschaft in Deutschland war dann die Lösung. “Und dann hat der liebe On- Dieter Mussing mit seinem Team im Studio. kel Wolfgang Musik direkt aus dem Sender aufgenommen und mir dann auf Kassette mit der Post geschickt”, lacht die fröhliche Blondine. ”So habe ich dann angefangen.” Erst seit es das Internet gibt, ist vieles einfacher geworden, sagt sie. Seit vier Jahren findet man “Aquí Alemania” auch im Netz. Treffpunkt Deutschland Hans Dieter Mussing ist mit der neuen Technik ebenfalls bestens vertraut. Während der Sendung, ist der gelernte Maschinenbauer mehrmals damit beschäftigt, die synchrone Aufzeichnung der Sendung zu kontrollieren. Das Kabel zu seinem Laptop hat anscheinend einen Wackelkontakt. Bei einem Klick auf das kleine blaue Quadrat auf der Internetseite von “Treffpunkt Deutschland”, sieht man, wie viele Menschen weltweit den Onlinetauftritt der Sendung besucht haben. Bald werden es 34.000 sein. Die meisten, fast 70%, kommen aus Argentinien. Danach folgen Deutschland und die USA. “Im Schnitt haben wir 20 Einschaltungen pro Tag” sagt Mussing. “An einem Sonntag können es schon mal 60 sein.” Seine Sendung, die seit 1996 vierstündig ist, wird im Gegensatz zu Ranks Programm über Mittelwelle gesendet und hat daher eine größere Reichweite. 1994 kam der gebürtige Kieler erstmals mit dem Radio in Argentinien in Berührung. Damals wurde er Teil der “Deutschen Stun- de” in Quilmes, die von der Österreicherin Mizi Hammer bis zu ihrem Tod geleitet wurde. Auch wenn deutschsprachiges Radio in Argentinien Tradition hat, einfacher macht es die Sache dadurch nicht. Zwar kann “Treffpunkt Deutschland” sich mit der Schirmherrschaft der deutschen Botschaft schmücken, und einige Hörer spenden ab und an, der Großteil der anfallenden Arbeit wird allerdings ehrenamtlich erledigt. So etwas wie Krankheitsvertretungen gibt es nicht. Deshalb wohl hat sich Mussing auch an diesem Sonntag trotz Erkältung ins Studio bemüht. Professionell hustet er bis zum Ende der Ausstrahlung immer nur während der Musikstücke zwischen den Moderationen. Er ärgert sich über Menschen, die diese Art von Einsatz nicht zu schätzen wissen. Viel Anlass geben ihm seine Hörer jedoch nicht dazu. Kaum hat das Programm begonnen, klingelt im Sender auch schon das Telefon. Teresa Frei nimmt heute die Anrufe entgegen und notiert sie alle in einem kleinen Buch. Mausi Käfer bedankt sich für die schöne Musik und lässt auch schön grüssen. Viele der Zuhörer sind aktiv am Vereinsleben der deutschsprachigen Gemeinschaft in Buenos Aires beteiligt. An sie ist das Programm von “Treffpunkt Deutschland” auch hauptsächlich gerichtet. Die Themen kreisen daher um die Besprechung von Vereinsfesten, Geburtstagsgratulationen und um die deutsche Geschichte. In der heutigen Sendung wird das Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT Jede Sendung hat ihren eigenen Charakter – Dieter Mussing... Bundesland Sachsen musikalisch beleuchtet. “Auf sechs Achsen” geht es da mit Truck Stop quer durch Sachsen bis hinauf zu den sächsischen Bäumen auf denen, laut den Jacob Sisters, angeblich die schönen Mädchen wachsen. Am Schluss steht dann natürlich noch der alte Holzmichel vor der Tür. „Wolle mer ihn reinlasse?“ Eine Live-Aufnahme der Randfichten. Die Stimmung steigt auch im Studio merklich. Trotz der thematischen Gestaltung gibt es aber Lieder, die in jeder Sendung gespielt werden. “Alte Kameraden etwa, der Schneewalzer oder Patrona Bavaria sind beim Publikum so beliebt, dass wir sie immer spielen müssen”, bekundigt Mussing glaubhaft. Ricardo Bauer allerdings freut sich am meisten, wenn der Moderator einen Marsch ansagt. Dann steht der Argentinier mit den deutschen Vorfahren heftig dirigierend hinter seinem Schaltpult. Die Jugend schläft noch Gisela Ranks Musikauswahl will sich von der, anderer deutschsprachiger Sendungen absetzen. “Ich mische immer neue und alte Lieder ins Programm” sagt Rank, die seit 8 Jahren die Besitzerin des Senders 88 FM ist. Wenn man sie nach den aktuellen Bands in Deutschland fragt, weiß sie gut Bescheid: “Moderne Musik, ja, Freundeskreis, Silbermond” gibt sie an. “Aber von solcher Musik suche ich sehr sorgfältig aus. Die ganz verrückten spiele ich nicht. Es ist ja Sonntagmorgen und die Jugend schläft noch und die älteren Leute werden dann böse und rufen an.” Auf dem quadratischen Tisch mitten im Studio liegen deshalb CDs von Udo Lindenberg und Karel Gott. Ziel ihrer Sendung sei es, die deutsche Kultur und Sprache in Argentinien bekannt zu machen. Jede Ausstrahlung beginnt daher mit einem Deutschkurs namens: “DeutschWarum nicht?”. Heute ist Kapitel 14 an der Reihe: “Das soll sehr interessant sein”. Eine Kinderstimme erzählt von Mackie Messer und der Dreigroschenoper. Seit 2007 arbeitet Rank auch mit dem Goethe-Institut in Buenos Aires zusammen. Der Leiter der Sprachabteilung, Josef Bornhorst, gestaltet seither Beiträge für die 8 ... und Gisela Rank. Sendung, die Moderatorin anschließen ins Spanische übersetzt. “Wenn Goethe sprechen könnte” heißt die Rubrik. Wenn Goethe heute noch sprechen könnte, dann würde er sich vermutlich darüber wunder, dass seine Kultur und Muttersprache auf einem anderen Kontinent noch so gepflegt wird. “Deutschtum” nennt Mussing diese Einheit, deren Erhalt er mit seiner Sendung bewirken möchte. Andere, die behaupten “deutsche” Radioprogramme zu sein aber die deutsche Sprache nicht korrekt beherrschen, findet er “lächerlich”. Wenn beispielsweise Weihnachtslieder an Ostern gespielt werden oder Marlene Dietrichs “Sag mir wo die Blumen sind” für ein Frühlingslied gehalten wird. Mussing kann da nur den Kopf schütteln. Auch Gisela Ranks Meinung von der deutschen Radiolandschaft in Argentinien ist nicht nur eitel Sonnenschein: “Jede deutsche Sendung hat ihren eigenen Charakter. Oft bleiben die Betreiber aber in ihrer Zeit. Es wird alte Musik gespielt und man leitet alte Brauchtümer weiter, aber sie gehen nicht mit der Zeit. Das ist aber etwas, das man tun muss, damit man sich weiterentwickeln kann.” Heimat ist immer ein Ideal Entwicklung versus Konservierung. Während Rank ihre Sendung als “Brücke” zwischen Deutschland und Argentinien sieht, setzt Mussing darauf, dass die deutsche Gemeinschaft in Buenos Aires nicht ausstirbt: “Hoffentlich geht es bei uns weiter!” sagt er. Der Moderator wünscht sich auch, das ramponierte Image der Deutschen nach dem Krieg, durch “Treffpunkt Deutschland” wieder etwas “aufpolieren” zu können. Auch wenn ihm bewusst ist, dass die Bilder, die die Sendung erzeugt, durchaus “idealisierend und veraltet” sind. “Manche Deutschstämmigen haben Ansichten von Deutschland, die zu Kaiser Wilhelms Zeiten stehen geblieben sind”, sagt Mussing nachsichtig. Er selbst kennt Deutschland ja persönlich. Er besucht seine Schwester dort in regelmäßigen Abständen seit er 1963 mit dem Schiff nach Buenos Aires kam. Auf der Überfahrt lernte er auch seinen ersten spanischen Satz: “Para mi no- ARGENTINISCHES TAGEBLATT Freitag, 3. Oktober 2008 via.” Eigentlich sollte er nur so lange bleiben bis er die Sprache richtig beherrscht. Heute ist er immer noch da. “Mein ganzes Studium hat der deutsche Staat bezahlt”, sagt Mussing. Die deutsche Radiosendung ist sein Weg, sich dafür zu bedanken. Der Dank an eine Heimat, die offensichtlich ihre Charakterzüge im selben Maße zum Positiven verändert, indem man sich von ihr entfernt. Von Argentinien aus wirkt die Bundesrepublik scheinbar immer friedlich, schön und liebenswert. “Er ist ohne weiteres übertrieben”, sagt Mussing zum PostkartenBlick auf Deutschland, “aber es ist schon gut, wenn man im Ausland die Heimat idealisiert.” Die Heimat an sich ist immer ein Ideal, sonst wäre sie wohl nicht die Heimat. Manche unschönen Aspekte werden von der Wahrnehmung wohlweislich ausgesperrt. Genauso wie der Holzmichel besser draußen vor der Tür bleibt. Am Ende ist er gar nicht so nett, wenn man ihn erstmal am Kaffeetisch sitzen hat. So bleibt das deutschsprachige Radio in Argentinien meist unter sich, in Argentinien eben. Gisela Rank und Hans Dieter Mussing werden auch weiterhin dafür sorgen, dass die deutsche Sprache hier in Buenos Aires nicht vergessen wird. Und so lange es Zuhörer gibt, wird Tom Astor je- 9 den Sonntagmorgen aufs Neue beteuern: “Hallo, guten Morgen Deutschland... Ich lebe hier, weil ich dich mag!” Treffpunkt Deutschland, Mittelwelle 660. Internet: www.cibersoft.com.ar/radio/ Aquí Alemania - Hier Deutschland, FM 88,7, Nordzone, www.fm887.com.ar Des Nazis Garten Eden Über alternative Theorien zu Hitlers Selbstmord Von Nils Ole Reuter B uenos Aires – Immer wieder ranken sich alternative, teils wilde Theorien um den Tod Adolf Hitlers oder eher gesagt, sein Leben nach dem Krieg. Viele Leute, vor allem unter seinen Anhängern, konnten oder wollten seinen Freitod im Führerbunker, begangen am 30. April 1945, nicht akzeptieren. Der “Führer” konnte sie doch nicht so einfach im Stich gelassen haben. Hatte er ihnen doch den Endsieg inklusive Weltherrschaft versprochen. Stattdessen vermuteten manche, dass er aus dem von der Roten Armee belagerten Berlin geflohen wäre und sich in irgendeinem entlegenen Winkel dieses Planeten versteckt gehalten hätte. Damit er zum rechten Zeitpunkt wie Phönix aus der Asche auferstehen und seine Aufgabe vollenden könnte. Ob nun Australien, die Antarktis oder Grönland - jeder noch so ausgefallene Ort wurde ins Spiel gebracht. Andere vermuteten, er habe sich nach Chile oder Paraguay abgesetzt. Und es gibt Autoren, die behaupten, Hitler hätte Argentinien als Refugium gewählt; genauer gesagt, Patagonien. Abel Basti und Patrick Burnside sind zwei davon. Jedoch ist die Beweislage sehr überschaubar und wenig überzeugend. In ihren Werken stützen sie sich hauptsächlich auf Zeugenaussagen sowie vom FBI herausgegebene Dokumente, deren historischer Wert eher begrenzt ist. Doch zunächst und vor allem begründen die Autoren ihre Thesen mit diversen Unklarheiten und Widersprüchen bezüglich des Selbstmordes von Adolf Hitler. Zweifel am Selbstmord Hitlers Patrick Burnside stellt eingangs seines Buches El Escape de Hitler die rhetorische Frage, wer denn hundertprozentig beweisen könne, dass Adolf Hitler sich im Führerbunker selbst gerichtet habe. Antwort: natürlich niemand. Gegen die allgemeingültige Ansicht führt er unter anderen als Argument an, dass die Zeugenaussagen sich gegenseitig widersprächen und im Laufe der Jahre teilweise abgeändert worden wären. Außerdem wären die Leichen von Hitler und Eva Braun niemals einwandfrei identifiziert worden. In der Tat gab es in den ersten Tagen nach dem Tod einige Verwirrung darum, welcher Körper nun derjenige Im Hotel Eden der Familie Eichhorn soll Hitler auch gesehen worden sein. Hitlers und der seiner Gattin war. Russische Quellen vom 10. Mai 1945 beziehen sich auf vier nicht eindeutig identifizierbare Leichen, die allesamt Hitler zugeordnet werden konnten. Überdies nähren sowjetische Berichte über eine mögliche Flucht Hitlers so manch weiteren Zweifel. Ende Mai 1945 äußerte der russische Diktator Josef Stalin dem USRepräsentanten Harry Hopkins gegenüber seine Ansicht, Hitler sei geflohen und verstecke sich irgendwo im Ausland. Später fügte er hinzu, dass der “Führer” sich möglicherweise in Spanien oder Argentinien aufhalte. Etwa zur selben Zeit, sprach der russische Berlin-Bezwinger Marschall Georgi Schukow davon, dass Hitler im Flugzeug entkommen wäre. In einem offiziellen russischen Dokument vom 5. Mai 1945 werden zwar die halb verbrannten Leichen von einem Mann und einer Frau erwähnt, der Name Hitlers in diesem Zusammenhang allerdings nicht. Doch die allgemeine Verwirrung zu Kriegsende legte sich alsbald und Hitlers Leiche wurde eindeutig anhand des Gebisses identifiziert und zusammen mit dem Körper seiner Frau, deren Identität inzwischen ebenfalls festgestellt worden war, sowie den sterblichen Überresten zehn weiterer Bunkerinsassen durch den KGB nach Magdeburg geschafft. Dort wurden sie an geheimem Ort auf einem Kasernengelände vergraben. Als im Jahre 1970 dort Bauarbeiten anstanden, ließ der damalige KGB-Chef Juri Andropow die Verstorbenen exhumieren, verbrennen und die Asche in die Elbe streuen. Vielleicht war dies auch die Ursache für den zeitweiligen Ruf als am meisten verschmutzter Fluss Europas. Widersprüche und Ungereimtheiten Hitlers Fluchtvehikel? Das U-977 im Hafen von Mar del Plata. Neben der Verwirrung um eine zweifelsfreie Identifikation der Leichen gibt es laut Burnside einige Widersprüche und Ungereimtheiten Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT 10 in Bezug auf die als Hitler und Braun identifizierten Überreste. Die Körper seien gut zehn Zentimeter zu klein und wiesen überdies mehrere Frakturen auf, deren Ursache sich nicht erklären lasse. Außerdem fehlten diverse Körperteile, unter anderen auch ein Hoden von Hitler, obwohl dieser doch nachweislich komplett bestückt gewesen wäre. Ebenso für Verwunderung sorgt bei Burnside der Zustand, in dem das Ehepaar Hitler aufgefunden wurde. Alle anderen im Führerbunker entdeckten Leichen waren intakt und damit eindeutig identifizierbar, nur die von Adolf Hitler und Eva Braun waren verkohlt und damit auch nicht so einfach zu identifizieren. Wieso waren ausgerechnet der prominenteste Insasse und dessen Frau bis zur UnkenntNaziversammlung in Comodoro Rivadavia. lichkeit verbrannt? Das riecht doch förmlich nach Täuschung! rechten Moment wie ein As aus dem Ärmel zu schütteln und den Sowjets Wem das noch nicht reicht, der möge doch bitte die Widersprüche so den entscheidenden Schlag zu versetzen. Überdies begründet Basti bezüglich der Identifizierung anhand des Gebisses registrieren. Diese diese hanebüchene These mit der ideologischen Nähe zwischen Naziwurde durch die drei Zahnärzte Hitlers vorgenommen, und zwar mit- deutschland und den rassistisch geprägten USA, insbesondere des ultels Röntgenaufnahmen seines Gebisses, deren Existenz mindestens trarechten Flügels. Als Beleg für die tiefen politischen Verbindungen zweifelhaft sei. Misstrauen an dieser Version weckte eine Aussage vom der Vereinigten Staaten mit den Nationalsozialisten führt er die wirtkanadischen Professor für Zahnheilkunde an der Universität von Kali- schaftliche Aktivität amerikanischer Unternehmen in Deutschland an, fornien, Ryder Saguenay. Der behauptete 1974 in einer Radiosendung, die umfangreicher sei als angenommen. Dazu ließe sich anmerken, dass Hitlers gesamte Krankenakte, inklusive der Röntgenaufnahmen seines schon vor Hitlers Aufstieg zur Macht viele US-Unternehmen GeschäfGebisses, sei auf dessen Geheiß in einem Flugzeug von Berlin nach te in und mit Deutschland machten. Darüber hinaus sind die Sympathieinem unbekannten Ort verbracht worden. Daher existierten bloß aus en eines Prescott Bush, Großvater von George W. und finanzieller Undem Gedächtnis eines seiner Zahnärzte heraus erstellte Zeichnungen, terstützer der NSDAP, für den Faschismus hinreichend bekannt, reidie keinesfalls beweiskräftig genug seien, um Hitlers Leiche zweifels- chen als Beleg für eine Fluchthilfe und anschließende Vertuschungsakfrei zu identifizieren. tion seitens der USA jedoch nicht aus. Wer jetzt noch an den Selbstmord Hitlers glaubt, den müssten schließBurnside versteigt sich gar nicht erst in solche Theorien, seiner Meilich die mangelnden Übereinstimmungen späteren Revisionen einiger nung nach habe Hitler selbst und ohne Hilfe von außen die Planung für Zeugenaussagen umstimmen. Diesbezüglich werden unter anderen die seine Flucht unternommen. Patagonien wurde schon länger als mögliAussagen vom ehemaligen Kammerdiener des Diktators, Heinz Linge, ches Refugium in Betracht gezogen und entsprechende Vorbereitungen und von Otto Günsche, einem früheren Sturmbannführer der SS, her- für den Fall der Fälle waren längst getroffen worden. Da nun die Rote angezogen. Beide gehörten zu den Entdeckern der prominenten Lei- Armee im Begriff stand, Berlin endgültig einzunehmen, blieb dem Nachen. 1950 hat Günsche noch ausgesagt, Hitler und Braun nebeneinan- ziführer als einziger Weg zur Rettung seiner Haut die Umsetzung des der sitzend auf dem selben Sofa vorgefunden zu haben. Zehn Jahre Notfallplans. später hieß es dann, sie hätten in verschiedenen Sesseln gesessen. Linge hingegen behauptete, die beiden Leichen hätten an entgegengesetzDer Garten ten Enden des Sofas gesessen. Bezüglich des Selbstmordes sagte LinEden in Córdoba ge, Hitler hätte sich in die linke Schläfe geschossen. Später korrigierte Eingangs des Buches erwähnt Burnside eine Begegnung mit dem er sich allerdings und behauptete, es sei die rechte Schläfe gewesen. Südtiroler Geistlichen Cornelius Sicher, der ihn auf die Spuren Hitlers Auf diese Weise stimmte seine Aussage dann auch mit der Günsches in Argentinien brachte. Als junger Pfarrer traf Sicher im Jahre 1918 auf überein. Diese beiden Zeugnisse stehen allerdings im Gegensatz zu Wilhelm Canaris, den später berühmten Chef der “Abwehr”, der deutdenen des Historikertrios Trevor-Roper, Shirer und Bullock, die be- schen Auslandsspionage. Im Ersten Weltkrieg diente Canaris als Adhaupteten, Hitler habe sich in den Mund geschossen. jutant auf der SMS Dresden. Der Kreuzer hatte zu Kriegsbeginn eine Nachdem laut der Autoren die Mär vom Selbstmord Hitlers wider- abenteuerliche Flucht durch die Fjorde Chilenisch-Patagoniens unterlegt wäre, kommen wir nun zu der Frage, warum der Suizid überhaupt nommen, um der Rache englischer Kriegsschiffe für erlittene Verluste vorgetäuscht, beziehungsweise dessen Flucht vertuscht wurde. im asiatischen Pazifikraum zu entgehen. Nachdem die Position der Dresden in einer abgelegenen Bucht im Süden Chiles an die Briten Kampf gegen verraten wurde, versenkte die Besatzung ihr Schiff lieber selbst und Kommunisten beantragte Asyl. Daraufhin wurden sie auf einer nahegelegenen Insel Abel Basti behauptet in seinem unfassbar schlecht verfassten Buch interniert. Canaris ertrug diese Schmach nicht und floh zu Wasser und Hitler en Argentina, die USA hätten Hitler zur Flucht verholfen. Der zu Pferde, überquerte die Anden und gelangte schließlich auf die arGrund? Im am Horizont heraufziehenden Konflikt mit den Kommuni- gentinische Seite Patagoniens. Die Schönheit der Landschaft überwälsten würde der Naziführer noch gebraucht werden. Eine Konfrontation tigte ihn und fortan ließ ihn dieses “Paradies” nicht mehr los. Als sich würde sich wahrscheinlich auf deutschem Gebiet abspielen und einzig im Zweiten Weltkrieg mit dem misslungenen Russlandfeldzug das und allein der Gröfaz wäre dazu in der Lage, die deutschen Truppen in Kriegsglück zu wenden begann, sollte er in eben jenem Paradies einen Kampfbereitschaft zu versetzen, weshalb man ihn in der Hinterhand Garten Eden für Hitler bereiten, der diesem und einigen weiteren Topbehalten müsste. Also wird Hitler in Argentinien versteckt, um ihn im nazis als Zufluchtsstätte dienen sollte. Unterstützt werden sollten sie Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT 11 von dort bereits ansässigen Deutschen. Der Fall der Fälle wurde, wie bereits erwähnt, schon von langer Hand vorbereitet. Bereits 1941 überwies Nazideutschland angeblich beträchtliche Summen an mehrere argentinische Zeitungen und Politiker. Darunter befanden sich Publikationen wie die Deutsche La Plata Zeitung oder El Pampero y Clarinada und politisch einflussreiche Persönlichkeiten wie Juan Domingo Perón oder Eva Duarte. Auf diese Weise sollte das im Krieg bis fast zuletzt neutral gebliebene Argentinien bei der Stange gehalten werden. In der Tat haben sich viele Nazigrößen zum Kriegsende nach Patagonien abgesetzt und dort noch lange ihrem “Führer” gehuldigt. Aus dem Führerbunker nach Patagonien Wie ist es Hitler gelungen, das belagerte Berlin unerkannt und – beschadet zu verlassen? Den Nachforschungen Burnsides zufolge, wurde Adolf Hitler gemeinsam mit seiner Frau Eva Braun mit einem kleinen und wendigen Flugzeug aus Berlin ausgeflogen. Am Steuer der Ar 234 Blitz saß vermutlich die kampferprobte Pilotin Hanna Reitsch. Zweideutige Bemerkungen in ihrer letzten Biografie sollen darauf hinweisen. Allerdings könnten auch Hans Rudel oder Robert Ritter von Greim die Maschine geflogen haben. Die Blitz eignete sich hervorragend zur Flucht, da sie wenig Platz für Start und Landung brauchte, eine große Reichweite besaß und bis zu 10.000 Meter Flughöhe erreichen konnte. Überdies war sie für den Notfall mit Bomben bestückt. So konnte das höchste Maß an Sicherheit für den prominenten Gast gewährleistet werden. Von Berlin aus ging es nach Kristiansand. Der südnorwegische Hafen war im Gegensatz zu Kiel noch bis zum 7. Mai, also noch eine Woche nach Hitlers Flucht, funktionstüchtig. Dort bestiegen Hitler, seine Frau und noch einige weitere prominente Mitglieder des Regimes mehrere Unterseeboote und stachen in See. Von Kristiansand aus ging es über den Skagerrak und die Nordsee hinaus auf den Atlantik. Bei etwa 40 Grad südlicher Breite trennte sich die Flotte und Hitler landete in einem von zwei U-Booten im rionegrinischen Caleta de Los Loros. Mit an Bord sollen seine Frau und sieben weitere Topnazis gewesen sein. Das genaue Datum der Landung ist ungewiss. Laut Burnside spielte sich die Ankunft der Flüchtlinge wohl im Juli 1945 ab. Von Los Loros aus machte sich der Tross, nachdem die U-Boote versenkt worden waren, auf den Weg Richtung Bariloche. Auf einer dreißig Kilometer östlich von Bariloche gelegenen Estancia namens San Ramón, nahe des Nahuel Huapi, soll Hitler eine Weile gelebt haben. Vermutlich wechselte er mehrmals seinen Wohnsitz. Denn angeblich hat er auch nahe der chilenischen Grenze, beim Lago Buenos Aires oder dem Lago Blanco gewohnt, sowie in La Angostura auf dem Landgut des Perón-Vertrauten Jorge Antonio. Später dann soll er auf einem Landgut seiner wichtigsten finanziellen Unterstützer, Walter und Ida Eichhorn, in der Nähe von Córdoba gewohnt haben. Bis mindestens 1957 soll Hitler sich in Argentinien aufgehalten haben. Später siedelte er dann nach Paraguay über, wo er unter dem Schutz des Diktators Alfredo Stroessner gestanden haben soll. Hitlers Todesdatum ist unbekannt. Jedoch soll er nach seinem tatsächlichen Ableben zunächst in Argentinien beerdigt und später wieder exhumiert und an einen unbekannten Ort verbracht worden sein. Fragwürdige Zeugenaussagen Sowohl Basti als auch Burnside führen als Beleg für ihre Thesen diverse Zeugen an, die Hitlers Anwesenheit in Argentinien bestätigen sollen. Darunter befinden sich ehemalige Krankenschwestern, Zimmerleute und Dienstmädchen, die alle dem “Führer” begegnet sein wollen. In Caleta de Los Loros traf Basti auf einen früheren Piloten, der behauptet, vor der Küste könne man an Tagen mit besonders ausgeprägtem Niedrigwasser die beiden versenkten Unterseeboote ausmachen. Eine Dame namens Brunislava Kitajgrodzki de Koscheck* behauptete laut ihrer Tochter María, im Jahr 1945 eines der U-Boote bei der Ankunft beobachtet zu haben. Kurz darauf hat eine Polin namens Brunilda, Nachname unbekannt, den Naziführer angeblich in Las Plumas gesehen. Als eine schwarze Limousine neben ihr hielt, habe sie ihn an der Stimme, dem Gesicht und den Augen erkannt. Zwar trug er seinen berühmten Schnauzbart nicht mehr, aber da er mit “Mein Führer” angesprochen worden wurde, muss es sich zweifellos um ihn gehandelt haben. Doppelgänger Hitlers - Alejandro Schickorrd. Die italienischstämmige ehemalige Krankenschwester María Falcón de Batinic hat ihren Kindern immer wieder eine Geschichte erzählt, nach der Adolf Hitler an einem Tag des Jahres 1952 an ihrer Arbeitsstelle in Comodoro Rivadavia erschien. Dieser Ort ist bekannt als Zufluchtsstätte für viele (ehemalige) Nationalsozialisten. Er habe einer Gruppe von drei Deutschen angehört, die eine sechsstündige Autofahrt auf sich genommen hatten, um einen schwerverletzten arabischstämmigen Mann ins örtliche Krankenhaus zu bringen. Anscheinend kamen sie aus der Nähe des Lago Buenos Aires oder des Lago Blanco im Grenzgebiet zu Chile. Als ein Mann mit kurzem, weißen Haar und ohne Schnurrbart am Bett des durch einen Pistolenschuss Verwundeten erschien, habe sie Adolf Hitler sofort an seinen Gesichtszügen und der Stimme wiedererkannt. Zwölf Jahre zuvor war sie ihm nämlich schon einmal begegnet. Als sie Dienst in einem Feldlazarett der Deutschen in Frankreich tat, stattete Hitler den Verletzten “Helden” des Frankreichfeldzuges einen Überraschungsbesuch ab. Besonders diese Zeugenaussage ist fragwürdig. Wie wahrscheinlich ist es, dass der bekanntlich von der Parkinsonkrankheit gezeichnete ehemalige Diktator eine zwölfstündige Autofahrt auf sich nimmt, um einen verletzten Nachbarn obendrein noch nicht einmal deutscher Herkunft - persönlich ins Krankenhaus zu bringen? Angeblich hat Hitler sich regelmäßig in Comodoro Rivadavia aufgehalten. Dort soll sich nach Aussage anderer Zeugen eine Bank befinden, auf der Hitler gelegentlich gesessen und verträumt gen Europa geblickt habe. Es gibt noch einen weiteren unter den vielen Zeugen, der hier erwähnt werden soll. Hernán Ancín arbeitete von 1956-57 als Zimmermann für den ehemaligen kroatischen Machthaber und Hitler-Vertrauten Ante Pavelic, der sich historisch verbürgt nach Kriegsende in Mar del Plata niedergelassen hatte. Ancín berichtet von sechs Gelegenheiten, bei denen er Hitler zu Gesicht bekommen haben will. Er sei immer mit seiner Frau erschienen und habe mit dem Ehepaar Pavelic gespeist. Bei einer Gelegenheit sei Ancín von seinem Chef in dessen Arbeitszimmer gerufen und Hitler vorgestellt worden, den er als sehr höflich und kultiviert beschreibt. Ganz im Gegensatz zum groben Pavelic, dem es an Manieren gemangelt habe. Glaubwürdigkeit der Zeugen Zeugen, die Hitler in Argentinien, aber auch in anderen Teilen der Welt, gesehen haben wollen, gibt es viele. Solche Aussagen sind im- Freitag, 3. Oktober 2008 ARGENTINISCHES TAGEBLATT mer mit größter Vorsicht zu genießen. Nimmt man sie vorbehaltlos ernst, dann ist auch Elvis Presley noch am Leben. Viele “Zeugen” sind einfach nur Wichtigtuer, die nach Aufmerksamkeit lechzen. Manche meinen wohl wirklich, ihn gesehen zu haben, aber können sie da so sicher sein? Immerhin, viele der Aussagen stimmen in ihrer Beschreibung des vermeintlichen Hitler überein. Aber, ein alter, humpelnder Mann deutscher Herkunft, ohne Schnurrbart und mit weißem, kurz geschorenen Haar? Das könnte auf viele betagte Herren zutreffen. Die als Indiz für einen vorgetäuschten Selbstmord angeführten Zeugenaussagen sind ebenfalls kritisch zu betrachten. Teils erhebliche Diskrepanzen in der Beschreibung ein und desselben Ereignisses sind völlig normal. Psychologische Studien zeigen immer wieder, dass mehrere Leute ein und dieselbe häufig völlig unterschiedlich wahrgenommen und zum Teil Dinge gesehen haben, die überhaupt nicht passiert sind. Daher gilt auch hier äußerste Vorsicht. Insgesamt lässt sich zu den Werken der hier erwähnten Autoren sagen, dass es ihnen aufgrund diverser Schwachpunkte in Recherche und Ausarbeitung an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit mangelt. Insbesondere das Buch “Hitler En Argentina” vom Journalisten Abel Basti vermisst jegliche Struktur. Eine vernünftige Einleitung existiert nicht, die wichtigen Eckdaten bezüglich Flucht, Ankunft, Aufenthalt in Argentinien sucht man vergebens. Ebenso fehlt ein Fazit, welches diese Bezeichnung verdient. Ein für solch eine Arbeit notwendiges entsprechendes Verständnis der europäischen Geschichte ist nicht vorhanden. Die unglaubliche Fülle von Irrtümern, fehlerhaften Datumsangaben und falsch geschriebenen Namen lässt kaum positive Rückschlüsse auf die Qualität der Recherche zu. In der Schweiz wird mit der Schweizer Mark bezahlt, der letzte Irakkrieg begann im Jahre 2004 und aus J. Edgar Hoover, dem legendären ehemaligen Chef des FBI, wird J. Edgard Hoover. Allein schon aufgrund der miserablen Niederschrift seiner Erkenntnisse, sollte es dem Autor wohl kaum gelingen, neutrale Leser von seiner These zu überzeugen. Zu guter Letzt entwertet Basti seine Arbeit noch selbst, indem er – immerhin ehrlich – zugibt, dass es ihm aufgrund Zeit- und Geldmangels nicht gelungen sei, Hitlers Anwesenheit 12 in Argentinien zu beweisen. Mit den entsprechenden Ressourcen sei dies aber ein Leichtes. Aha. Dann braucht man dieses Buch also nicht zu lesen? Das Buch von Patrick Burnside hinterlässt aufgrund seiner durchaus vorhandenen Stringenz einen seriöseren Eindruck, jedoch vermisst man hier ebenfalls die notwendige wissenschaftliche Sorgfalt, jedoch in geringerem Maße als bei Basti. Insbesondere die Schreibweise deutscher Namen ist fehlerhaft und die so manchen Zeugen ist regelmäßigen Änderungen unterworfen. Es mag kleinkariert klingen, aber gerade wenn man solch brisante Theorien veröffentlicht, sollte mit größter Sorgfalt zu Werke gegangen werden, sonst leidet die Glaubwürdigkeit immens. Abgesehen von den handwerklichen Mängeln der erwähnten Werke ist die hauptsächlich auf Zeugenaussagen beruhende Theorie vom vorgetäuschten Suizid Hitlers und seiner anschließenden Flucht nach Argentinien wenig plausibel. Hitler war in den Monaten vor seinem Freitod bereits schwer gezeichnet von der parkinsonschen Krankheit und wies starke Anzeichen von Demenz auf. Im Angesicht der sich abzeichnenden Niederlage gab er den Nerobefehl, damit die Alliierten nichts als “verbrannte Erde” ernteten. Schließlich wandte er sich aus Enttäuschung von den Deutschen ab, die sich doch nicht als Herrenmenschen erwiesen hatten. Sein Lebenswerk zerstört, Deutschland in Schutt und Asche, die einst stolze Wehrmacht ein Hühnerhaufen: seine Träume waren ausgeträumt. Daher erscheint der Selbstmord, obwohl tatsächlich nicht zu 100 Prozent bewiesen, als einzig logische Schlussfolgerung. *Schreibweise des Namens ändert sich mehrmals im Buch. Abel Basti: Hitler en Argentina, www.hitlerargentina.com.ar Patrick Burnside: El Escape de Hitler, Planeta
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