Las Americas. Vom modernismo zum Redigieren

Transcripción

Las Americas. Vom modernismo zum Redigieren
1
Martina Kaller-Dietrich, Las Americas. Vom modernismo zum Redigieren der
lateinamerikanischen Identitäten unter besonderer Berücksichtigung des mexikanischen
Diskurses. In: Fröschl, Thomas/ Grandner, Margarete/ Bader-Zaar, Birgitta (eds) 2000:
Nordamerikastudien. Historische und literaturwissenschaftliche Forschungen aus österreichischen
Universitäten zu den Vereinigten Staaten und Kanada (= Wiener Beiträge zur Geschichte der
Neuzeit 24). Wien/ München: 313-340
___________________________________________________________________
Las Americas.
Vom modernismo zum Redigieren der lateinamerikanischen
Identitäten unter besonderer Berücksichtigung des mexikanischen
Diskurses
Wenn von den vielen Identitäten und Gesichtern Lateinamerikas die Rede ist,
konstatieren Geistes- und Sozialwissenschaften eine fundamentale Spannung
zwischen Tradition und Moderne und folgen in ihrer Beurteilung implizit einem
angeblich universalen Zivilisationsmodell. Das Gegensatzpaar Tradition-Moderne
erweist sich mittlerweile zwar als grundsätzlich fragwürdig1, aber in Lateinamerika
bedeutet modern zu sein immer noch, auch fortschrittlicher, entwickelter vielleicht
sogar höherwertig zu sein. Im Abhängigkeitsverhältnis Lateinamerikas gegenüber
den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet modern sein, aber auch, sich mit der
politischen und wirtschaftlichen Vorherrschaft am Doppelkontinent zu identifizieren
beziehungsweise den erfolgreichen Entwicklungsweg der USA nachahmen zu
wollen. Traditionell sind dagegen die Dauerverlierer von Entwicklung und Fortschritt,
die „Sein-Und-Habe-Nichtse“ dieser Welt, die Unterentwickelten, die Hilfsbedürftigen,
die Unzeitgemäßen die kulturellen Assimilierer, die Integrationsopfer, mit einem Wort,
die Zurückgebliebenen der Menschheitsgeschichte. Als letztere gelten in der USamerikanischen Öffentlichkeit die hispanics und latinos. In den durchwegs
rassistischen Gesellschaften der Staaten Lateinamerikas aber sind es die Indigenen
oder die Indios2, die derart geringschätzig beurteilt werden. Ich behaupte, daß sich
1
Zu „Tradition“ siehe z.B. den Reader Eric J. Hobsbawm - Terence Ranger (eds.), The Invention of Tradition
(Cambridge 61989) und zu „Moderne“ Wolfgang Welsch (ed.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der
Postmoderne-Diskussion (Berlin 21994).
2
In den Diskussionen um den Quinto Centenario machten die Indios in Mexiko mit dem Hinweis, daß sie sich
unter dem Namen befreien wollten, unter dem sie kolonialisiert wurden, deutlich, wieso sie sich für diese
2
der stereotype Ausschluß der Indios aus einer Modernität, die mit ihnen nichts (mehr)
zu tun haben will, an Vorstellungen von Moderne und Entwicklung orientiert, die
Differenz nicht dulden und sie deshalb vernichten müssen. Diese ausschließende
und für kulturelle Differenz blinde Seite der Moderne wurde mit geringen
Abweichungen aus den USA übernommen und in Lateinamerika rezipiert. Unter
diesen
Voraussetzungen
konnte
in
Lateinamerika
keine
Entkolonialisierung
stattfinden, sofern dies im Weltsystems überhaupt denkbar ist.3 Die seit mehr als
hundert
Jahren
geführte
Auseinandersetzung
um
eine
oder
mehrere
lateinamerikanische Identitäten interessiert vor dieser These heute noch.
Identität4 ist die Antwort auf die Frage, was eine Person oder eine Gruppe für sich
und für andere ist. Personale und soziale Identitäten ändern sich gemäß den
Umständen, unter denen sie bestimmt werden. Identität vollzieht sich in diesem
Sinne
philosophisch,
psychologisch
oder
soziologisch
verstanden,
in
der
Zugehörigkeit zu einem dynamischen Emanzipations-Wir, das seinerseits ein kulturell
differentes Nicht-Wir konstruiert. Kulturelle Alterität meint also kein essentialistisches
Anderssein, sondern zeigt sich in der dynamischen Beziehung, in welcher das
Eigene
zum
Fremden
gebracht
wird.
Was
aber
bedeutet
das
Eigene
beziehungsweise das Fremde bei der Frage nach amerikanischen Identitäten, wenn
sie von einem lateinamerikanischen Standpunkt aus gestellt wird und wie verändern
sich Fragestellung und Antworten?
Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich zeigen, wie sich seit Ende des vorigen
Jahrhunderts in Lateinamerika das eigenständige Projekt des modernismo
herauskristallisiert hat, das „aus dem Bewußtsein der Peripherie eine bewußt
Bezeichnung entschieden haben. Zu den Hintergründen siehe auch Martina Kaller, Die Erfindung Amerikas. Zur
Diskussion in Mexiko um den Quinto Centenario 1492-1992. In: Frühneuzeit-Info II, 2 (1991) 35-41.
3
Eine Kritik, auf die ich hier nicht näher eingehen kann, siehe aber Immanuel Wallerstein, Die
Sozialwissenschaft „kaputtdenken“. Die Grenzen der Paradigmen des 19. Jahrhunderts (Weinheim 1995)
besonders 153-180 und 271-323.
4
Zur Entwicklung des Identitätsbegriffs siehe: Odo Marquard, Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz –
Bemerkungen zur Genealogie einer aktuellen Diskussion In: Odo Marquard – Karlheinz Stierle (eds.), Identität
(München 1976) 342-369.
Wer, wann, wofür oder von wem was als „eigen“ oder „fremd“ definiert wird, bestimmt inzwischen den
kritischen Umgang mit Identitätsentwürfen, besonders wenn Zugehörigkeit „national“ verordnet wird. Siehe
vergleichend zur feministischen Diskussion Nira Yuval-Davis, Women – Nation – State (London 1989) und
zusammenfassend zum aktuellen Stand der Kontroverse: Stephen Collins, Wessen Identität überhaupt? Einige
Überlegungen zur ignorierten Geschlechterfrage bei der Konstruktion von nationalen Identitäten. In: Welttrends.
Internationale Politik und vergleichende Studien 15 (1997) 38-50.
3
periphere Modernisierungsstrategie für den eigenen Raum entwickelte“5. Die
emanzipativen
ursprünglich
Identitätskonstruktionen
gegen
Verfeindungszwang
die
im
ehemalige
19.
in
Lateinamerika
Kolonialherrschaft
Jahrhundert
auf
die
verlagerten
den
Spaniens
gerichteten
imperialistisch
agierenden
Vereinigten Staaten von Amerika. An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
wurden die „Verräter“ an diesen Identitätsbestimmungen in den eigenen,
lateinamerikanischen Reihen sichtbar und benannt. In Ansätzen kann der Topos der
nordomanía,
der
vor
hundert
Jahren
erstmals
in
der
Diskussion
um
Eigenbestimmung in Lateinamerika auftauchte, um die kulturelle, politische und
wirtschaftliche Selbstauslieferung an die USA zu benennen, mit der zeitgenössischen
Verweigerung, sich nicht länger dem Diktat einer auf technische und wirtschaftliche
Entwicklung reduzierte Modernisierung zu beugen, verglichen werden. Beide
Ansätze lassen sich auch als entkolonialistische Diskurse in der Machart eines
Frantz Fanon6 lesen - mit einem Unterschied allerdings: Die Vorstellung,
lateinamerikanische
Gesellschaften
könnten
einheitliche
Konzepte
für
eine
gemeinsame Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart finden, kann anläßlich der
Dekonstruktion des universalen Modells von Entwicklung nicht aufrecht erhalten
werden.
Kulturelle Alterität wurde im modernismo gegenüber dem hegemonialen Zentrum
USA definiert. Mittlerweile ist dieses polarisierte Verständnis von kultureller Alterität
zersplittert. Während für Asien und Afrika die verheißungsvollen sechziger Jahre das
Ende der europäischen Kolonialherrschaft und den Versuch bedeuteten, sich im
internationalen Kontext selbst darzustellen, hielt diese Periode für Lateinamerika
viele verschiedene Aufbrüche bereit. Ihre Bedeutungen standen nicht selten im
Widerspruch zueinander: Die Kubanische Revolution, die Allianz für den Fortschritt,
die Diskussion über Dependenz und Entwicklung, die Befreiungstheologie, die
Guerilla, die weltweite Verbreitung der lateinamerikanischen Musik und der „Boom“
des phantastischen Realismus in der Literatur wurden als Besonderheiten des
Kontinents herausgestellt. An diese Verheißungen glaubt heute nach der „verlorenen
5
Ette bezieht sich damit aus seiner literaturwissenschaftlichen Perspektive auf die modernismo-Diskussion.
Seiner Bewertung hielte aber auch die Dependenztherorie als eigenständiger lateinamerikanischer Beitrag zur
entwicklungspolitischen Debatte stand. Ottmar Ette, Lateinamerika und Europa. Ein literarischer Dialog und
seine Vorgeschichte. In: José Enrique Rodó, Ariel. Übersetzt, herausgegeben und erläutert von Ottmar Ette
(Mainz 1994) 9-58, hier 57.
6
Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde (Reinbek 1969).
4
Dekade für Entwicklung“ niemand mehr. Während in den USA vom Ende der
Geschichte die Rede war7, scheinen in Lateinamerika die oben angesprochenen
Hoffnungen weiter denn je außer Reichweite gerückt. Die Schriftsteller, die noch bis
in die siebziger Jahre, also den Zeiten des sogenannten „Booms“, scheinbar das
uneingeschränkte Vorrecht genossen hatten, die lateinamerikanische Identität zu
zeichnen und die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kritik zu
formulieren, haben diese Bühne ganz neuen Darstellern überlassen: Heute sind es
die
Anthropologen,
Soziologen,
akademischen
Philosophen
und
Wirtschaftswissenschafter, deren Vorstellungen gehört werden. Auch die Frage nach
sozialer Identität, einem kollektiven Selbstbild also, verlagerte sich entsprechend in
die genannten Disziplinen. Die Projektionen von Entwicklung, die im Kalten Krieg als
der Gesellschaftsentwurf des Westens wegweisend für die wirtschaftlichen und
politischen Entscheidungen in Lateinamerika geworden waren, wurden einer
neuerlichen Bewertung unterzogen. Nicht mehr nur die imperialistische Macht der
USA steht am Pranger. Auch die Machtmechanismen, die unter dem Primat von
Modernität und Entwicklung weltweit homogene Normalisierungsgesellschaften
schaffen, wurden benannt.
Im zweiten Teil des vorliegenden Beitrags reflektiere ich die sehr politisch geführte
Infragestellung abendländisch-europäischer Kulturmodelle, die in Lateinamerika seit
den 1980iger Jahren eine intellektuelle Öffnung gegenüber kulturellen Formen
brachte, die sich gegenüber ihrer Verwestlichung8 behaupten konnten und sich unter
Berufung auf kulturelle Differenz gegen ihre Integration wehren. Der verstärkte
Hinweis auf die indigenen Kulturen9 hat sicher auch in Lateinamerika mit der
weltweiten Tendenz zu tun, kulturelle Differenzen innerhalb des Weltmarktes
7
Fukuyama, The End of History.
Verwestlichung bedeutet die Durchsetzung des universalen Modells der Moderne, unter dessen Namen alle
Gesellschaften weltweit kontinuierlich seit dem 19. Jahrhundert ihrer Partikularität beraubt, ins Weltsystem
transformiert und damit zerstört werden. Maßgebliche Stützen dieses universalen Modells sind die Apotheose
von Wissenschaft und Technik, die Herrschaft der Ökonomie und die Standardisierung kollektiver
Vorstellungswelten. Siehe u.a. Karl Polanyi, Ökonomie und Gesellschaft (Frankfurt am Main 1979), Karl
Polanyi, The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und
Wirtschaftssystemen (Frankfurt am Main <EA London 1944> 1995).
9
Selbstverständlich sind die Indigenen nicht die einzigen kulturell „Andersartigen“ in Lateinamerika. Ihre
kulturelle Alterität wird aber bei der Diskussion um Identitätsentwürfe und politische Erneuerung maßgeblich
hervorgehoben. Deshalb berücksichtige ich die interessanten Definitionen zu den Kulturen afrikanischer,
asiatischer oder arabischer Einwanderer in Lateinamerika in meinen Ausführungen nicht. Zum Thema schwarzer
Kulturen in Lateinamerika: Jesús Alberto García, Modernidad, afrovenezolanidad y posmodernidad. und von
Nina S. de Friedmann, Negros en Colombia: identidad e invisibilidad. In: Guillermo Bonfil Batalla (ed), Hacia
nuevos modelos de relaciones interculturales (México D.F. 1993) 127-133 und 134-146.
8
5
anzubieten wie andere Waren auch. Die zu Tage beförderten und neu definierten
kulturellen Alteritäten überraschten die lateinamerikanische Öffentlichkeit aber
genauso wie die europäische oder nordamerikanische. Es läßt sich heute klar
erkennen, daß die aktuelle Diskussion um plurale Identitätsentwürfe einen gewissen
kompensatorischen
Charakter
hat.
Sie
ist
aber
auch
Ausdruck
einer
Orientierungskrise, welche von „der Moderne“ beziehungsweise „dem Westen“ mit
seinem universalen Anspruch, eine einfältige, aufgeklärte und fortschrittliche
Zivilisation herbei zu führen, selbst ausgelöst wurde.10 An der rege geführten und
international reszipierten mexikanischen Debatte werde ich dies erläutern.
I. Las Américas
The americans, die Amerikaner, los americanos – egal in welcher Sprache - gemeint
sind landläufig die BürgerInnen der Vereinigten Staaten von Amerika.11 Die
hegemoniale Stellung im Weltsystem12, welche die USA im 20. Jahrhundert
einnehmen konnten, bestätigt sich in dieser synonymen Wortwahl. Die weniger
gebräuchliche Bezeichnung, las Américas, zeigt die im lateinamerikanischen Diskurs
um Identität im 19. Jahrhundert aufgetauchte Unterscheidung zwischen dem
„angelsächsischen“ und dem „lateinischen“ Projekt der Moderne am Doppelkontinent
an. Auch erinnert die plurale Verwendung des Begriffs Amerika an die vielen
Versionen des Amerikabildes, die im Laufe der letzten gut fünfhundert Jahre
entstanden sind.13 Gleichzeitig steht las Américas für die lateinamerikanischen
10
Unter kritischen Beschuß aus dem Süden geriet die Entwicklungsidee und „der“ Westen mit seinem
Zivilisationsmodell. Ein- und Überblick zu dieser Kontroverse verschaffen: Wolfgang Sachs (ed), Wie im
Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik (Reinbek bei Hamburg 1993) und
Majid Rahnema - Victoria Bawtree (eds.), The Post-Development Reader (London 1997).
11
Das Selbstverständnis Amerikaner zu sein, teilen v.a. die eingewanderten, „weißen“ BürgerInnen der USA.
Die people of color, die hispanics und besonders die native americans grenzen sich von dieser Art des
Selbstverständnisses ab. Siehe dazu auch Phillip Wearne, Die Indianer Amerikas. Die Geschichte der
Unterdrückung und des Widerstands. Mit einem Vorwort von Rigoberta Menchú (Göttingen 1996).
12
Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsystem. Kapitalistische Landwirtschaft und die Entstehung der
europäischen Weltwirtschaft im 16. Jahrhundert (Frankfurt am Main 1986) und ders., The Politics of the WorldEconomy. The States, the Movements, and the Civilizations (Cambridge 1984).
13
Der mexikanische Historiker Edmundo O’Gorman behauptet, daß die ontologische Bestimmung Amerikas seit
der Entdeckung des Doppelkontinents historisch und geographisch eine Erfindung war. Siehe Edmundo
O’Gorman, La idea del descubrimiento de América. Historia de esa interpretación y crítica de sus fundamentos
(UNAM México D.F. 1951); Edmundo O’Gorman, La invención de América. Investigación acerca de la
estructura histórica del Nuevo Mundo y el sentido de su devenir (México D.F. 1958); Zusammenfassend zum
Argument von O’Gorman siehe Martina L. Kaller, Identität in der Geschichte als Problem des aktuellen
6
Bestrebungen nach Selbstbehauptung. Einige Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit
der meisten ehemals spanischen Kolonien in Amerika und als der bolivarianische
Traum von einer einzigen amerikanischen Nation verblaßt war, zeigte sich am Weg
Brasiliens und den eigenständigen Entwicklungen in der Karibik14, daß die
ideologischen Phantasien um den aus Frankreich übernommenen Panlatinismus15,
keine umfassende lateinamerikanische Identität würden bestimmen helfen. Die
gemeinsame, attributive Bezeichnung América Latina erwies sich in der Folge nur
nach außen, besonders im Konflikt der jungen, lateinamerikanischen Staaten mit den
außenpolitischen Interessen der USA als brauchbar.16
mexikanischen Selbstverständnisses. Eine philosophie-historische Analyse (ungedruckte Dissertation an der
Grund- und Integrativwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien 1988) hier 74-90. Zur prinzipiellen
Erkenntnisfrage der ersten europäischen Chronisten des 16. Jahrhunderts siehe Tzvetan Todorov, Die Eroberung
Amerikas. Das Problem des Anderen (Frankfurt am Main 1985). Der im 18. Jahrhundert aufgetauchten Polemik
um den historischen „Wert“ Amerikas ist Antonello Gerbi, La disputa del Nuevo Mundo. Historia de una
polémica 1750-199 (México D.F. 1960) in umfassender Weise nachgegangen.
14
Die hier getroffene Einschränkung „Lateinamerikas“ auf die ehemals spanischen Kolonialgebiete und damit
das „hispanische Amerika“ folgt einer gängigen Praxis, welche den Prozeß der Nationsbildung im
Lateinamerika des 19. Jahrhunderts nicht mit Brasilien in Verbindung bringt. Dafür können im wesentlichen drei
Argumente ins Treffen geführt werden: 1. Das lusitanische Amerika, welches territorial die Hälfte Südamerikas
umfaßt, war bis 1889 monarchisch verfaßt. 2. Im Gegensatz zur spanischen Rechtspraxis legalisierte Portugal in
seinen transatlantischen Gebieten die Sklavenhaltung und damit auch die Verschleppung von AfrikanerInnen
nach Brasilien. Die Sklavenwirtschaft wurde erst 1888 – übrigens in einem Dekret, das die Habsburgerin
Leopoldine von Brasilien unterzeichnete - abgeschafft. 3. Erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts
fanden die brasilianischen Intellektuellen einen eigenständigen Anschluß an die lateinamerikanische Diskussion
um Identität. Herausstreichen möchte ich die radikale Eurozentrismuskritik der Antropófagos. Das Programm
einer klassenlosen, an matriarchalen Urzeiten orientierten Gesellschaft publizierte Oswaldo de Andrade,
Manifesto Antropófago im Mai 1928 in der Revista de Antropofagía. Kühner und satirisch pointierter siehe
Andrades Position in seinem Roman Serafino Ponte Grande der erstmals 1933 erschien; damit war der
Grundstock für die recht eigenwillige Interpretation von und Kritik am modernismo wie sie heute auch der
berühmte brasilianische Kulturtheoretiker Darcy Ribeiro äußert.
Daß die französischen, englischen und niederländischen Kolonien in Südamerika und in der Karibik nicht im
Zusammenhang mit dem lateinamerikanischen Identitätsdiskurs behandelt werden, ergibt sich ebenfalls aus
historischen Gründen. Ihre strategisch günstige Lage für den Überseehandel machte die karibischen Staaten und
Protektorate seit Beginn der Integration Amerikas ins Weltsystem neben maßgeblichen Unterschieden in den
Kolonisationsprojekten zu Sonderfällen. Ihre militärisch-strategisch günstige Position in den großen und kleinen
Antillen, sowie an der Küste Südamerikas hob ihre Bedeutung im 20. Jahrhundert für die imperialistischen
Bestrebungen der USA. Siehe zur geopolitschen Sonderstellung des karibischen Raums: Gerhard Sandner,
Zentralamerika und der ferne karibische Westen. Konjunkturen, Krisen und Konflikte 1503-1984 (Stuttgart
1985).
15
Martina Kaller, Lateinamerika. Eine Definition. In: Conceptus XXII 56 (1988) 119-124.
16
Dies widerspricht der Praxis der US-amerikanischen Außenpolitik seit dem 19. Jahrhundert. Von der
Annexionspolitik der USA im 19. Jahrhundert, über den Erdölkonflikt mit Mexiko in den 1930er Jahren und die
aggressive Außenpolitik gegenüber Zentralamerika und der Karibik, konzentrierte sich das US-amerikanische
territoriale und strategische Interesse am seinem „Hinterhof“ fast ausnahmslos auf Gebiete, die geographisch zu
Nordamerika zählen, beziehungsweise den großkaribischen Raum bilden. Bei dieser Perspektive dürfen aber die
wirtschaftlichen Manipulationen der USA in Südamerika nicht unterschätzt werden, die selbst die Aufrüstung
von Militärregimes als Entwicklungshilfe durchführten. Neben einer Fülle der besonders zwischen Mitte der
sechziger Jahre bis zum Ende des Kalten Kriegs entstandenen Studien, unter denen für das deutschsprachige
Publikum nach wie vor jene von Frank Niess, Der Koloß im Norden. Geschichte der Lateinamerikapolitik der
USA (Köln 1984) herausragt, möchte ich den Grundlagentext von Ekkehart Krippendorf, Die amerikanische
Strategie. Entscheidungsprozeß und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik (Frankfurt am Main
1970) nicht unerwähnt lassen.
7
I.2. Zum US-amerikanischen Projekt der territorialen Expansion
Das kapitalistische Weltsystem expandierte gerade17 als sich die USA mehr als die
Hälfte des mexikanischen Territoriums aneigneten. Wenn wir uns die USamerikanische Trancontinental Treaty Line vom 22. Februar 1819 – einem Zeitpunkt
als sowohl das französische Louisiana als auch Florida von den Unionsstaaten
bereits angekauft waren – vor Augen halten, könnte die Grenze zum ehemaligen
Vizekönigtum Neuspanien und gerade um seine Unabhängigkeit ringenden Mexiko
weniger als Süd- denn als Westgrenze gesehen werden.18 Mit der Annexion von
Texas, die seit 1821 kontinuierlich betrieben und trotz militärischen Widerstandes
und gegen die unzähligen Proteste der mexikanischen Regierung im Jahr 1845
formell vollzogen worden war, zeigte sich eindeutig, was mit der Monroe-Doktrin von
1823 gemeint war: „Amerika den Amerikanern – und zwar den US-Amerikanern“,
lautete die Botschaft an mögliche Alliierte der lateinamerikanischen Regierungen.
Mit dem Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo, der nach einer zweijährigen lowintensity-Kriegsphase zwischen den USA und der mexikanischen Regierung 1848
beschlossen und damit auch die Good Neighbor Policy19 besiegelt wurde, war das
asymmetrische Machtverhältnis, das bis heute die Beziehung der beiden Staaten
bestimmt, definiert. Im Jahr 1853 kauften die nordamerikanischen Unionsstaaten
noch Arizona ein. Zu recht lassen sich diese Gebietserwerbungen als das „größte
Immobiliengeschäft der Weltgeschichte“20 bezeichnen. Der Grundstein für das bis
heute aktuelle Verständnis der US-amerikanischen Hinterhof-Politik war also gelegt.
17
Es handelt sich um die erste Phase von Kontraktion und Expansion des Weltsystems, die mit dem
Börsenkrach von 1873 endete. Die regelmäßigen Wellen von Kontraktion und Expansion lassen sich seit dem
späten 18. Jahrhundert genau nachzeichnen. Wallerstein baut seine Zyklentheorie auf den empirischen Belegen,
die erstmals Nikolai Kontratjew in seinem Aufsatz „Lange ökonomische Zyklen“, 1925 erschienen in der
Zeitschrift „Woprosij Konjunkturij“ zeigte. Im Jahr 1991 wurde das Hauptwerk des 1938 unter Stalin
ermordeten Kontratjew „Hauptprobleme der ökonomischen Statik und Dynamik“ in Moskau zum ersten Mal
veröffentlicht. Zur Zyklentheorie und ihrer Anwendungsmöglichkeiten für die historische Forschung Christian
Suter, Schuldenzyklus in der Dritten Welt. Kreditaufnahme, Zahlungskrisen und Schuldenregelungen peripherer
Länder im Weltsystem von 1820 bis 1989 (Frankfurt am Main 1990).
18
Die späteren US-amerikanischen Bundesstaaten California, Nevada, Utha, Arizona, New Mexico, Texas und
teilweise Wyoming, Colorado und Kansas gehörten noch zum mexikanischen Territorium.
19
Als „gute Nachbarn“ firmierten die Mexikaner erst in der Präambel zum Vertrag von Guadalupe Hidalgo vom
2. Februar 1848.
20
Niess, Koloß im Norden 24.
8
Der Rio Grande bildet seitdem eine in vieler Hinsicht einzigartige Grenze. Im smalltalk zur geographischen Lage des nationalen Territoriums fällt unter Mexikanern
häufig die Bemerkung, Mexiko läge zu weit von Gott entfernt, aber zu nahe bei den
USA. Die lange Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten von Amerika
markiert im 20. Jahrhundert auch die einzige physische Scheidelinie zwischen dem
„entwickelten Norden“ und dem „unterentwickelten Süden“, die auf dem Landweg
überschritten werden könnte. Die Aufteilung der Welt in „entwickelte“ und
„unterentwickelte“ Regionen wird dort extrem sichtbar. Die Anmaßung zu bestimmen,
was „Unterentwicklung“ sei und für wen sie zuträfe, die im Jahr 1949 von Harry
Truman21 vorgebracht wurde, reduzierte die dichotome Zeichnung eines modernen
Nordamerikas und eines rückständigen, traditionellen Südens auf die Kategorie
nationalökonomischen Erfolgs. Darin erweist sich das Fortbestehen der ins Profane
gewendeten puritanischen Heilsgewißheit, die im 19. Jahrhundert unter dem
ideologischen Etikette der Manifest Destiny geäußert wurde. Diese Ideologie
verklärte jede noch so aggressive Außenpolitik der USA zur altruistischen Mission.
Ihr Schöpfer, der Journalist John L. O’Sullivan, formulierte 1845 was damals in der
Luft lag: Die Menschheit habe mit dem Aufstieg der USA zugleich den Gipfel der
Zivilisation erklommen. Die Erschließung und der Besitz des Kontinents sei die
„offenkundige Bestimmung“ der Vereinigten Staaten von Amerika.22 Deutlich
erläuterte einige Jahrzehnte danach Josiah Strong, Sendungsideologe der Stunde ähnlich wie sein Kollege Francis Fukuyama23 hundert Jahre später – den Plan der
Geschichte und die universalen Konsequenzen daraus: „Gott hat zwei Hände. Mit der
einen bereitet er in Amerika den Stempel, durch den die Nationen ihre Prägung
erhalten, mit der anderen Hand bereitet er die Menschheit darauf vor, diese Prägung
zu empfangen.“24 In Lateinamerika durfte man demnach bestenfalls „hoffen, an den
zivilisatorisch-demokratischen Errungenschaften ‚made in USA‘ teilzuhaben“25, faßt
Frank Niess zusammen. Man könnte mit Gustavo Beyhaut auch sagen, daß im 19.
21
Gemeint sind hier die Ausführungen zum Punkt vier des Aktionsprogramms in Trumans zweiten
Inaugurationsrede 1949. Harry S. Truman, Memoiren (Bd 2 Stuttgart 1956) 254. Siehe kritisch u.a. Gustavo
Esteva, Entwicklung. In: Sachs (ed.), Wie im Westen 89-121.
22
Hans R. Guggisberg, Geschichte der USA. Bd 1: Entstehung und nationale Konsolidierung (Stutgart 1975)
88.
23
Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man (New York 1992).
24
Joshia Strong , Our Country (Cambridge Mass. 1963, Nachdruck der überarb. Auflage von 1891) 177 zitiert
nach Niess, Koloß im Norden 49.
25
Niess, Koloß 49.
9
Jahrhundert aus dem Norden eine zweite Konquista26 über Lateinamerika
hereingebrochen war, welche sich nahtlos in die Herrschaftsverhältnisse, welche die
iberischen Kolonialreiche zurückgelassen hatten, fügte.
Die bis heute aktuelle Diskussion27 um eine nationale beziehungsweise um eine
lateinamerikanische Identität muß im Lichte des ambivalenten Verhältnisses
zwischen den USA und Lateinamerika gesehen werden. Diese Ambivalenz ist seit
der modernismo-Diskussion ein Topos bei der Frage nach der Latinität, in deren
Zentrum die Bestimmung einer „nuestra América“ steht, das „paradoxerweise noch
nicht ganz ‚unseres‘ ist“
28
, wie der Philosoph Horacio Cerruti-Guldberg noch heute
feststellt. Bereits die Suche nach Identität ist für die mexikanischen Befürworter
dieser
These
um
Leopoldo
Zea
das
Ziel.
Diese
vage,
in
nationaler
Realisierungstrance schwebende Selbstbestimmung wirkt homogenisierend und
höchst anpassungsfähig. Sie unterwirft sich dem Diktat des universalen Modells des
westlich-zivilisatorischen Menschenbildes, wenn Leopoldo Zea feststellt, daß „auch
der Mensch in diesem [unseren] Amerika auch nur ein Mensch ist“.29 Vor dieser
Beurteilung werden Identitätsbestimmungen, die von einer kulturellen Differenz
ausgehen, beziehungsweise die je eigene Kultur im Gegensatz zur universalen
Zivilisation bestimmen, immer von sekundärer Bedeutung bleiben müssen.
26
Gustavo Beyhaut, Raíces contemporáneas de América Latina (Buenos Aires 1964).
Stellvertretend nenne ich hier für Mexiko die Arbeiten von Leopoldo Zea und seiner Gruppe am Centro de
estudios latinoamericanos, Faculdad de Humanidades der Universidad Autónoma de México.
Publikationsforum: Cuadernos Americanos. Nueva Epoca. Die bislang beste Übersicht über das ausführliche
Schaffen von Zea gibt Francisco Lizcano, Leopoldo Zea. Una filosofía de la historia (Madrid 1986). In
deutscher Sprache erschienen: Leopoldo Zea, Signale aus dem Abseits. Eine lateinamerikanische Philosophie
der Geschichte (=Grenzen und Horizonte 6, München 1986).
28
Horacio Cerruti-Guldberg, La latinidad ¿discurso utópico o discurso mítico? In: Centro coordinador y difusor
de estudios latinoamericanos. Coordinación de Humanidades (eds.) La latinidad y su sentido en América Latina
(UNAM México D.F. 1986) 201-208, hier 201: „No somos, en principio claro está, latinos, sino por oposición a
los vecinos sajones. Forzados a definirnos, a decir qué papel ocupamos y ocuparemos en la historia mundial,
más que destacar la latinidad de nuestra denominación, por lo menos de alguna de ellas, hemos procurado de
aclarar los proyectos de una nuestra América que, paradójicamente, todavía no es del todo ‚nuestra‘ y por eso
puede denominarse con este posesivo de deseo, de sueño, de utopía.“
29
Leopoldo Zea, Búsqueda de la identidad latinoamericana. In: Leopoldo Zea et al. (eds.), El problema de la
identidad latinoamericana (México UNAM 1985) 11-31, hier 30.
27
10
I.3. Nuestra América?
Ein Art essentialistischer Selbstbestimmung von „nuestra América“ grenzte das
Emanzipations-Wir nach außen hin ab und machte die Autoren der entsprechenden
Eigenbestimmungen blind für die sozialen und ethnischen Differenzen innerhalb
Lateinamerikas.
Die
vorbildgebende
iberische
Kultur
im
Kontext
ihrer
abendländischen Traditionsstränge führte seit ihren Anfängen in der „Neuen Welt“
eine Hierarchie ein, die kulturelle Praktiken, die den europäischen Mustern nicht
entsprachen, ausgrenzte und ins Unsichtbare abdrängte. Der Andere, oder wie
Otmar Ette meint, das „Fremde erscheint hier als das Wunderliche, das jedoch
keinen
Eingang
in
das
Eigene
finden
kann.“30
Der
lateinamerikanische
Diskussionshorizont ist seit seinen Anfängen von der Herkunftsidentität der
europäischstämmigen Intellektuellen bestimmt. Sie waren die Konstrukteure der
jungen Staatsnationen und meist profitierten sie davon als hohe Beamte im
Bildungswesen und in der Diplomatie. Es ging ihnen nicht nur um eine abstrakte
soziale Identität oder Idee der Nation, sondern um die Materialisierung des Staates,
der Hegemonie mit Hilfe von Standardisierung und Homogenisierung verordnet.
Mechanismen zur Durchstaatlichung des Bidlungssystems, der Rechtsordnung, der
Sozialwissenschaften, der Entwicklungsplanung, der Bürokratie und der Kulturpolitik
spielen bis heute einander die Karten zu, wenn es darum geht, ein einheitliches
Modell der sozialen Organisation, des kollektiven Verhaltens und der Mentalität zu
schaffen.31
Folgt man der Unterscheidung von Nationen, wonach Nationen entweder auf der
Grundlage eines demos‘ oder eines ethnos‘ konstruiert werden32, gilt für die
lateinamerikanischen Staatsnationen, daß sie auf einem demos, einer gemeinsamen
30
Ette, Lateinamerika und Europa 14.
Die staatlichen Einrichtungen sind maßgeblich in repressiver Form gegen den machtlosen Teil des
„Staatsvolk“ - Indios, Marginalisierte, Bauern - gerichtet. An vielen Beispielen, unter denen die jüngsten
Machenschaften des Salinas-Clans ebenso zu nennen wären wie jene des Agro-Imperiums von George Soros in
Argentinien, kann gezeigt werden, daß die Machtkonzentration in Lateinamerika nicht vom Staat ausgeht, auch
wenn dies von der Mehrheit der Bevölkerung so empfunden wird. Eine interessante Arbeit dazu kommt zum
Schluß, daß auch der Hang zum Autoritarismus in Lateinamerika mit der mäßigen Relevanz des Staates als
Machtzentrum in Verbindung zu sehen ist. Roberto Varela, Expansión de sistemas y relaciones de poder
(México D.F. 1984).
31
11
Willensäußerung gründen. Das Staatsvolk geht einen Gesellschaftsvertrag ein. Im
Gegensatz zur Nationskonstruktion, die auf einen gemeinsamen ethnos rekurriert,
wird mit der Definition der Nation gemäß der Staatszugehörigkeit und nach dem
Vertragsmodell, die Möglichkeit, sich eventuell in der Zuordnung zu verändern,
offengelassen und vielleicht sogar anerkannt. Allerdings müßte genau erklärt werden,
von wem, für wen und v.a. ohne wen dieser Vertrag geschlossen wurde. Es würde
verständlich, daß es innerhalb der „vorgestellten Gemeinschaft“33 gesellschaftliche
Gruppen gibt, die festlegen, was das Staatsvolk ausmacht und v.a. wie die noch nicht
ganz dem Staatsvolk entsprechenden Personen und Gruppen in die Nation zu
integrieren wären. Das moderne „wir“, das solcher Art konstruiert wird, ist
undifferenziert und vereinnahmt. Wer „wir“ sein sollen, bestimmen die Sprecher. Wen
diese Sprecher nicht nennen, verbannen sie zu „denen“. So leiteten die Interpreten
des modernismo ihre Repräsentation nicht vom eigenen Kontext in Lateinamerika ab,
sondern von der eurozentrischen (Schrift)Kultur, die sie als Rechtfertigung für ihren
persönlichen „Zivilisationsgrad“ im Banner gegen die imperialistischen Übergriffe der
USA führten. Sie entwarfen eine Mischung aus Zugehörigkeit und Abgrenzung
gegenüber Europa.34 Der Blick auf die eigenen historischen, sozialen und politischen
Umstände blieb aber konsequent versperrt.
Es waren die Indios, die in diesem im Diskurs ins semantische „ihr“ gedrängt wurden.
Ihre Version der Geschichte, ihre Selbstdarstellungen und ihre kulturellen
Besonderheiten fielen der Konstruktion vom „mestizischen Staatsvolk“ oder einer
angeblichen „Universalität der Lateinamerikaner“ zum Opfer.35 Die Kriterien von
Identität, die von indianischer Seite vorgebracht wurden, konnten in den
entsprechenden Verallgemeinerungen übersehen werden. Nationale Identität wurde
im Singular gedacht und gedeutet und vermag bis heute, nicht einmal Ethnizität zu
fassen.36 Vor diesem Hintergrund interessiert zunächst nicht die Beantwortung der
32
Siehe Lothar Döhn, Nationalismus – Nation und Volk als ideologisches Konstrukt. In: Franz Neumann (ed.),
Handbuch politischer Theorien und Ideologien (Bd 2 Opladen 1996) 389-444 hier 424-431.
33
Definition von Nation nach Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen
Konzepts (Frankfurt am Main/ New York 1993) 15.
34
Damit hören ihre Aussagen aber nicht auf, als europäisches Echo in Amerika zu funktionieren. Siehe diese
These ausführlich bei Edmundo O’Gorman, La invención de América (México D.F. 31984).
35
Siehe die Beiträge in Zea et al. (eds.), Identidad latinoamericana.
36
Der Ethnizitätsansatz erinnert daran, daß Werte oder soziale Praktiken, die wir heute in indianischen
Gemeinschaften feststellen, Antworten auf konkrete historische Erfahrungen sind. Sie sind also nicht minder
dynamisch als etwa feministische emanzipationsorientierte Identitätsentwürfe. Siehe zur Diskussion, wie sie
noch in den achtziger Jahren geführt wurde: Fernando Cámera Barbachano, Los conceptos de identidad y
etnicidad. In: América Indígena 46/ 3(=Identidad, etnicidad e indigenismo México D.F. 1986) 597-618 oder Kay
12
Frage nach einer Identität Lateinamerikas, sondern die Frage nach einem
gemeinsamen „unseren Amerika“ als solche. Sie läßt sich in drei weitere unterteilen:
a. Wer waren in Lateinamerika die Sprecher für eine gemeinsame Identität?
b. Gegen wen wurde der lateinamerikanische modernismo ins Treffen geführt?
c. Wen schließt diese Modernität aus?
I.2.a. Wer waren in Lateinamerika die Sprecher für eine gemeinsame Identität?
Mit der Konsolidierung der sogenannten Liberalen Republiken in Lateinamerika im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann eine rapide, weitgehend vom Ausland
finanzierte wirtschaftliche Modernisierung. Die Frage, ob in Lateinamerika trotz der
wirtschaftlichen Umklammerung durch die USA, eine kulturelle Eigenständigkeit in
Anspruch genommen werden könne, tauchte explizit auf. Die ästhetische,
philosophische
und
kulturelle
Kritik
der
wirtschaftlichen
und
politischen
Transformationen lag zu diesem Zeitpunkt in den Händen von Schriftstellern.
Literaten wie Ruben Darío, José Martí oder José Enrique Rodó37 steckten kulturelle
B. Warren, The Symbolism of Suordination. Indian Identity in a Guatemalean Town (Austin 21989) 4: „Indians
have not retained a seperate culture: Instead, ethnicity has been very much the product of the interplay of Indians
and non-Indians responses to colonially created cultural identities as they are embedded in national systems of
ideology, economics, and politics.“
In der Diskussion um Ethnizität hat sich aber auch gezeigt, daß die indianischen Vorstellungen von ihrer
kulturellen Identität im Wesen mit den modernen Konstruktionen unvereinbar bleiben, weil letztere die
Assimilation der indianischen Kulturen notwendig einfordern. Siehe eine der ersten Publikationen dazu Walter
Dostal (ed), Die Situation der Indios in Südamerika. Grundlagen der interethnischen Konflikte der nichtandinen
Indianer, 3 Bde (Wuppertal 1975). Einen bibliographischen Überblick siehe: Birigit Scharlau – Mark Münzel –
Karsten Garscha (eds), Kulturelle Heterogenität in Lateinamerika. Bibliographie mit Kommentaren (=Frankfuter
Beiträge zu Lateinamerikanistik 4, Frankfurt 1991). Aktuell und qualitativ neu siehe Federique Appfel Marglin
(ed.), Production or Regenerating. An Andean Perspective on the Modern West (London 1997). Siehe auch
Marcos, Botschaften aus dem lakandonischen Urwald. Über den zapatistischen Aufstand in Mexiko.
Communiqués, Briefe, Texte (Hamburg 1996). Zur Theorie u.a.: Dominique Temple, Estructura comunitaria y
reciprocidad. Del quid-pro-quo histórico al economicidio (La Paz Bolivia 1989). Carlos Guzmán Böckler, Hört
das Echo des Schweigens und Martina Kaller, Globale Entwicklung in lokalen Kulturen. Über eine
Unmöglichkeit am Beispiel der Mayas in Guatemala. Beide In: Fridolin Birk (ed.), Guatemala – Ende ohne
Aufbruch, Aufbruch ohne Ende? (Frankfurt am Main 1995) 19-44 und 57-66.
37
Der nicaraguanische Dichter Ruben Darío (1867-1916) war bereits zu Lebzeiten anerkannt. Seine
umfangreichen journalistischen Tätigkeiten führten ihn in andere lateinamerikanische Länder. Der Freundschaft
mit dem kolumbianischen Dichter und Expräsidenten Rafael Núñez verdankte er 1883 die Ernennung zum
Konsul von Kolumbien in Buenos Aires. Sein Weg dorthin führte ihn über New York, wo er José Martí
kennenlernte. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Paris kehrte er 1893 als Korrespondent der argentinischen
Zeitung „La Nación“ nach Europa zurück, wo er u.a. die spanisch-sprachige Zeitschrift „Mundial Magazine“
gründete. Ruben Darío veröffentlichte seine Gedichte und Kurzprosa in verschiedenen lateinamerikanischen
Zeitungen. Zu seinen Lebzeiten erschienen in Buchform Azul 1888, Prosas profanas y otros poemas 1896 und
Cantos de vida y esperanza 1905. Eine aktuelle deutsche Teilsammlung seines Gesamtwerks erschien 1989 unter
dem Titel: Das Colloquium der Zentauren. In spanischer Sprache siehe die Anthologie: Rubén Darío, El
modernismo y otros ensayos (=Selección, prólogo y notas de Iris M. Zavala, Madrid 1989).
13
Projekte ab, die von den Fragen einer persönlichen, nationalen oder kulturellen
Identität ausgingen und dabei stets eine totalisierende Perspektive einnahmen.
Der Nicaraguaner Rubén Darío begründete die zunächst literaturästhetische
Bewegung des modernismo, die über mehrere Jahrzehnte das Geistesleben der
gesamten spanisch-sprachigen Welt bestimmte. Er verband mit modernismo die
Suche nach einer authentischen poetischen Sprache. Der Ausdruck und damit der
Inhalt von moderner lateinamerikanischer Literatur und Kulturkritik sollte von
neoklassischen und romantischen Klischees befreit werden. Gleichzeitig galt es, sich
gegen das herrschende positivistische Erkenntnisprinzip und den künstlerischen
Naturalismus zu stellen. Was dabei herauskam, wurde als moderne Identität
Lateinamerikas definiert. Die Kernaussagen von Daríos modernismo-Theorie sind
Subjektivierung und ein Eintreten für die Universalität von Kultur. Er erteilte damit
partikularistischen Tendenzen eine klare Absage.
Für José Martí dient Literatur einer guten Sache und erfüllt den praktischen Zweck,
die Gesellschaft durch moralische Reflexion zu „verbessern“ und die ethische Pflicht
zur Befreiung wach zu halten. Obwohl Martís wichtigstes Anliegen dem kubanischen
Befreiungskampf
galt,
in
dem
er
auch
sein
Leben
ließ,
blieb
seine
Auseinandersetzung mit den Vereinigten Staaten von Amerika als die berühmteste
Schrift des jung verstorbenen Revolutionärs im Gedächtnis. Nuestra América lautet
Der Sohn eines spanischen Einwanderers Jose Martí (1853-1895) kämpfte sein Leben lang meist aus dem Exil
in Mexiko, Guatemala oder den USA für die Befreiung seiner Heimat Kuba. 1880 gründete er in New York das
kubanische Revolutionskomitee und widmete sich in den folgenden Jahren auf Reisen und als Korrespondent
einiger wichtiger Zeitungen Lateinamerikas und als Herausgeber von Zeitschriften – besonders „Patria“ ab 1892
– der Vorbereitung der kubanischen Befreiung. 1895 landete er mit General Máximo Gómez in Kuba, wo der
bewaffnete Aufstand bereits ausgebrochen war. In einem Gefecht wurde er tödlich verwundet. Martí
literarisches und journalistisches Werk ist nicht voneinander zu trennen, genauso wie beide ohne sein politischsoziales Engagement zu berücksichtigen unverständlich blieben. Der heute in ganz Lateinamerika als escritor
revolucionario viel rezipierte Martí zeigte in seiner Lyrik ab 1880 seine Hinwendung zum modernismo als
stilistische Form, den er in seiner Prosa auch als adequaten Inhalt für „nuestra América“ definierte.
Zusammenfassung seiner wichtigsten politischen Texte, welche u.a. die komplette Fassung von „Nuestra
América“ enthält: José Martí, Política de nuestra América (México D.F. 1977).
José Enrique Rodó (1871-1917) hatte als kulturphilosophischer Essayist und Literaturkritiker einen ähnlich
starken Einfluß auf das gesamte hispanoamerikanische Kulturleben ausgeübt wie Ruben Darío. Der ehemalige
Bankangestellte und Journalist brachte es zwischen 1902-1914 zum konservativen Parlamentarier in Uruguay. In
diesem Lichte kann auch die bereits in den 20ger Jahren einsetzende heftige Kritik an seinem Werk gelesen
werden, die Darío oder Martí aufgrund ihrer revolutionären Gesinnung weitgehend erspart geblieben war. Rodós
realitätsferner Idealismus und sein aristokratischer Kulturbegriff bildeten die Hauptangriffspunkte, wenngleich
seine Position von jener der beiden anderen modernistas kaum zu unterscheiden ist. Dies bemerkten bereits die
Arielsiten, indem sie Martís, Darios und Rodos Werk als eine gemeinsame Richtung rezipierten. Ich räume
allerdings ein - auch wenn die vielen inhaltlichen Ähnlichkeiten eine gemeinsame Beurteilung der drei
14
der Titel der erstmals 1891 in der mexikanischen Zeitung „El Partido liberal“
erschienenen Streitschrift. Der Autor hebt darin die historischen Leistungen der USA
hervor, betont jedoch, daß er lange genug „im Bauch des Ungeheuers“ gelebt habe,
um dessen Niedergang wahrzunehmen. Martí warnt eindringlich vor der Habgier und
dem „Überwertigkeitsgefühl der angelsächsischen Rasse“. Der spanisch-kubanische
Krieg von 1898 bescherte den USA mit dem splendid little war38, den ersten Triumph
in der Karibik. Der Schriftsteller, der auf der Seite der bewaffneten Kubaner gekämpft
hatte, fand seine These vom ungezügelten Imperialismus der USA bestätigt. Martís
Modernität war eine politisch aufgeklärte. Er kämpfte gegen Elend, Rassismus,
Fremdbestimmung und vor allem gegen nationale Unterdrückung. Der Autor von
Nuestra América zeichnet jenes Bild von der barbarischen, habgierigen und
korrupten „angelsächsischen Rasse“, das die Auseinandersetzung mit der eigenen
lateinamerikanischen Identität am Subkontinent mehrere Jahrzehnte lang prägen
sollte. In Martís antiimperialistischer Haltung erwies sich der modernismo in seiner
politischen Bedeutung. Zwei Botschaften wurden transportiert: Erstens, daß ein
politisch eigenständiges Lateinamerika nicht der Mission aus dem Norden bedürfe.
Und zweitens konterten die lateinamerikanischen modernistas, daß Modernität nicht
nur das eine US-amerikanische Gesicht habe. Eine am wirtschaftlichen Erfolg
meßbare Moderne, die alles, was nicht in die eine Zivilisation paßt, zur
missionsbedürftigen Barbarei erklärt, wurde zurückgewiesen.
I. 2.b. Gegen wen wurde der lateinamerikanische modernismo ins Treffen
geführt?
Daraus erklärt sich, daß die modernistischen Versionen einer lateinamerikanischen
Identität klar gegen den kulturellen Einfluß der USA gerichtet waren. Bis heute
genannten modernistas rechtfertigen - daß besonders die monotone Perfektion von Rodos Stil weit hinter das
literarische Vermögen seiner Kollegen Darío und Martí zurück fällt.
38
Die US-amerikanische Geschichtsschreibung spricht vom „Spanisch-amerikanischen Krieg von 1898“. Er
dauerte ganze 113 Tage und hat die USA, abgesehen von den gefallenen Soldaten, nicht viel gekostet. Kuba
erlangte in diesem Krieg, den es gegen die spanische Besatzung angezettelt hatte, zwar seine formelle
Unabhängigkeit wurde aber aufgrund der Beihilfe aus dem Norden unter die Oberaufsicht von Washington
gestellt. Das sogenannte Platt-Amendment, das in der kubanischen Verfassung verankert werden mußte, sicherte
den USA ein uneingeschränktes Interventionsrecht. Dieses Abkommen wurde 1934 im Zeichen von Rossevelts
„Politik der guten Nachbarschaft“ aufgehoben. Der Marinestützpunkt Guantánamo im Südosten der Insel, den
die USA in der Folge des Kriegs von 1898 „auf ewige Zeiten“ zugesprochen erhalten hatten, ist noch heute in
US-amerikanischem Besitz. Siehe ausführlicher Niess, Koloß 93-120 und die Monographie: Frank Niess, Kuba
(München/ Zürich 1991).
15
werden in diesem Sinne die antiimperialistischen Forderungen der modernismoDiskussion und ihre spezifische Kritik am american way of life in vielen Varianten
wiederholt.39 Neben dieser Auseinandersetzung wurden auch jene politischen und
gesellschaftlichen Kräfte kritisiert, die den erfolgreichen Modernisierungsweg der
„América Británica“ imitierten. Die Suche nach einer adaptablen politischen Form
schwankte im Lateinamerika der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der
politisch-legistischen Ebene zwischen der Abkehr vom spanischen Erbe und der
Zuwendung zum US-amerikanischen Modell. Letztlich kam es zu einer ideologischen
Annäherung an den „angelsächsischen Amerikanismus“. Allerdings verzichteten die
Regierungen in Lateinamerika bei ihrer Interpretation von Modernisierung durchwegs
auf demokratische Volksentscheide.40 Die Polarisierung, die sich etwa in Mexiko
zwischen den beiden Konzepten ergab, mündete im Porfiriat41, einer klassischen
Diktatur der aufstrebenden Exportoligarchie.
Die Frage nach einer modernen Identität lateinamerikanischer Prägung wurde indes
weiter debattiert, wobei der politische Antiimperialismus der modernismo-Bewegung
auch auf einer kulturphilosophischen Ebene verfolgt wurde. Letztere bestimmte
nachhaltig ein Interpret aus der La-Plata-Region: Der uruguayische Literaturprofessor
José Enrique Rodó stellte die in Argentinien auf den Einfluß des französischen
Intellektuellen Paul Groussac42 zurückgehende, dichotome Zeichnung eines
materialistischen, angelsächsischen Amerikas gegenüber einer sich ethisch und
ästhetisch manifestierenden lateinamerikanischen Spiritualität in den Mittelpunkt
39
Theoretisch brachte diese Debatte nach José Martí nichts Neues. Zu einigen regionalen Tendenzen und
zeitgenössischen Autoren Martís siehe Instituto Panamericano de Geografía e Historia – Comisión de Historia,
El pensamiento latinomaericano en el siglo XIX (México D.F. 1986). Einen kurzen Überblick siehe Oscar
Terán, El primer antiimperialismo. In: Zea et al. (eds.), Identitdad latinomaericana 89-110. Die wohl
berühmteste antiimerperialistische Identitätskonstruktion für Lateinamerika schrieb Eduardo Galeano , Die
offenen Adern Lateinamerikas (Wuppertal 21981).
40
Am Beispiel Guatemalas haben wir diesen Prozeß als Integration eines peripheren Staates ins Weltsystem
nachgezeichnet: Markus Brunner - Wolfgang Dietrich - Martina Kaller, Projekt Guatemala. Vorder- und
Hintergründe der österreichischen Wahrnehmung eines zentralamerikanischen Landes (Frankfurt am Main
1993).
41
In den Jahren 1876-1910 errichtete General Porfirio Díaz unter den Leitlinien „weniger Politik, viel
Verwaltung“ sowie „Ordnung und Fortschritt“ den Prototyp moderner Entwicklungsdiktaturen ein. Im
sogenannten Porfiriat wurde mit Auslandskapital die wirtschaftliche Modernisierung des Landes
vorangetrieben. Fast zwei Drittel der mexikanischen Investitionen wurden zwischen 1900-1910 vom Ausland
finanziert. Insbesondere gerieten die dynamischen Wirtschaftszweige unter ausländische Kontrolle. Rund 90%
aller Minen und rund 80% der Erdöllagerstätten befanden sich am Vorabend der mexikanischen Revolution in
US-amerikanischem Besitz. Siehe dazu den Klassiker von Moisés González Navarro, La colonización en
México 1877-1910 (México D.F. 1960).
16
seines Essays Ariel.
43
Diese, ihr französisches Vorbild transzendierende
Streitschrift44 für einen „iberischen Amerikanismus“45 erschien im Jahr 1900 zum
ersten Mal. Der Essay wurde zunächst in Spanien mit großer Begeisterung
aufgenommen. Er bestimmte bis in die dreißiger Jahre die Definition der
„nordomanía“, sprich der Imitation der USA in Lateinamerika. Nachdrücklich warnte
der Autor vor der „Vision eines entlatinisierten Amerikas“46 und erreichte damit die bis
heute lebhafte Rezeption seines Werkes.47 Im Rückgriff auf Shakespeares Drama
„Der Sturm“ typisiert Rodó seinen Ariel als die „Anmut der Vernunft“, die
ästhetizistische Moral Lateinamerikas. Das in Calibán dargestellte Gegenprinzip wird
in einer differenzierten Kritik am Utilitarismus der USA und zugleich am
Voluntarismus der - allerdings klischeehaft ausgelegten - Philosophie Nietzsches
erörtert.
Rodó und seine Nachfolger, die Arielisten entwarfen eine auf die Überlegenheit der
ethischen und religiösen Werte Lateinamerikas gestützte Idee von der eigenen
Zukunft und somit einer dynamischen lateinamerikanischen Identität. In der kreativen
Aneignung utopistischer Denktraditionen aus Europa wandte sich schon Rodó in der
Figur des Lehrers Próspero an die Jugend Amerikas. Darin blieben die Arielisten
dem Uruguayer treu. Als Zeitgenossen wehrten sie sich aber nicht gegen die
Diktaturen in ihren Ländern, sondern bevorzugten es, eine ideale Zukunft herbei zu
sinnieren. Sie kompensierten intellektuell, daß sie die totalitären und autoritären
Regimes in Lateinamerika politisch nicht bekämpften.
42
Emir Rodríguez Monegal, Ariel versus Calibán: Latinismo versus sajonismo. In: La latinidad y su sentido
219-231, hier 221 beurteilt Groussac, der wie Rubén Darío für die prominente Zeitung „La Nación“ geschrieben
hatte, in seiner zentralen Rolle für das Geistesleben in der La-Plata-Region als „dictador literario“.
43
José Enrique Rodó, Ariel (Montevideo 1900). In deutscher Fassung übersetzt und herausgegeben von Ottmar
Ette: José Enrique Rodó, Ariel (Mainz 1994).
44
Ernest Renán, Calibán (Paris 1878). Renan schrieb seinen Calibán als politische Polemik nach dem Sturz von
Napoleon III und als Reaktion gegen ein demokratisches System, das Exzesse erlaubt und nährt, wie sie in der
Kommune von Paris 1871 stattgefunden hatten.
45
Rodó bevorzugte wie Martí den Ausdruck Nuestra América oder die Bezeichnung Iberoamerika.
46
José Enrique Rodó, Ariel (Mainz 1994) 137: „Viele, die ein aufrichtiges Interesse an unserer Zukunft haben,
träumen bereits von der Vision eines entlatinisierten Amerika, das eine solche Entwicklung aus eigenem Antrieb
vollzieht und sich – ohne durch eine Eroberung erpreßt worden zu sein – am Urbild des Nordens ausrichtet und
stärkt; diese Vision mehrt den Genuß, mit dem sich auf Schritt und Tritt die beeindruckensten Parallelen ziehen,
und äußert sich in unablässig vorgebrachten Vorschlägen für Erneuerungen und Reformen. Wir haben unsere
Nordomanie. Es ist an der Zeit, sie in die Schranken zu weisen, die Vernunft und Gefühl ihr gemeinsam setzen.“
47
Hervorheben möchte ich den Klassiker des durch die kubanische Revolution politisierten Boomautors: Mario
Benedetti, Genio y figura de José Enrique Rodó (Buenos Aires 1966).
17
I. 2.c. Wen schließt diese Modernität aus?
Die intensive Beschäftigung mit dem coloso del norte,48 dem Koloß im Norden,
welcher die Eigenständigkeit und Entwicklungsfähigkeit Lateinamerikas einschränkt
und hintertreibt, übersah und übersieht konsequent jene Menschen und Völker,
deren Wurzeln nicht in einer, wie immer definierten, europäischen Tradition und
Zukunft Platz finden. Ihre historischen und kulturellen Differenzen wurden auf
legislativer Ebene durch Gleichstellung formal abschafft: In Mexiko wurde mit dem
Ley Lerdo von 1857 zwar die katholische Kirche als größte Landbesitzerin enteignet,
aber
auch
der
kommunale,
indianische
Gemeinbesitz
fiel
unter
die
Desamortisationsverordnung und konnte in der Folge von kapitalkräftigen in- und
ausländischen Unternehmern günstig vom Staat erworben werden.49 Die im
kolonialen Status tutelär geschützten indianischen Dorfgemeinschaften waren um
ihre Existenzgrundlage gebracht worden und standen der massiv anwachsenden
agrarischen
Produktion
als
proletarisierte
Arbeitskräfte
zur
Verfügung.
Die
Desamortisation der indianischen comunidades50 wird heute als wesentliche Ursache
für die Bauernerhebung unter Emiliano Zapata im Jahr 1911, mit der die Revolución
del Sur, also die agrarische Stoßrichtung der Mexikanischen Revolution begann,
beurteilt.51 Was allerdings bei der vorwiegend wirtschaftlichen Argumentation über die
48
Eine Bezeichnung für die USA, welche der kubanische Dichter und Freiheitskämpfer José Martí geprägt hat.
Siehe einführend Charles A. Hale, Mexican Liberalism in the Age of Mora 1821-1853 (New Haven 1968) zur
Verfassung von 1857 Lilia Díaz, El liberalismo militante. In: El Colegio de México (eds.), Historia general de
México 819-896, hier 833-836.
50
Comunidad = eine Dorfgemeinschaft eigener Rechtspersönlichkeit mit eigener rechtlich-sozialer und religiöshieraricher Struktur (cargo-System). Zur Definition ausführlich Veronika Bennholdt-Thomsen Zur Bestimmung
des Indio. Die soziale, ökonomische und kulturelle Stellung der Indios in Mexiko (=Indiana; Beiheft 6 Berlin
1976) 42-89.
51
Die Mexikanische Revolution wird von Hans Werner Tobler, Die mexikanische Revolution.
Gesellschaftlicher Wandel und politischer Umbruch 1876-1940 (Frankfurt am Main 1984) in das Jahrzehnt des
revolutionären Bürgerkriegs von 1910-1920 (Revolución del Norte und Revolución del Sur) und die
darauffolgende Phase der staatsrevolutionären Stabilisierung und gesellschaftlichen Reformpolitik zwischen
1920 und 1940 unterteilt. Der Schweizer Historiker schließt sich jener Periodisierung an, die von den
HistorikerInnen am Colegio de México vorgeschlagen wurde: Siehe El Colegio de México (eds), Historia
general de México (2 Bde México D.F.1976, hier verwendete Fassung 51986). Tobler erkennt in der
Agrarentwicklung während des Porfiriats einen der zwei zentralen Krisenherde, die sich zwischen 1876 und
1911 in Mexiko entwickelt hatten und zur Revolution führten. Er folgt damit jener Deutung der Mexikanischen
Revolution, welche die agrarische Stoßrichtung betont, wie dies Alan Knight, The Mexican Revolution (2 Bde
Cambridge 1986) tut und nicht die These von der nationalen Befreiungsrevolution, dies z.B.: John M. Hart,
Revolutionary Mexio. The Coming and Process of the Mexican Revolution (Berkeley 1987) strapaziert. Die
technische und wirtschaftliche Modernisierung besonders der exportorientierten Bereiche der Landwirtschaft
verlief sozial ausgesprochen repressiv: „Die politisch und gesellschaftlich mächtigen Großgrundbesitzer dehnten
nämlich ihre Güter angesichts verbesserter Marktchancen in den Bereich dörflichen Kleinbesitzes aus, wodurch
viele Kleinbauern ihren angestammten Grund und Boden verloren; Pächter wurden auf den Status von
Halbpächtern herabgedrückt; ein allgemeiner ländlicher Marginalisierungs- und Proletarisierungsprozeß setzte
49
18
Konsequenzen des Ley Lerdo weniger betont wird, ist die damit sanktionierte,
massive Einschränkung der indianischen Kleinbauern, ihre Lebensformen, das heißt
ihre Kultur, auf lokaler Ebene weiterhin in eigener Regie zu gestalten.
Die Indios wurden im positivistischen indigenismo52, der ideologischen Rechtfertigung
des liberalen Modernisierungsprojekts, nicht mehr in ihrer prinzipiell eigenständigen
Identität wahrgenommen. Vielmehr gelten sie bis heute als die Negation der
modernen Wünsche von Entwicklung und als das traditionelle Element der
lateinamerikanischen
homogenisierenden
Kultur
und
Projektionen
als
von
Hemmnis
Modernität
für
den
waren
-
Fortschritt.
Die
weit
ihre
über
positivistische Legitimationen hinaus - in Mexiko wie auch in anderen Ländern
Lateinamerikas53 bestrebt, sich von den Indios als denen sin razón, also denen „ohne
Verstand“, abzugrenzen. Das Ziel dahinter ist leicht zu erkennen: Die lebenden
Indios sollten im Gegensatz zu ihren museal und folkloristisch verwertbaren
historischen Vorfahren, in ihrer eigenständigen Vielfalt nicht mehr wahrgenommen
werden können. In der jüngeren sozialanthropologischen Debatte in Mexiko wird
dieses Phänomen als „statistischer Genozid“ beziehungsweise als „Prozeß der
Desindanisierung“
der
Gesellschaften
Lateinamerikas
bezeichnet.54
Die
ein, der überall dort besonders brisante gesellschaftliche Konsequenzen zeitigte, wo die verstärkte
Modernisierung und Kommerzialisierung der Landwirtschaft auf eine dichte, traditionsbewußte und in
selbständigen Dörfern lebende Kleinbauernschaft traf." Hans Werner Tobler, Mexiko auf dem Weg ins 20.
Jahrhundert. Die Revolution und die Folgen. In: Dietrich Brisemeister - Klaus Zimmerman (eds.), Mexiko heute.
Politik, Wirtschaft, Kultur (= Bibliotheca Ibero-Americana 43, Frankfurt am Main 1992) 11-32, hier 13.
52
Luis Villoro zeigt in seiner umfassenden Analyse über den indigenismo in Mexiko – Luis Villoro, Los
grandes momentos del indigenismo en México. (México D.F. 31984) - daß das Bild vom vernünftigen,
modernen und damit mündigen Mexiko, die Existenz dieser Version widersprechender kultureller
Ausdrucksformen nicht duldete. Alles, was sich der Vernunft der universalen Zivilisation widersetzte, blieb in
den Darstellungen der positivistischen Kulturtheoretiker marginal und nebensächlich. Über Orozco y Berras
1880 veröffentlichte Geschichte des antiken und kolonialen Mexikos in drei Bänden, Maunel Orozco y Berra,
Historia antigua y de la conquista de México (Ciudad de México 1880), etwa befindet Villoro, daß die
indianische Welt wird unter diesem Blickwinkel zu einem „toten wissenschaftlichen Objekt atomisiert“ wird.
Villoro, Indigenismo en México 162: „Su admiración ante lo azteca será desapasionada, enteramente similar al
la que un sabio australiano pudiera experimentar ante las maravillas del Nilo o de la India. Admiración tan
curiosamente desprendida de sus objeto, tan pendiente y danzante en el aire, que se nos antojería poder subsistir
aunque su objeto cambiase y en vez de nahoa fuere armenio, o aunque su mismo sujeto se trastrocase de
americano en alemán o persa.“ 167: „...se ha atomizado en un objeto muerto de ciencia.“
53
Zusammenfassend die Sammelrezension zu den neueren kulturtheoretischen Arbeiten in und über
Lateinamerika: Ottmar Ette, ¿Heterogenidad cultural y homogenidad teórica? Los „nuevos teóricos culturales“ y
otros aportes a los estudios sobre la cultura en América Latina In: Notas. Reseñas iberoamericanas. Literatura,
sociedad, historia 3 (1996) 1 (7) 2-17.
54
Siehe z.B. die Mitglieder des von Guillermo Bonfil Batalla gegründeten Seminars zu Estudios de la Cultura
del Consejo Nacional para la Cultura y las Artes: Elba Gigante, Francisco Navarro, Guillermo de la Pe~a, José
del Val Blanco, Esther R. de la Herrán, Néstor García Cancilini, Jorge González, Gilberto Giménez, Esteban
Krotz, Héctor Rosales, José M Valenzuela, Enrique Valencia. Auflistung In: Bonfil Batalla (ed.) Nuevos
modelos de relaciones interculturales, Impressum.
19
Desindianisierung erstickt jede Forderung nach Entkolonialisierung in Lateinamerika
im Keim. Das Verhältnis der criollos55, der Nachfahren der europäischen
Einwanderer, zu den Indios wurde weder thematisiert noch revidiert, weil eine
kulturelle Eigenständigkeit von Indios gar nicht in Erwägung gezogen wurde.
Auch heute gelten in Mexiko die Indios immer noch nichts. Sie sind nach wie vor
nicht „’jemand’ sondern meist ‘etwas’, nämlich ein Problem“, bringt Esteban Krotz die
Sache auf den Punkt.56 Ihr offensichtliches Anderssein, ihre nicht nur oberflächliche
Andersheit macht sie zu Zaungästen des modernen Projekts, denn „die moderne
Welt scheint ihre Sache nicht zu sein. Sie haben eine andere Kultur als die
herrschende, die der Herrschenden. Für letztere ist indianische Kultur eigentlich
keine rechte Kultur, sie ist bestenfalls Folklore, Rest einer untergehenden Welt,
anachronische Randerscheinung der modernen, der zukunftsträchtigen Welt.“57
Ausschließlich
letzterer
galt
aber
das
Interesse
des
modernismo.
Seine
Anpassungsfähigkeit zeigte er auch im Kleid nationalistischer Diskurse wie der seit
der
Mexikanischen
Revolution
mexikanischen Staatsvolkes.
proklamierten
mestizischen
Identität
des
58
Die politisch und intellektuell oktroyierte Idee von der mestizischen Einheit herrschte
in Mexiko bis in den postrevolutionären, mexikanischen Identitätsdiskurs hinein, den
Octavio Paz prominent repräsentiert. Im „Labyrinth der Einsamkeit“ aus 1950
benannte er die angeblich typischen psychokulturellen Merkmale „des Mexikaners“.59
55
Als criollos bezeichneten sich während der Colonia die Nachfahren der europäischen Einwanderer. In
Mesoamerika ist dieser Begriff noch heute gebräuchlich. Zur historischen Begründung der Heimat- und
Kulturlosigkeit der criollos siehe den nicht nur für die guatemaltekische Entwicklung Klassiker von Severo
Martínez Peláez, La patria del criollo. Ensayo de interpretación de la realidad colonial guatemaltéca (San José
EDUCA 1972).
56
Esteban Krotz, Folklore, Assimilierung, Zivilisationskritik. Zu Lage und Aussichten der lateinamerikanischen
Indiobevölkerung. In: Martina Kaller - Stefanie Reinberg (eds.), 500 Jahre nach der Erfindung Amerikas (=
Sondernummer der Zeitschrift für Lateinamerika Wien 44/45, Wien 1993) 19-33, hier 19.
57
Krotz, Folklore, Assimilierung, Zivilisationskritik 19.
58
Die seit den dreißiger Jahren korporativistisch organisierte Staatspartei legte mit ihrer Definition des
Staatsvolkes ideologisch die mestizische Dominanz fest. Auch in der Erziehungspolitik - siehe für die
deutschsprachige LeserInnen: Eduard Weiss, Schule zwischen Staat und Gesellschaft. Mexiko 1920-1976
(München 1983) - verschleiert, daß sich die rassistische Oligarchie in erster Linie durch ihr „Weiß-Sein“
definiert und daß die indianischen Differenzen im nationalen Profil als „überwindbar“, weil in das nationale
Projekt „integrierbar“ erscheinen.
59
Paz erwähnt „des Mexikaners“ burleske Einstellung zum Tod, seine passive Verschlossenheit, die besondere
Zeiterfahrung, der Konflikt zwischen Sein und Sollen, der seinen Minderwertigkeitskomplex fördere, der
Modernitätsanspruch der Revolution, die für sich eine historische Stunde Null in Anspruch nimmt, der Mythos
vom aztekisch-mexikanischen Heldentum, Gewaltanwendung als Ausdruck von machismo und eine angeblich
20
Der spätere Literaturnobelpreisträger brach aber mit den bis zu diesem Zeitpunkt
üblichen, platten Interpretationen zu „lo mexicano“60, indem er das Motiv der Maske,
hinter der sich das „wirkliche Sein“ der Mexikaner verberge, als zentralen Wesenszug
seiner Landsleute definierte. Hinter der Maske verschwindet nämlich die Erfahrung
der indianischen „Verniemandung“61: „Der Mexikaner verhehlt im Übermaß seine
Leidenschaften - und sich selbst! Aus Furcht vor dem Fremden zieht er sich
zusammen, duckt sich, wird Schatten, Gespenst, Echo. (...) Vielleicht ist dieses
Verhalten eine Erbschaft der Kolonialzeit (...) Die Kolonialzeit ist zwar vorbei, doch
geblieben sind Angst, Mißtrauen und Argwohn.“62 Identität stützt sich auch bei Paz
essentialistisch auf die physische Mestizisierung und eine sich daraus ableitende
„kulturelle Symbiose“ zwischen criollos und Indios. Die Vergangenheit siedelt er im
Mythischen an und kommt zum Schluß, daß das Gefühl der Einsamkeit der Preis für
die Moderne sei. Diesen müßten aber alle Menschen bezahlen. Paz kommt zu dem
Schluß, daß eine Erlösung aus der modernen Einsamkeit über eine universale
Transzendenz führe und nicht über den Entwurf eines eigenständigen kulturellen
Projektes im Rahmen oder außerhalb der Moderne.
Der Brasilianer Darcy Ribeiro faßt den von Paz benannten, letztlich konturenlosen
Zustand ironisch zusammen: „Wir sind die, die nicht mehr sind, was sie waren, ohne
jene geworden zu sein, die wir sein könnten oder wollten. Da wir nicht wissen, wer
wir waren, als wir unschuldig in ihnen [den Indios] waren, wissen wir, nichts über uns
selbst wissend, noch weniger, wer wir sein werden.“63 Ribeiro schildert den
Ausgangspunkt für eine neuerliche Auseinandersetzung mit Sozialidentität, diesmal
allerdings unter der expliziten Berücksichtigung kultureller Alteritäten innerhalb der
Grenzen Lateinamerikas.
eklatante Gleichgültigkeit im sozialen Verhalten. Siehe zusammenfassend Kaller, Identität in der Geschichte 91110.
60
Einen programmatischen Höhepunkt erreichte diese Tendenz in den vierziger Jahren mit den intellektuellen
Peinlichkeiten um die Definition des „typisch Mexikanischen“, „lo mexicano“. Ausführlich siehe Patrick
Romanell, Making of the Mexican Mind. A Study in Recent Mexican Tought 1910-1950 (Lincoln 1952) und:
John Leddy Phelan, México y lo Mexicano. In: The Hispanic American Historical Review (=HAHR) 2 (1956)
36, 309-318. Angeregt von Jorge Portilla, La fenomenología del relajo (México D.F. 1966) setzte in den
siebziger Jahren eine neuerliche Beschäftigung mit einer möglichen, essentialistischen Identitätsbestimmung
„des Mexikaners“ ein, die sozialpsychologisch argumentierte, siehe repräsentativ: Santiago Ramírez, El
mexicano. Psicología de sus motivaciones (México D.F. 1977) und Raúl Béjar Navarro, El mexicano. Aspectos
culturales y psicosociales (Méxio UNAM 1977).
61
Ein Ausdruck, mit dem Paz noch wenig differenziert das vorwegnimmt, was Bonfil Batalla
„Desindianisierung“ nennt.
62
Octavio Paz, Das Labyrinth der Einsamkeit (Frankfurt am Main 1984) 49.
63
Darcy Ribeiro, Wildes Utopia. Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld (Frankfurt am Main 1986) 32.
21
II. Redigieren der Modernitäten am Ende des 20. Jahrhunderts
In meinen Ausführungen bezog ich mich vorwiegend auf mexikanische Autoren und
Ereignisse. Dies sollte auf den folgenden Abschnitt vorbereiten. Die drei, über den
lateinamerikanischen KollegInnenkreis hinaus anerkannten Autoren, deren jüngere
Arbeiten ich vorstellen werde, nehmen für sich das Durcharbeiten der Moderne in
Anspruch, wie es Lyotard ins Auge gefaßt hat: Das „Redigieren einiger
Charakterzüge, welche die Moderne für sich beansprucht hat, vor allem aber ihre
Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit
durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren“64 dient dabei der
Selbstreflexion.
1. Roger Bartra, der marxistische Agrarsoziologe, kritisiert die Modellierung von
kultureller Differenz als klassischen Mythos für Beherrschung im nationsbildenden
Prozeß. Er betont dagegen den Klassenunterschied, der sich auf die Dichotomie
zwischen Herrschaft und Unterdrückung zurückführen ließe.
2. Kulturelle Heterogenität bildet für Bonfil Batalla die kontrastierende Konstante
zweier von Grund auf verschiedener Zivilisationen in Mexiko - eine kulturelle
Differenz, die unauflöslich besteht. Das Verhältnis der „imaginären“ zur
„profunden Zivilisation“ muß aber neu bestimmt werden. Der renommierte,
mexikanische Sozialanthropologe forderte konsequent einen Entkolonisierungsund einen Entkolonialisierungsprozeß in Mexiko, ohne diese Begriffe allerdings zu
strapazieren.
3. Gustavo Esteva, der Ökonom und international anerkannte Entwicklungskritiker,
erkennt nicht nur in der „profunden“ Zivilisation Mexikos bislang unbeachtete
Identitäten. Er stellt sich auf die Wahrnehmungsebene des wachsenden Heers
der Marginalisierten und benennt wie sie die Möglichkeiten, jenseits der
modernen Schablonen die vermeintlich universalen Paradigmen einer - zumindest
in Mexiko - gescheiterten Moderne zu verlassen.
64
Jean-François Lyotard, Die Moderne redigieren. In: Welsch (ed.), Wege aus der Moderne 204-214, hier 213.
22
II. 1. Differenz als Mythos der Beherrschung
Das Andere ist für Roger Bartra ein konstruierter Mythos, notwendig für die
Aufrechterhaltung des herrschenden politischen Systems in Mexiko. Nicht mehr der
Versuch, ein gemeinsames „wir“ zu formulieren, leitet die Debatte um „Identität und
Metamorphose des Mexikaners“, so der Untertitel seines Essays La jaula de la
melancolía, sondern in der Frage nach Identität selbst erweist sich für Bartra die
herrschende Ordnung. Seine Kritik steht der klassischen linken Kritik in
Lateinamerika näher65, als dem von ihm selbst proklamierten „typisch postmodernen
oder dismodernen Ausgangspunkt.“66 Bartra wählt den Begriff desmodernidad, weil
dieser vermitteln soll, daß gewisse Spannungen, die durch die Moderne verursacht
wurden, in einem postmodernen Denkansatz aufgelöst werden könnten.67 Im Grunde
können Bartras Ausführungen aber trotz seiner Modernitätskritik, die eigentlich eine
Kritik am Kapitalismus ist, als modernisierungsorientierte Emanzipationskonzepte
beurteilt werden.
Der mexikanische Staat, diese „Bestie der politischen Zoologie“68, findet laut Bartra
seinen Ausdruck in den intellektuellen Versuchen, dem Mexikaner - dem
mexikanischen Volk – eine ideologisch konstruierte Identität zu verpassen. Der
Mythos vom mexikanischen „Nationalcharakter“ wurde ahistorisch und ohne
empirische Befunde konstruiert, beklagt Bartra. Er zeigt dies an der spezifischen
Konstruktion von Gegensatzpaaren, welche den postrevolutionären Identitätsdiskurs
bestimmen. Die Spannung zwischen Metamorphose und Melancholie, die zwischen
der Annahme, Mexiko wäre entwicklungsfähig, und der Resignation über das
Scheitern an Entwicklung oszilliert, paraphrasiert er. Dieser Gegensatz spiegelt sich
in weiteren Entsprechungen: Zivilisierte stehen gegen Wilde, Revolution gegen
Unbeweglichkeit, Stadt gegen Land, Arbeiter gegen Bauern und so fort. Für Bartra
65
Der mexikanische Soziologe erkennt Differenzen aber nicht im Blockdenken des Kalten Krieges, sondern als
soziale Differenz innerhalb eines nationalen Projekts.
66
Roger Bartra, La jaula de la melancolía. Identidad y metamorfosis del mexicano (México D.F. 1987) 25 und
26: „Yo, en cambio prefiero tomar como punto de partida la idea típicamente posmoderna o desmoderna según
la cual la ironía se encuentra en el hecho de que no existe una inocente, sublime y dialéctica totalidad.“
67
Bartra, La jaula 26, Fußnote 17: „Posmoderno en el sentido en que lo usan Umberto Eco, Postscript to The
Name of the Rose, Jean- François Lyotard, The Postmodern condition y Frederic Jameson, „El posmodernismo o
la lógica cultural del capitalismo tardío“. A mi me gustan más las reverberaciones del término desmodernidad,
pues denotan una aniquilación de tensiones por exceso de modernidad. En inglés podría denominarse
dismothernism, pero sólo los latinos comprenderían el desmadre implícito en la traducción.“
68
Roger Bartra, La democracia ausente (México D.F. 1986) 35.
23
haben
auch
angebliche
psychokulturelle
Wesenszüge
des
Mexikaners69
„ausschließlich im inneren System der Beherrschung einen Sinn.“70 Sie dienen dem
politischen Apparat Mexikos, der Staatspartei71, und der Aufrechterhaltung eines
undemokratischen
politischen
Systems.
Die
ideologischen
Vorgaben
der
Herrschenden entpuppen sich als Metadiskurs, welcher die Einordnung Mexikos ins
kapitalistische Weltsystem - Bartra spricht von „kapitalistischer Entwicklung“ und dem
„Anschluß Mexikos an die moderne, entwickelte Welt“ - sichern soll. Das
Fortbestehen des Einparteiensystems wird somit abgesichert.
Bartra, der den Käfig der Melancholie, in welchem der angeblich „typische
Mexikaner“ gefangen gehalten wird, deskonstruktivistisch sprengen will, bleibt mit
seiner Diagnose der Melancholie selbst im Käfig gefangen: Die universale
Dichotomie von Herrschaft und Unterdrückung im nationalen Diskurs identifiziert er
als die „tausend Gesichter des Klassenkampfs.“72 Dieser naheliegende Schluß löst
allerdings seinen eigenen Anspruch, den Simulakren des postrevolutionären
Identitätsdiskurses eine eigenständige dismoderne Position gegenüber zu stellen,
nicht ein. Alleine die Erkenntnis, daß die sogenannte nationale Kultur eine Chimäre
des politischen Systems ist, bewirkt nämlich nicht, daß die Mexikaner auch „ihre“
kulturellen Eigenheiten aufgeben. Aus einer präfigurierten Zukunft entlassen, stünden
sie bereits jenseits des mexikanischen Nationalismus‘ und der Uniformierung der
politischen Kultur73, meint Bartra. Mit dieser vagen Verheißung vermittelt er vieles
von jener Stimmung, die sich im Jahr 1987 in der Gründung der PRD74, einer linken
Oppositionspartei, politisch aktualisierte. Bartra legitimierte in seinem Essay indirekt
die Gründung einer echten Oppositionspartei. Im heutigen Lichte beurteilt, waren
69
Bartra bezieht seine Kritik weite Strecken lang auf auf Octavio Paz.
Bartra, La jaula 227: „...sólo tiene sentido en el interior del sistema de dominación.“
71
1929 wurde die Nationale Revolutionspartei (=PNR), als Vorläuferin der 1935 in PRI (=Partido
Revolucionario Institutcional) unbenannten Staatspartei als Kontrollinstrument über die heterogene politische
Führungsgruppe, die familia revolucionaria, gegründet. Siehe Luis Javier Garrido, El partido de la revolución
institucionalizada. La formación del nuevo Estado de México, 1928-1945 (México D.F. 1986). Die
allgegenwärtige Präsenz und Macht der PRI schwindet erst seit den achtziger Jahren. Dazu u.a. Dieter Boris,
Mexiko im Umbruch. Modellfall einer gescheiterten Entwicklungsstrategie (Darmstadt 1996).
72
Bartra, La jaula 234: „Son las mil caras de la lucha des clases“.
73
Bartra, La jaula 241: „Han sido arrojados del paraíso originario, y también han sido expulsados del futuro.
Han perdido su identidad, pero no la deploran: su nuevo mundo es una manzana de discordancias y
contradicciones. Sin haber sido modernos, ahora son desmodernos; ya no se parecen al axolote, son otros, son
diferentes.“
74
Im April 1987 gründete Cuauhtémoc Cárdenas, der Sohn des unumstrittenen mexikanischen Präsidenten
Lázaro Cárdenas (1935-1940), die PRD (=Partido de la Revolución Democrática). Als Kandidat für das
Bürgermeister-Amt der Hauptstadt, verbuchte er mit seinem Sieg am 6.7.1997 für die PRD ihren bis dato
größten politischen Erfolg.
70
24
seine Ausführungen in den Wahlgängen seit 1988 in Mexiko gewiß politischer
Zündstoff, wenn sich auch die mehrheitliche Opposition75 in Mexiko nicht mit dieser
und auch keiner anderen Partei verbündete.
II. 2. Das Ende der kulturellen Homogenität
Die mittlerweile in mehreren Auflagen zugängliche Streitschrift México profundo. Una
civilización negada76 Bonfil Batallas erschien zum ersten Mal 1987, im selben Jahr
also wie Bartras Jaula de la melancolía. Auch Bonfil Batalla schrieb im politischen
Klima der zunehmenden Erosion des politischen Systems in Mexiko. Im Hinblick auf
eine mögliche Reorientierung des Landes fordert er aber, die Grenzen des
okzidentalen Projekts, des „imaginären Mexikos“ zu überwinden.77 Verurteilt werden
der kulturelle Homogenisierungszwang und die Modernitätsfiktion im mexikanischen
Staat. Die Frage, um die es gehen müßte, formuliert der Autor so: „Was bedeutet in
unserer Geschichte, für unsere Gegenwart und vor allem für unsere Zukunft, hier [in
Mexiko] die Koexistenz zweier Zivilisationen - der mesoamerikanischen und der
abendländischen?“78 In einer „Chronik der Katastrophe“ zeigt Bonfil Batalla, wie das
nationale Projekt nahtlos an die koloniale Herrschaftsform der Auslöschung der
indianischen Gemeinschaften Mesoamerikas anknüpft und „die Gewalt gegen“ sowie
„ Stigmatisierung und Negierung “79 der realen Indios vorantreibt. Dies gipfelt im
Prozeß der „Desindianisierung“, die sich erfüllt, „wenn eine Gemeinschaft ideologisch
75
Die Ereignisse in der Folge des neozapatistischen Aufstands in Chiapas zeigten erstmals in der Karawane und
dem Konvent von Aguascalientes die Breite der mexikanischen Oppositionsbewegung. Ihr stand eine zögerliche
Anbiederung der PRD gegenüber. Siehe dazu Topitas (Eds.), Ya basta! Der Aufstand der Zapatisten (Hamburg
1994) 272-319. Heute sind auch die klassenunabhängigen Koalitionen der Uzufriedenen die neuen sozialen
Akteure, die sich nicht mehr einer Oppositionspartei zuordnen lassen. Sie haben sich z.B. erfolgreich in der
Bewegung El Barzón mobilisiert, die sich 1995 spontan gründete nachdem es durch staatliche Mißwirtschaft zu
einer Hyperinflation gekommen war, deren enorme Zinsbelastung auf die mexikanischen Kreditnehmer vom
Minifundien-Bauer über den Taxichaffeur bis zum mittelständischen Unternehmer abgewälzt wurde. Die
Mitglieder dieser Bewegung wehren sich mittlerweile gemeinsam und erfolgreich gegen die Rückzahlung
überhöhter Zinsforderung der Banken. Siehe Guadalupe Rodríguez Gómez – Gabriel Torres, El Barzón y la
Comargo: La resistencia de los agroproductores a la política neoliberal. In: Hubert C. de Grammont – Héctor
Terjera Ganoa – et al. (Eds.), La sociedad rural frente al nuevo milenio (Bd 3 México D.F. 1996) 153-180.
76
Guillermo Bonfil Batalla, México profundo. Una civilización negada (México D.F. - 1.Aufl 1987 - hier
3
1990). Ob Bonfil Batalla die feinfühlige Arbeit zum indigenen Amerika des Argentiniers Rodolfo Kusch,
América Profunda (Buenos Aires 1962) kannte, geht aus Bonfil Batallas Essay nicht hervor.
77
Bonfil Batalla, México profundo 246: „Las deciciones que inevitablemente habremos de tomar para reorientar
al país constituyen una opción de proyecto civilisatorio, más allá del debate político inmediato que no osa
rebasar los limites del proyecto occidental, el del México imagioario.“
78
Bonfil Batalla, México profundo 9: „¿Qué significa en nuestra historia, para nuestro presente y, sobre todo,
para nuestro futuro, la coexistencia aquí de dos civilizaciones, la mesoamericana y la occidental?:“
79
Bonfil Batalla, México profundo 244
25
aufhört, sich als indianisch zu verstehen, wenngleich sie es in ihrer Lebensform
weiterhin ist.“80
Das mestizische Mexiko verleibt sich das indianische, besonders seine Symbole, ein.
Der Indio wird nur noch für den touristischen Konsum „erhalten“. Dem hält Bonfil
Batalla entgegen, daß sich Indios in ihrer Zugehörigkeit zu einem organisierten
Kollektiv (einer Gruppe, einer Gesellschaft, einem Dorf) erkennen.81 Die Differenzen
zwischen der modernen Fiktion des mexikanischen Staates und den lokal
orientierten, indianischen Lebensformen werden in Mexiko, in für moderne
Gesellschaften typische, rassistische Segmentierungen verkehrt.82 Bonfil Batalla
kritisiert auch Vertreter der jüngeren mexikanischen Anthropologie83, denen es
darum ginge, die profunde Zivilisation Mesoamerikas zu „kennen, um sie besser
zerstören zu können.“84 Ziel der gewaltsamen Negation sei es, die Idee von
Modernität und Fortschritt als Projektion im México imaginario aufrecht zu erhalten.85
Das imaginäre Mexiko scheint von einer „schizophrenen Fiktion“ geleitet: Es bemerkt
nicht, was nicht ins eigene Konzept paßt oder definiert es - wie z.B. Roger Bartra als
80
Relikt
einer
untergehenden
Welt.86
„Diese
Fiktion
bewirkt
[aber]
die
Bonfil Batalla, México profundo 80: „...la desindianización se cumple cuando ideológicamente la población
deja de considerarse india, aun cuando en su forma de vida lo siga siendo.“
81
Bonfil Batalla, México profundo 48: „El indio no se define por una serie de rasgos culturales externos que lo
hacen diferente ante los ojos de los extraños (...); se define por pertenecer a una colectividad organziada (un
grupo, una sociedad, un pueblo) que posee una herencia cultural propia que ha sido forjada y transformada
históricamente, por generaciones sucesivas.“
82
Siehe als Beispiel für diese Tendenz Judith Friedlander, Being Indian in Hueyapan. A Study of Forced
Identity in Contemporary Mexico (New York 1975). Dagegen kritisch Etienne Balibar - Immanuel Wallerstein,
Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten (Hamburg/ Berlin 1990).
Ähnlich wie Bonfil Batalla das Verhältnis der Staatsnation Mexiko zu „ihren“ Indigenen kritisiert,
argumentieren auch die Women of Color in den USA in der Aufsatzsammlung Gloria I. Joseph (ed.), Schwarzer
Feminismus. Theorie und Politik afroamerikanischer Frauen (München 1993).
83
Namentlich nennt er ihren Begründer Gonzalo Aguirre Beltrán, El indigenismo y su contribución a la idea de
nacionalidad. In: América Indígena XXIX (1969) 397-435 – gute Zusammenfassung der von Bonfil Batalla
kritisierten Thesen.
84
Bonfil Batalla, México profundo 174: „conocer para destruir mejor.“
85
Bonfil Batalla, México profundo 106: „Por lo tanto, la tarea de construir una cultura nacional consiste en
imponer un modelo ajeno, distante, que por sí mismo elimine la diverdidad cultural y logre la unidad a patir de
la supresión de lo existente. Según esta manera de entender las cosas, la mayoría de los mexicanos sólo tiene
futuro a condición de que dejen de ser ellos mismos. Ese cambio se concibe como un corte definitivo (...) el país
se quiere moderno y, por virtud de la ley, y si la realidad marcha por otros caminos es una realidad equivocada e
ilegal...“
86
Bonfil Batalla kritisiert damit auch die Position der descampenistas, die auch Roger Bartra, Und wenn die
Bauern verschwinden ... Überlegungen zur politischen Konjunktur in Mexiko. In: Veronika Bennholdt-Thomsen
et al. (eds.), Lateinamerika, Analysen und Berichte 1 (Berlin 1977) 112-127 vertritt.
26
Marginalisierung der Mehrheiten, die nun eine reale Marginalisierung ist und keine
imaginäre“87, hält Bonfil Batalla entgegen.
Der Weg zu einem, die gesellschaftliche Mehrheit der Mexikaner88 einschließenden
Selbstverständnis führt für Bonfil Batalla über einen radikalen Pluralismus, der sich in
der Differenz der indianischen Kulturen und dem modernen Mexiko bestätigt. Bemüht
darum, jede Art von reaktionärer Romantik zu vermeiden und ohne der Versuchung
zu unterliegen, die Moderne gänzlich zurückzuweisen und die mesoamerikanische
Zivilisation blind zu überhöhen, plädiert Bonfil Batalla für eine Diversität der Zukunft,
in der die verschiedenen Stimmen und Ausdrucksformen des profunden Mexikos
auch gehört werden. Jedoch müßte die „nacion plural“ auf der authentischen
Zivilisation der mesoamerikanischen Kulturen und ihrer historischen Erfahrungen
aufbauen. Die Definition einer Kulturgemeinschaft nach ihrer Zugehörigkeit zu einem
gemeinsamen ethnos, erinnert zwar an eine ethnische Konstruktion von Nation.89
Bonfil Batalla meint aber nicht, daß sich auf der Grundlage der profunden Zivilisation
eine Hierarchisierung unter den verschiedenen ethnischen Gruppen ergeben würde,
wie sich dies in den europäischen rassistischen nationalen Konstrukten gezeigt hat.
Ausgehend von seiner Theorie der kulturellen Kontrolle90 fordert er zwei konkrete
Schritte, zu welchen sich die Regierung durchringen müßte, um auf dem Wege des
Pluralismus voran zu kommen: Erstens müßten die lokalen Gemeinschaften, die
comunidades locales, als konstitutive Zellen und Basis für die Organisation des
Staates
anerkannt
werden.
Zweitens
wären
die
internen
sozialen
Organisationsstrukturen dieser kleinsten Einheiten im Staat bei der föderalen
Organisation im Verfassungsrang zu berücksichtigen. Dies würde u.a. die
Anerkennung einer teritorialidad local91, d.h. die Rückgabe von Land – nicht von
Reservaten! - an die Indios bedeuten92. Auch eine radikale Perspektivenänderung
87
Bonfil Batalla, México profundo 107 „...la ficción esquizofrénica (...) produce la marginación de las mayorías,
esta sí una marginación real y no imaginaria.“
88
Bonfil Batalla geht davon aus, daß sich die meisten Mexikaner zwar selbst nicht als indios bezeichnen
würden, aber ihr Leben auf der Basis einer kulturellen Matrix mesoamerikanischen Ursprungs organisieren.
89
Siehe oben die Definition von Nation nach Döhn, Nationalismus.
90
Siehe Guillermo Bonfil Batalla, La teoría del control cultural en el estudio de procesos étnicos. In: Revista
Papeles de la Casa Chata II 5 (1987) 23-43.
91
Bonfil Batalla spricht vermutlich in Abgrenzung gegenüber dem Konzept der pluriethnischen Regionen, wie
es u.a. von Hector Díaz Polanco eingefordert wird, nicht von Autonomie.
92
Bonfil Batalla, México profundo 239 „En consecuencia, se trata de que las sociedades locales históricas sean
reconocidas tambíen como unidades políticas legítimas y tengan capacidad de decisión en un espectro cada vez
más amplio de los asuntos que le conciernen.“(...)
27
wäre gefordert, nämlich „endlich den Westen aus der Perspektive der comunidad zu
sehen und damit aufzuhören, die comunidad mit der Optik des Westens zu
betrachten.“93 Damit fordert der Autor von México Profundo neben einer neuen
territorialen Organisation des Staates eine Wiedergutmachung an den Indios, indem
das kommunale Selbstbestimmungsrecht zur Grundlage der gesamten politischen
Struktur Mexikos erhoben würde.94
In der „Desakralisierung“ der Modernität erkennt Bonfil Batalla die Möglichkeit, die
„eigene Geschichte zu machen, nicht nur zu erleiden oder zu wiederholen.“95 Auch
die Zukunft wäre nicht länger „ein Segen oder eine Verwünschung durch die man auf
Teufel komm raus durch müßte, sondern wäre etwas von uns, was schon viel
bedeuten würde.“96 Daran knüpft Bonfil Batalla seine Forderung nach einem
radikalen Pluralismus: „Ich denke oder wünsche mir eine plurale Zukunft“ schrieb er
in seinem letzten Aufsatz, „weil ich darin das Fortbestehen einer wunderbaren
Diversität in der Erfahrung der Menschheitsgeschichte erkenne (...) Mir mißfallen die
eingeebneten, uniformen Landschaften (...) Das Leben bedeutet Veränderung und
deshalb meint es auch Vielfalt.“97 Identität kann in diesem Zusammenhang kein
einheitliches, auf nur einen Weg von Emanzipation ausgerichtetes Selbstbild mehr
meinen. Denn Differenz wird nicht bloß diagnostisch, sondern auch als Ziel
formuliert.
93
Bonfil Batalla, México profundo 241: „Todo esto exige algo más que ‚tomar en cuenta‘ la opinión de las
comunidades: de lo que se trata es de aceptar y respetar sus decisiones (...) aquí se trata de ver el occidente desde
la comunidad y dejar de ver la comunidad con la óptica de occidente."
94
Auch die Grenzen der repräsentativen Demokratie würden sichtbar, sollte eine derartige politische
Reorganisation eingeleitet werden. Um die Stimme der Indios in ihrer ethnischen Vielfalt und in ihrer
historischen Legitimität zu hören, resümiert Bonfil Batalla, bedürfe es komplexerer Entscheidungsmechanismen
als „eine angebliche Repräsentation auf der Basis einer ‚universalen‘ und individuellen Wählerstimme.“ Bonfil
Batalla, México profundo 243: „...no la supuesta representación en base al voto individual ‚universal‘.“
95
Bonfil Batalla, Por la diversidad del futuro. In: Bonfi Batalla (ed), Nuevos modelos 222-234, hier 229:
„...hacer la historia y no sólo sufrirla o repetirla...“
96
Bonfil Batalla, Por la diversidad 229: El futuro „se convierte en un futuro construible, no en una bendición/
maldición impuesta por la que a güevo tenemos que transitar. El futuro se vuelve algo nuestro, lo que no es
poco.“
97
Bonfil Batalla, Por la diversidad 233. „Pienso, o quiero, un futuro plural. Porque veo en él la continuidad de
una maravillosa diversidad de la experiencia histórica de la humanidad. Porque presiento lo que esta riqueza de
la pluralidad significará para las generaciones del futuro. Porque creo en el valor de los muchos rostros. Porque
los dinosaurios desaparecieron por ser una especie demasiado especializada. Porque no me gustan los paisajes
planos y uniformes (...) Porque si la vida es cambio, es diversidad.“
28
II. 3. Differenz jenseits der universalen Bestimmungen
Gustavo Esteva, dem Ökonomen und „nomadisierenden Geschichtenerzähler“, geht
es bei Differenz um die Infragestellung der universalen Paradigmen, die als Rückgrat
von Entwicklung fungieren und seit den fünfziger Jahren weltweit in Forderungen
verkehrt wurden, die angeblich für die gesamte Menschheit Gültigkeit haben. Die
vielen kulturell sehr verschiedenen Wünsche blieben auf universale Bedürfnisse
reduziert, im Zuge von Entwicklung auf der Strecke. Identität, als Bedürfnis
dargestellt, wäre also ein anderer Begriff, der die verschiedenen Sektoren der
Gesellschaft an ihrer Wirtschaftskraft bemißt. Davon leitet sich ihr angebliches
Rollenverständnis her. Die Fragen nach Identität - die das erst herstellen, worauf sie
gerichtet sind - erscheinen so als Zwang zur Verinnerlichung der universalen
ökonomischen Normen und Kategorien: Nicht woher einer stammt, sondern was
einer ökonomisch ist, erscheint relevant. Kulturelle Identität meint unter diesen
Bedingungen eine Vereinheitlichung und Inszenierung von Funktionsbestimmungen,
die im Verständnis von sozialen Rollen aber ständig wechseln. Kollektive Identitäten,
die derart fest geschrieben werden, dienen vielmehr der Verschleierung von
rassistischen und sexistischen Segmentierungen innerhalb von entwickelten
modernen Gesellschaften.98
An vielen Stellen seiner Texte nimmt Esteva ein grundsätzliches Mißtrauen
gegenüber
produzierten
Expertenwahrheiten
ein,
wie
sie
uns
auch
im
Identitätsdiskurs der letzten hundert Jahre entgegen getreten sind und macht dieses
Mißtrauen zum Ausgangspunkt jeder Selbstreflexion. „Dem Diskurs über die
allgemeine Ordnung muß eine klare Absage erteilt werden, um Sprache,
Ausdrucksweise, Kategorien und Systeme der Wahrheitsfindung zu erneuern.“99
Esteva fordert in diesem Sinne die Abschaffung von Insitutionalisierung und
Professionalisierung der menschlichen Aktivitäten. Die Herausforderung für alle
Mexikaner liege in der Erschütterung der Entwicklungsphantasmagorien der
98
Mit Hilfe von Rollenkonzepten wird zwar ein gewisser Schutz der gesellschaftlichen Gleichheit garantiert,
aber – und das entscheidet für Esteva – nicht für alle: Wenn z.B. eine Kundin im Supermarkt vom Verkäufer als
Kundin und nicht als Frau wahrgenommen wird, „schützt“ sie ihre Rolle vor einer sexistischen Beurteilung.
Wenn der gleiche Verkäufer aber den schwarzen Mann, der neben ihr steht, nicht als Kunden, sondern als
Ausländer identifiziert, wird dieses Rollenschema brüchig. Ausführlich zu dieser Diskussion siehe Ökonomie als
Kultur. Bericht vom Colloquium mit Gustavo Esteva In: Huder Journal zu den Karl Jaspers Vorlesungen zu
Fragen der Zeit (Oldenburg November 1993).
99
Esteva, Fiesta 96.
29
Nachkriegszeit. Die eigentlichen „Experten“ dieser Erfahrungen sind die sogenannten
„Armen“ oder „Unterentwickelten“.
In den „Ritzen der modernen Gesellschaft“100 und den „Winkeln der Armut“101
begegnet Esteva den „gemeinen Menschen“102 und den neuen Gemeinschaften, die
nicht mit den indianischen Dorfgemeinschaften ident, aber ähnlich organisiert sind
und verwandte Werte pflegen. Diese Menschen wurden seit bald fünfzig Jahren mit
dem Stempel der Unterentwicklung versehen und an den Rand der modernen
Gesellschaften gedrängt. Von der Wissenschaft wurden sie erst in den beiden letzten
Jahrzehnten als „kulturelle Hybride“103 oder „Marginalisierte“ wahrgenommen. Ihr
Anderssein hat nichts mit herkömmlichen Vorstellungen von kultureller Alterität zu
tun. Esteva behauptet, daß sich die gemeinen Menschen von den modernen
Menschen darin unterscheiden, daß die neuen Gemeinschaften „fähig sind, trotz
Wirtschaft“ d.h. der massiven Ökonomisierung ihrer Lebensbereiche zum Trotz „eine
andere Logik am Leben zu erhalten, ein anderes Set von Regeln.“104 Aus dieser
Perspektive werden in und für Mexiko konkrete Formen von Differenz sichtbar: Die
Bewohner von sogenannten Slums in Mexiko-Stadt, die angeblich in ruraler Isolation
lebenden campesinos und die aufständischen Neozapatisten in Chiapas können
nämlich im Gegensatz zu den „entwickelten“ Mexikanern die vertraute Frage, woher
sie stammen, beantworten. Darin erkennt Esteva eine gewiß „unmoderne“
100
Esteva, Fiesta 47.
Esteva, Fiesta 49.
102
Bei der Übersetzung von Gustavo Estevas Aufsätzen, die 1992 in der ersten Auflage erschienen sind, haben
wir uns für „gemeiner Mensch“ entschlossen, wenn Esteva von ambitos de comunidad und vom comon man
spricht. Gemein entspricht dem lateinischen communis und stammt aus der indogermanischen Wurzel *mei,
„tauschen, wechseln“. Ursprünglich meinte *mei „was mehrern abwechselnd zukommt“, so wie heute noch die
Alm, die All-me(i)nde. Die Allmende bezieht sich auf eine ländliche Form der Nutzung von Wald, Wiese und
Wasser und entspricht damit auch weitgehende dem spanischen Begriff ejido. Die ámbitos de comunidad
bezeichnen eine, über die gemeinsame Nutzung hinaus verbundene Gemeinschaft. Im Deutschen bedeutete
„gemein“ oder „Gemeinheit“ bis ins frühe 17. Jahrhundert die „gemeinschaftlichen, allgemeinen“ Nutzungen,
Nutzungsrechte und ihre Subjekte. Erst im ausgehenden 17. Jahrhundert erfuhr das Wort „gemein“ eine
abwertende Nebenbedeutung, als es auch synonym für „unheilig, gewöhnlich, alltäglich, roh, niederträchtig“
gebraucht wurde. In dieser Bedeutung hat das Wort im Deutschen überdauert. „In der Bedeutungsveränderung,
die das Wort Gemeinheit in diesem Zeitraum erfahren hat, spiegelt sich die Umwertung des Daseins“, behauptet
Ivan Illich, Vom Recht auf Gemeinheit (Reinbek bei Hamburg 1982) 7. Dieser Bedeutungsveränderung ist
Esteva auf der Spur, wenn er zwischen homo communis und homo oeconomicus unterscheidet, wobei er nicht
dem im Englischen ausdrückbaren Gegensatz von commons und public utilities folgt, sondern den Unterschied
zwischen commons und economic utilities betont. Siehe weiterführend zur aktuellen politischen Brisanz dieser
Überlegungen: The Ecologist (ed.), Whose Common Future? Reclaiming the Commons (London 1993) und
Veronika Bennholdt-Thomsen, Die normierte Frau im Entwicklungsdiskurs versus Veilfalt von Frauenleben. In:
Martina Kaller-Dietrich (ed.), Recht auf Entwicklung? (= Atención 1. Jahrbuch des Österreichischen
Lateinamerika-Instituts Wien/ Frankfurt am Main 1998) 65-80.
103
Néstor García Canclini, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad (México D.F.
2
1990).
101
30
Relokalisierung und die eigenmächtige Bestimmung von physischen und sozialen
Räumen, der nichts Provinzielles anhaftet. Esteva weist auch ausführlich darauf hin,
daß die gemeinen Menschen mit der Wiedererlangung dieser Räume zur
Bekräftigung ihres eigenständigen Denkens zurückgefunden haben.105
Den immer banaler und aggressiver werdenden Angriffen von Entwicklung106 hält
Esteva keine spekulative Vielfalt entgegen, sondern die gelebten Möglichkeiten, „in
ein vertrautes Pluriversum“ überzuwechseln. Trotz des immensen Drucks, der von
Entwicklung und dem nationalen Homogenisierungszang ausgeht, gibt es in den
lokalen Gemeinschaften viele verschiedene Ausdrucksformen von Identität. Die
Reduktion dieser Vielfalt auf ein nationales Projekt erweist sich als überflüssig. Die
Menschen in den neuen Gemeinschaften, welche die Projekte von Modernisierung
und Entwicklung verlassen haben, benötigen auch keine Zuschreibungen mehr, aus
denen ihr Armuts- oder ihr Entwicklungsgrad abgelesen werden könnte. Esteva zeigt
dies anhand vieler Beispiele.107 Aus diesen Erfahrungen schließt er, daß es
notwendig geworden ist, „aus der verzerrten Perspektive des konventionellen
Denkens“108 und damit der universalen Entwicklung als Ziel und Methode zu
entkommen. Dies sei auch die Voraussetzung, um die anderen Welten zu erkennen
und zu verstehen.
II. 4. Zusammenfassung
In Mexiko richtet sich die Aufmerksamkeit der dekonstruktivistischen Analysen von
Modernität
104
auf
die
gesellschaftlichen
Gruppen,
die
sich
jenseits
der
Esteva, Fiesta 64.
Esteva, Fiesta, 207: „Die lokalen Gemeinschaften demontieren Tag für Tag die Wahrheiten, die ihnen von
außen, von dem Regime [der Experten], das Wahrheiten produziert, aufgedrückt werden. Langsam aber sicher
weben sie ihre eigenen Wahrheiten, indem sie einige Fäden aufgreifen, die von weither stammen“
106
Zum Beispiel der Entwurf über das Multilaterale Abkommen über Investitionen (=MAI). Es handelt sich
dabei um einen als Art Verfassung der WTO geplanten Versuch, die globale Herrschaft der Konzerne zu
konsolidieren. Siehe die z.Zt. umfassendste Analyse: Tony Clark, The Corporate Rule Treaty. A Preleminary
Analysis (Canadian Center for Policy Alternatives Ottawa 1997). Originaltext der vorläufigen Version des MAIVertrags, der von Vertretern der OECD verhandelt und in monatlichen Sitzungen umgestaltet wird, erhältlich
unter [email protected].
107
Siehe u.v.a. Estevas Beschreibungen zu Tepito in Fiesta, 135-155, über die Chimalapas im Interview mit mir,
siehe Fiesta 156-177, über die Situation in Chiapas: Gustavo Esteva, Crónica del fín de una era (México D.F:
1994).
108
Esteva, Fiesta, 208.
105
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lateinamerikanischen Stadtkultur und ihrer modernen Kategorien eingerichtet haben.
Was dort wiederum wahrgenommen wird und welche Konsequenzen sich aus dieser
Wahrnehmung ergeben, fällt sehr verschieden aus. Roger Bartra identifiziert die
Masse der Unterdrückten mit einer politischen Opposition, die danach drängt, sich
als Partei zu artikulieren. Guillermo Bonfil Batalla erkennt in den indianischen
Dorfgemeinschaften Mesoamerikas die Vorbilder für die notwendige Umgestaltung
des politischen Systems in Mexiko. Eine authentische Eigenbestimmung kann es in
Mexiko ohne die Indios nicht geben. Für Estevas neue lokale Gemeinschaften
scheint es nicht mehr von Bedeutung zu sein, ob und wie sie wahrgenommen
werden. Jenseits von Entwicklung, Hilfe und konventioneller Politik haben sie in
einem langen Prozeß von Widerstand, Ausgrenzung, Negation und Aggression109 zu
sich selbst gefunden. Auch das, was als nationale Identität bezeichnet werden
könnte, beanspruchen sie nicht: „Indem die ‚Marginalisierten‘ aus den Träumen
anderer abgesprungen sind“, formuliert Esteva prägnant, „haben sie Würde und
Selbstvertrauen wieder entdeckt und träumen jetzt wieder von ihren eigenen
Hoffnungen, die so viel besser zu ihrem Leben passen.“110
Wieweit dies schon als eine Art der Identitätsbestimmung gelesen werden kann, die
sich in ihrer Emanzipation allerdings gegen die Konzepte einer überholten
Modernisierung wendet und welche neue Identitätsentwürfe daraus erwachsen
könnten oder, ob die Frage nach Identität angesichts ihrer Dekonstruktion überhaupt
verworfen werden muß, ist zum heutigen Zeitpunkt weder für Mexiko, noch für
Lateinamerika und auch in Europa111 nicht absehbar.
109
Esteva, Fiesta 45-57.
Esteva, Fiesta 58.
111
Mit der Feststellung, daß Individualidentität Sozialidentität - Jürgen Habermas, Können komplexe
Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden? In: Jürgen Habermas – Dieter Henrich, Zwei Reden
(Frankfurt am Main 1972 ) - benötige, rückte in der deutschsprachigen Diskussion die Frage nach Identität fast
ausschließlich in den Bereich der Identitätssoziologie. Im Gegensatz zu den radiaklen politischen Forderungen,
die Bonfil Batalla und Esteva erheben, baut die aktuelle deutschsprachige Identitätsdiskussion immer noch auf
Erik Eriksons - Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus (Frankfurt am Main 1966) - Rollenkonzept und zielt
damit auf Strategien kollektiven Identitätsmanagements. Siehe z.B. Welttrends. Internationale Politik und
vergleichende Studien Heft 15 (Sommer 1997): Identitäten in Europa.
110

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