Miklós Bánffy Verschwundene Schätze

Transcripción

Miklós Bánffy Verschwundene Schätze
Nr. 5 | 26. Mai 2013
John F. Kennedy Unter Deutschen | Miklós Bánffy Verschwundene Schätze |
Linn Ullmann Das Verschwiegene | Hedwig Pringsheim Tagebücher und
Briefe | Thomas Sprecher Karl Schmid | Peter Rosei Madame Stern | Essay
über Georg Büchner | Weitere Rezensionen zu Günter Grass, Willy Brandt,
Sigmund Freud, Nicole Niquille u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
Spannend. Fesselnd. Hochklassig.
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Inhalt
Jeder trägt
seinen
Sozialrebellen
in sich
John F. Kennedy
(Seite 19).
Illustration von
André Carrilho
Wer in Zürich mit der Seilbahn Rigiblick auf den Germaniahügel fährt,
stösst dort auf einen verwitterten Grabstein: «Ein unvollendet Lied
sinkt er ins Grab, der Verse schönsten nimmt er mit hinab.» Georg
Büchner, mit 23 vom Typhus dahingerafft, liegt hier begraben. Sein
schmales Werk «lässt sich in einem Tag lesen», schreibt Manfred Koch
über den revolutionären Schriftsteller, dessen Sprachwucht noch
immer begeistert (Seite 12). Auch inhaltlich ist manches am Autor
modern: seine heftige Kapitalismuskritik mit einem Schuss Sozialromantik, sein Nihilismus, die innere Zerrissenheit und Inbrunst, mit
der er agitierte. Erkennen wir den «Büchner» nicht auch unter uns: im
feurigen Jungspund, der für eine Bonzensteuer kämpft? In der
morbiden Twitter-Poetin, die eruptiv ihre Tweets absondert? Oder im
unrasierten Intellektuellen, der die Niedertracht der Welt und seiner
Gegner geisselt? Geben wir's zu – auch uns vermögen Kraftworte und
wilde Sozialutopien in schaudernde Erregung zu versetzen. Jedenfalls
dann, wenn sie folgenlos bleiben.
Weitere Leckerbissen in dieser Ausgabe: Miklós Bánffys neu übersetzte
Landes- oder besser Liebesgeschichte (S. 4); zwei obsessive MutterSohn-Bücher von Josef Winkler (S. 9); und JFKs Reisetagebücher aus
den 1930er Jahren, in denen der spätere US-Präsident Nazi-Sympathien
erkennen liess (S. 19). Starke Literatur auch dies! Urs Rauber
Belletristik
Kolumne
4
Miklós Bánffy: Verschwundene Schätze
15 Charles Lewinsky
6
Pierre Michon: Die Elf
7
Rajesh Parameswaran: Ich bin Henker
Kurzkritiken Sachbuch
Claire Krähenbühl: Ailleurs peut-être.
Vielleicht anderswo
15 Wolfgang Röd: Heureka!
8
Von Stefana Sabin
Von Martin Zingg
Von Simone von Büren
Von Manfred Papst
Linn Ullmann: Das Verschwiegene
Von Verena Stössinger
Markus Stegmann: Ingmar Alge
9
Von Gerhard Mack
Josef Winkler: Mutter und der Bleistift
Josef Winkler: Wortschatz der Nacht
Von Sandra Leis
10 Peter Rosei: Madame Stern
Ein Gespräch zwischen Edgar Degas
und Stéphane Mallarmé
Von Kathrin Meier-Rust
Rupert Gebhard: Alexander der Grosse,
Herrscher der Welt
Von Geneviève Lüscher
David Signer: Weniger Verbote! Mehr Genuss!
Von Urs Rauber
Margarete Mitscherlich: Eine Liebe zu sich
selbst, die glücklich macht
Von Kathrin Meier-Rust
Linn Ullmann schreibt über Beziehungstragödien (S. 8).
24 Peter Beinart: Die amerikanischen Juden und
Israel
Von Bruno Steiger
Sachbuch
Von Christine Brand
16 Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst
Hedwig Pringsheim: Tagebücher 1885–1891
und 1892–1897
25 Willy Brandt, Günter Grass: Der Briefwechsel
18 Sigmund Freud, Martha Bernays: Unser
Roman in Fortsetzungen
26 Nicole Niquille: Und plötzlich ... am Himmel
ein Berg
11 E-Krimi des Monats
Dan Brown: Inferno
Kurzkritiken Belletristik
11 Christine Brand: Kalte Seelen
Von Regula Freuler
Victor Zaslavsky: Der Sprengprofessor
Von Manfred Papst
Élémir Bourges: Götterdämmerung
Von Kirsten Voigt
Von Sabine Richebächer
Yann Arthus-Bertrand, Brian Skerry: Der
Mensch und die Weltmeere
Von Malena Ruder
Von Manfred Papst
19 John F. Kennedy: Unter Deutschen
Alan Posener: John F. Kennedy
Von Regula Freuler
20 Thomas Sprecher: Karl Schmid (1907–1974)
Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner
Mutter
Reiner Möckelmann: Wartesaal Ankara
Von Kathrin Meier-Rust
Von Thomas Feitknecht
Von Charlotte Jacquemart
Das amerikanische Buch
Michael Moss: Salt Sugar Fat. How the Food
Giants Hooked Us
Von Andreas Mink
Von Thomas Köster
Agenda
Von Urs Rauber
27 Ulrich Pohlmann, Dietmar Siegert: Zwischen
Biedermeier und Gründerzeit
Essay
21 Benoît B. Mandelbrot: Schönes Chaos
12 «Ich komme aus dem Leichendunst»
22 Robert Trivers: Betrug und Selbstbetrug
Manfred Koch über das Werk von
Georg Büchner (1813–1837), der in Zürich
verstorben ist
Von Urs Bitterli
Von André Behr
Von Manfred Papst
Bestseller Mai 2013
Von Michael Holmes
Belletristik und Sachbuch
Von Klara Obermüller
Veranstaltungshinweise
Josef Hochstrasser: Einwurf
Agenda Juni 2013
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Sandra Leis, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Martin Zingg Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art Director), Susanne Meures (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
Verlag NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich, Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Roman In einer aufwühlenden Liebesgeschichte entwarf der ungarische Autor Miklós Bánffy (1873 bis 1950)
ein Gesellschaftsbild der politischen Elite in Budapest und des Landadels in Siebenbürgen
Ein Graf mit gebroche
Miklós Bánffy: Verschwundene Schätze.
Zsolnay, München 2013. 576 Seiten,
Fr. 37.90, E-Book 29.90.
Von Stefana Sabin
Es ist eine Entdeckung. Ein grossangelegtes literarisches Projekt – eine Trilogie von fünfzehnhundert Seiten! – über
die letzten Jahre der österreichischungarischen Monarchie aus ungarischer
Sicht. Denn die Handlung spielt in Budapest und östlich davon auf Schlössern
und in Wäldern Siebenbürgens.
Siebenbürgen ist jenes Gebiet im südlichen Karpatenbogen, das an der östlichen Peripherie der Donaumonarchie
lag, zu Rumänien und dann wieder zu
Ungarn gehörte und seit 1944 geografisch das Zentrum und den Nordwesten
Rumäniens bildet. Die sieben Burgen,
die den deutschen Namen prägen, befinden sich jenseits des Waldes, lateinisch
trans silvam – daher die Bezeichnung
Transsilvanien, die in mittelalterlichen
Dokumenten benutzt wurde. Der deutsche Name Siebenbürgen taucht Ende
des 13. Jahrhunderts auf. Auf der literarischen Landkarte Europas ist Siebenbür-
Miklós Bánffy
Miklós Bánffy (1873–1950) entstammte
dem Grossbürgertum und war studierter
Jurist. 1912 bis 1918 leitete er die Budapester Oper sowie das Nationaltheater.
Er bekleidete verschiedene politische
Ämter; 1921/22 war er ungarischer Aussenminister. Neben journalistischen Arbeiten und Bühnenwerken schrieb Bánffy
in den 1930er Jahren eine Romantrilogie
über seine siebenbürgische Heimat vor
dem Ersten Weltkrieg. Deren erste zwei
Bände liegen nun in der vorzüglichen
Übersetzung des früheren NZZ-Redaktors Andreas Oplatka vor: 2012 erschien
«Die Schrift in Flammen», in diesem Jahr
der Band «Verschwundene Schätze».
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
gen nur als Heimat des Urvampirs
Dracula eingetragen. Nun erschliesst die
«Siebenbürger Geschichte» diese osteuropäische Landschaft, indem sie sie
zum Austragungsort rabiater politischer
Intrigen und verzweifelter Liebesgeschichten macht.
Der Autor dieser «Siebenbürger Geschichte» war ein Graf aus einem alten
siebenbürgischen – ungarischen – Geschlecht: Miklós Bánffy von Losoncz,
1873 in Klausenburg (ungarisch Kolozsvár, rumänisch Cluj) geboren. Graf
Bánffy war eine schillernde Gestalt:
Grossgrundbesitzer mit sozialem Bewusstsein und ökologischen Vorstellungen, liberaler Abgeordneter im Budapester Parlament und Herausgeber einer
konservativen Zeitschrift, Präfekt in
Klausenburg und Intendant der Budapester Oper (und als solcher Förderer
von Béla Bartók), Dramatiker und Romancier. Bánffy trat für die Eingliederung Siebenbürgens in Ungarn ein, aber
nach dem Ersten Weltkrieg und dem
Zusammenbruch der Donaumonarchie
wurde er rumänischer Staatsbürger, um
seinen Besitz nicht zu verlieren. Als er
nach dem Zweiten Weltkrieg doch noch
seine Besitztümer verlor, ging er endgültig nach Budapest, wo er 1950 starb.
Die «Siebenbürger Geschichte» entstand in den 1930er Jahren, als Bánffy
einen nostalgischen und zugleich leicht
zornigen Blick auf die politischen Wirrungen zurückwarf, die zum Ersten
Weltkrieg und zum Ende der Donaumonarchie führten. Vor dem Hintergrund der gesamteuropäischen Lage im
ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
beschrieb er die parlamentarischen
Debatten in Budapest und die zwischenethnischen Spannungen in der siebenbürgischen Provinz und setzte die ungarischen Interessen in den Gesamtzusammenhang der Politik der Donaumonarchie. Zugleich entwarf Bánffy ein
Porträt des Siebenbürger Landadels und
spann ein dichtes dramatisches Netz aus
politischen Intrigen, Familienfehden
und Liebesgeschichten.
Den narrativen Faden, der die «Siebenbürger Geschichte» verbindet, bildet die Liebensgeschichte zwischen
dem Grafen Abády, einem liberalen Parlamentarier aus Klausenburg, und der
verheirateten Gräfin Adrienne Uzdy,
einer melancholischen Schönheit. Im
ersten Roman, der ursprünglich 1934
und erst im vergangenen Jahr in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Die
Schrift in Flammen» erschien, erleben
Abády und Adrienne eine kurze, leiden-
Wochenmarkt im
siebenbürgischen
Schässburg (heute
rumän. Sighişoara).
Die osteuropäische
Provinz zur Zeit der
Donaumonarchie
ist Schauplatz des
farbenprächtigen
Romans von Miklós
Bánffy.
schaftliche Erfüllung und trennen sich
dann doch, weil Adrienne sich weder
die Scheidung vorstellen noch den angedachten Selbstmord begehen kann und
stattdessen auf die Liebe verzichtet.
«Ich will versuchen zu leben … vielleicht
gelingt mir das, wenn du mich ... für
immer verlässt», sagt sie unter Tränen
ihrem Geliebten.
Leidenschaftliche Affäre
Im zweiten Roman, der 1937 veröffentlicht wurde und unter dem Titel
«Verschwundene Schätze» gerade auf
Deutsch erschienen ist, kommen Abády
und Adrienne doch wieder zusammen.
Nach einer zufälligen Begegnung im
Wald entflammt die Leidenschaft füreinander erneut; sie treffen sich mehrmals
heimlich und flüchten vor der trüben
Wirklichkeit in Zukunftsfantasien. Während Abády im politischen Alltag in Budapest, im gesellschaftlichen Treiben in
Klausenburg und in der Gebietsreform
seiner Forsten Ablenkung von seiner
sentimentalen
Niedergeschlagenheit
findet, ist Adrienne in ihrem Eheunglück
wie gefangen. Erst als Abády sie bedrängt, beginnt sie, den Weg zu einer
gemeinsamen Zukunft zu ebnen, indem
nem Herzen
Denn «im Namen unserer Liebe» beschwört sie Abády, zu heiraten, und
nennt ihm gleich auch die Frau, die er
heiraten soll. Mit gebrochenem Herzen
fährt der Graf zu jener Jagdpartie, auf
der er die von seiner Geliebten Auserwählte treffen wird.
IMAGNO
Untergang einer Epoche
sie die Scheidung von Graf Uzdy ernsthaft in Betracht zieht – aber es ist zu
spät.
So endet der Roman mit einer erneuten Trennung zwischen Abády und
Adrienne und mit einem noch entschiedeneren Liebesverzicht Adriennes.
Das Unglück, das die Figuren meist im
Herzen tragen, schwebt über den glamourösen Jagdpartien und Bällen, an
denen sie standesgemäss und mit vornehmer Selbstbeherrschung teilnehmen
– die Spannung zwischen innerer Traurigkeit und äusserem Glanz ist zugleich
ein gesellschaftliches Symptom, das auf
das Ende einer Epoche hinweist, nämlich auf den Untergang der Donaumonarchie und ihres Adels.
Zwar mag Bánffys epischer Atem und
sein erzählerisch geschickter Wechsel
zwischen politischer Schilderung, sozialer Beschreibung und sentimentaler
Handlung an Tolstoi erinnern, aber sein
Romanprojekt ähnelt eher demjenigen
Lampedusas. Wie Lampedusa zwanzig
Jahre später im «Gattopardo» zeichnete
Bánffy in seiner «Siebenbürger Geschichte» das Sittengemälde einer
untergehenden Oberschicht, die sich
bis zuletzt mit glanzvollen Festen von
der sich ankündigenden Katastrophe
ablenkte. Aber während Lampedusas
literarischer Rückblick zwischen Nostalgie und Zeitkritik pendelte und die
Notwendigkeit des immanenten gesellschaftlichen Umbruchs implizierte, war
Bánffys Darstellung von umfassender
pessimistischer Grundstimmung. Die-
ser dunklen Grundfärbung des Gesellschaftsbilds stehen Naturbeschreibungen entgegen, in denen Farben und
Nuancen schillern. «Auf dem giftgrünen
Hintergrund erschienen die Baumstämme violett; in langen Fransen und
Streifen hing ein silberner Moosschleier
auf . . . und je länger man den Wald betrachtete, desto verzauberter, desto unwahrscheinlicher wirkte er.» Der Wald
ist bei Bánffy nicht nur eine Art locus
amoenus, wo die Liebenden zueinander
finden, sondern auch ein zentraler Ort,
wo Konflikte ausgetragen werden.
Die Naturbeschreibungen sind in
Bánffys Roman keine bloss erzähltaktischen Verzögerungsmomente, sondern
sind handlungstechnisch verankert,
denn sie machen die ländliche Bindung
des siebenbürgischen Adels deutlich,
und sie verleihen dem Geschehen Lokalkolorit. Tatsächlich bezieht Bánffys
Roman seinen Reiz nicht nur aus einer
üppig verästelten Handlung, sondern
auch aus der Vergegenwärtigung einer
unheimlichen Landschaft.
So kommt der Entdeckung von
Bánffys «Siebenbürger Geschichte»
auch eine geoliterarische Bedeutung zu,
der sie allerdings nur dank der flüssigen
Übersetzung von Andreas Oplatka gerecht werden kann. Oplatka hat sowohl
für die gekünstelt altmodische Sprache
des Erzählers als auch für die antiquierten Redewendungen, durch die der ungarisch-siebenbürgische Adel charakterisiert wird, eine idiomatische deutsche
Form gefunden, die die historische
Distanz zugleich vergegenwärtigt und
überwindet. l
Neun Tage verbringen Vincent Balmer, ein französischer Journalist,
und der Fotograf António gemeinsam in Lissabon, um über den
Prozess gegen einen Serienmörder zu berichten. Doch kreisen
ihre Gespräche stets um die Lieben ihres Lebens. Hintergründig
erzählt Le Tellier vom Glück und Unglück in der Liebe.
Aus dem Französischen
von Romy und Jürgen Ritte
Deutsche Erstausgabe
280 Seiten sFr 21,90*
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26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Erzählung Pierre Michon verwebt Fakten
und Fiktion zu einem raffinierten Porträt
der französischen Revolution
Vexierspiel
des Terrors
Pierre Michon: Die Elf. Aus dem
Französischen von Eva Moldenhauer.
Suhrkamp, Berlin 2013. 120 Seiten,
Fr. 27.90
Im Gegensatz zur
erfundenen Story in
Pierre Michons Buch
hat die Exekution
Robespierres am
28. Juli 1794 tatsächlich stattgefunden.
Drei auf vier Meter misst das Bild. Es
wird geschützt von dickem Panzerglas
und ist nicht zu übersehen. Im Louvre,
wo es hängt, scheint die Architektur
dafür zu sorgen, dass die Besucherströme unausweichlich auf dieses Bild zusteuern: «Die Elf». Auf dem Gruppenbild sind elf Männer zu sehen, elf Jakobiner, die 1794, im Jahr zwei der Französischen Revolution, im Comité de salut
public sitzen, im Wohlfahrtsausschuss.
In jenen Monaten der Grande Terreur
hat die Revolution eine äusserst blutige
Phase erreicht, das Gemälde zeigt die elf
dafür Verantwortlichen. Maximilien Robespierre ist die zentrale Gestalt dieser
Runde, die mit ihren zahlreichen Gegnern keineswegs zimperlich umgeht.
Fiktiver Künstler
Gemalt hat dieses eindrückliche Bild ein
gewisser François-Élie Corentin, der
«Tiepolo des Schreckens». Corentin ist
ein Schüler von Tiepolo und Angestellter des revolutionären Malers David,
und sein Werk aus dem Jahr 1794 ist, wie
es einmal heisst, «ein unwahrscheinliches Bild, das alles besass, um nicht zu
existieren». Es existiert denn auch nicht,
dieses Bild. Sowenig wie sein Maler Corentin je gelebt hat: ein Bild mit dem
Titel «Die Elf» wird man im Louvre vergeblich suchen. Dafür aber gibt es ein
meisterhaftes Prosastück mit diesem
Titel, geschrieben von Pierre Michon,
dem französischen Autor meist kurzer
und ungemein dichter Texte wie etwa
«Leben der kleinen Toten» und «Die
Grande Beune».
Pierre Michon lässt auf knapp 120 Seiten einen Kunsthistoriker auftreten, der
einem namenlosen Museumsbesucher
Corentins Bild beschreibt und erklärt.
Dabei führt die als detaillierte Information kaschierte Erzählung einerseits zurück in die Familiengeschichte des fiktiven Malers, zum andern wird erzählt,
wie dieser unter dubiosen Umständen
zu seinem Auftrag kommt und welche
Absichten die Auftraggeber haben. Und
dazwischen wird das Bild beschrieben,
auf dem die elf Kommissare des Wohlfahrtsausschusses eine Präsenz markie6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
FOTOFINDER
Von Martin Zingg
ren, die ihre reale Macht weit hinein in
die Sphäre der Kunst verlängert.
Die biografische Spurensuche des
Kunsthistorikers führt auf verschlungenen Erzählwegen zurück bis zu Corentins Grosseltern. Der eine Grossvater
war Ingenieur und baute am französischen Kanalsystem mit. Der andere
Grossvater handelte mit Wein und Essig
und kam zu Vermögen. Dessen Sohn
François mochte nicht in die Fussstapfen treten, er hatte Grösseres vor. Er gab
sich einen pompösen Dichternamen
und beglückte die interessierte literarische Öffentlichkeit mit anakreontischen
Versen. Diese gefielen auch der behüteten Suzanne. Der Ehe der beiden entspross 1730 François-Élie Corentin.
Er wird später Künstler werden, er
wird sogar eine gewisse Bekanntheit erlangen und immer wieder Aufträge
übernehmen. Meist sind es Porträts von
Repräsentanten des Ancien Régime, gelegentlich malt er auch Kulissen für
Theaterinszenierungen.
Michon, der seine Figuren gerne über
biografische Erzählungen entwickelt,
entwirft auch in «Die Elf» eine Fülle von
Details, welche den Künstler Corentin
als zeitgenössische Gestalt plausibel
machen können. Corentin wird eines
Abends, da hat die Revolution längst
ihren grausamen Siedepunkt erreicht, in
eine nahe Kirche vorgeladen. Er ist, als
er sich dorthin begibt, auf alles gefasst.
In der konspirativen Dunkelheit der Sakristei wird der «Citoyen Maler» – der
den Übergang in die neue Epoche zwar
überstanden hat, nun aber, wie alle anderen auch, jederzeit mit seiner Hinrichtung rechnen muss – damit beauf-
tragt, die elf Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses zu porträtieren. Die Auftraggeber verfolgen mit dem Bild eine
politische Strategie, die zwei mögliche
Verläufe im Auge behalten muss: Wenn
sich Robespierre an der Macht halten
kann, wird das Bild eine andere Bedeutung bekommen, als wenn er von der
Macht verdrängt wird. Für beide Möglichkeiten – Glorifizierung oder Demaskierung von Robespierre – soll das Bild
den Mitstreitern als Joker dienen. Im
Moment, da das Bild in Auftrag gegeben
wird, ist alles noch völlig offen. Nur
eines steht fest: Die Auftraggeber werden in jedem Fall auf der richtigen Seite
stehen.
Präzis recherchiert
Seine Raffinesse gewinnt Michons Text
nicht zuletzt daraus, dass die historischen Fakten präzis recherchiert und
allgemein bekannt sind, das Gemälde
und dessen Maler hingegen der Fiktion
entspringen und sich beide Seiten nahtlos verschränken. Selbst elf Seiten aus
Jules Michelets «Histoire de la Révolution française» nennt der parodie- und
pastichefreudige Autor als angeblichen
Beleg, und eine Ölskizze von Géricault
soll Corentin bei der Entgegennahme
des Auftrags zeigen.
Das Vexierspiel macht nicht allein die
Grausamkeit einer historischen Epoche
deutlich. Es feiert am Ende auch die
Sprache, sie ist kühl, dann wieder berauschend und berauscht, ungemein dicht.
Eva Moldenhauer hat Michons syntaktische Unruhe und stilistische Geschmeidigkeit auf höchst bewundernswerte
Weise ins Deutsche übersetzt. l
Erzählungen Fabelhafte Liebesgeschichten mit tierischen und menschlichen Hauptfiguren
Wenn Tiger Elefanten zerfetzen
Rajesh Parameswaran: Ich bin Henker.
Liebesgeschichten. Aus dem
Amerikanischen von Stefanie Jacobs.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013.
288 Seiten, Fr. 27.50.
Von Simone von Büren
Mit Liebe im
weitesten Sinne
haben alle
Geschichten des
Inders Rajesh
Parameswaran zu tun.
fantenkuh nehmen die Fussnoten des
menschlichen Übersetzers der Tiersprache Englafant überhand, werden
aber wieder infiltriert von der Hauptgeschichte, die sich hauptsächlich in den
Fussnoten abspielt, wo sie wiederum
durchsetzt wird vom legendären Schicksal eines Elefanten, der behauptet, einen
menschlichen Vater zu haben.
Der Text wird unterbrochen, untergraben, überlagert, in eine unerwartete
Richtung gelenkt, von den Figuren
übernommen. Diese formalen Experimente veranschaulichen eine Art Kontrollverlust, der auch inhaltlich viele
der Geschichten prägt: Parameswarans
Figuren handeln anders, als sie möchten. Sie töten, wo sie lieben. Sie lügen,
wo sie Anerkennung wollen. Sie werden
von ihren Träumen überwältigt. Eine
Frau fürchtet die Dämonen, die gemäss
einem alten indischen Aberglauben
unter bestimmten Umständen Gedanken zu Realität werden lassen. Und die
Spionin merkt, dass sie selber bespitzelt
wird und die Akten über ihre Person
einen ganzen Raum füllen.
Im weitesten Sinn haben Parameswarans Texte also vielleicht doch mit Liebe
zu tun – mit diesem Gefühl, das uns der
Kontrolle berauben, uns aus der Bahn
werfen und über uns selber hinauswachsen lassen kann. l
MARC LECUREUIL / GALLERY STOCK
Ein Tiger tötet seinen Lieblingspfleger,
eine Frau lässt ihren eben verstorbenen
Mann verdreht im Wohnzimmer liegen
und kocht sich Abendessen. Eine alte
Elefantenkuh wird von einem Tiger zerfetzt, ein Insektenweibchen in einer futuristischen Galaxie im Flug zermalmt
und ein junges Mädchen in einem amerikanischen Gefängnis gesteinigt. In den
neun Liebesgeschichten in Rajesh Parameswarans «Ich bin Henker» gibt es
keine Romantik, keine Liebeserklärungen, keine Zärtlichkeit. Im Gegenteil, es
geht in den meisten von ihnen ganz
grausam zu und her.
Parameswarans ungewöhnliches Début besticht mit einer enormen Vielfalt
verschiedener Inhalte und Formen. Es
geht da um einen ebenso ambitiösen
wie paranoiden Bahnhofsvorsteher in
einem indischen Dorf des frühen zwanzigsten Jahrhunderts; um einen sexuell
frustrierten Henker, der in radebrechender Sprache «schreckliche und aufwühlige Pflichten» seiner Arbeit erläutert;
und um einen Mann, der sich eigenmächtig als Chirurg ausgibt – mit katastrophalen Konsequenzen. Der zensierte
Bericht einer Spionin in einem totalitären Staat steht neben dem wörtlich zähneknirschenden Geständnis eines ausser Kontrolle geratenen Tigers. Unter
den vielen Ich-Erzählern gibt es eine
Elefantenkuh, die ihre Gefangennahme
verarbeitet, und ein Insektenwesen, das
in der Andromeda-Galaxie im Jahr 2319
als Leichenbestatter waltet.
Der in Indien geborene, in Texas aufgewachsene und heute in New York lebende Autor beweist Mut in diesen Texten mit ihren eigenwilligen Handlungen,
ihren tierischen und exzentrischen IchErzählern und kreativen Sprachexperimenten – etwa in den Wortschöpfungen
für die Insektenwelt der Zukunft oder
den Sprachfehlern des ausländischen
Henkers. Vor allem experimentiert Parameswaran, der zurzeit an seinem ersten Roman arbeitet, in mehreren Geschichten mit einer faszinierenden Meta-Ebene, die den Leser ziemlich durcheinanderbringt.
In «Stellungsnahme der Agentin 974702» lässt er den Text tun, was die Spionin tut, nämlich alles Interessante zensieren. In «Viermal Rajesh» beginnt die
von einem vergilbten Foto eines Brahmanen inspirierte Figur die Erzählung
zu kommentieren und sich lautstark von
den Darstellungen des Autors abzugrenzen. Am Ende stellen sich diese widerspenstigen Einwürfe aber wieder als
vom Autor erfunden heraus – oder doch
nicht: «Ich weiss es durchaus zu schätzen, dass du mich wie eine Art Marionette zum Leben erweckst und meine
Worte zu Papier bringst, bis hin zu diesen neunmalklugen Einwürfen.» Und
in der Autobiographie
einer Ele-
Lyrik Die Westschweizerin Claire Krähenbühl überzeugt mit musikalischen Texten
Den Worten Leben eingehaucht
Claire Krähenbühl: Ailleurs peut-être.
Vielleicht anderswo. Gedichte.
Französisch und deutsch. Übersetzung
von Markus Hediger. Wolfbach,
Zürich 2013. 116 Seiten, Fr. 30.–.
Von Manfred Papst
In der welschen Schweiz ist die Lyrikerin und Erzählerin Claire Krähenbühl
längst ein Begriff. Neun Gedichtbände
hat sie bisher veröffentlicht, dazu vier
Bände mit Kurzgeschichten sowie ein
Prosawerk, das sie zusammen mit ihrer
Zwillingsschwester Denise Mützenberg
verfasst hat. Östlich des Röstigrabens ist
die Autorin, die 1942 in Yverdon-lesBains zur Welt kam und an der École des
Beaux-Arts in Lausanne studierte, bevor
sie sich zur Krankenschwester ausbildete, noch zu entdecken.
Eine gute Gelegenheit dazu bietet
eine schmale, aber substanzielle Anthologie, die der renommierte Übersetzer
Markus Hediger herausgegeben und mit
einem kundigen Nachwort versehen hat.
Der Band «Ailleurs peut-être / Vielleicht anderswo» versammelt Gedichte
von 1991 bis 2010. Sie sind auf den ersten
Blick einfach, auf den zweiten aber
höchst komplex. Mitunter verraten sie
den Blick der bildenden Künstlerin und
Collagistin. Meist gehen sie von Alltagsbeobachtungen aus. Pflanzen, Insekten,
Vögel, Menschen kommen in unser
Blickfeld. Obwohl die Autorin ohne
grosse Worte auskommt, bewegen wir
uns in einem poetisch aufgeladenen
Raum. Die Luft atmet, das Licht schim-
mert, das Wasser fliesst, leuchtet und
murmelt. Mitunter ereignet sich eine
kleine Geschichte. Aber dann steht die
Zeit wieder still. Vieles bleibt im Ungewissen, ist mehr zu ahnen als zu sehen.
Die französischen Originaltexte von
Krähenbühl sind von ganz eigenem Zauber. Aber auch Hedigers Übertragungen
haben es in sich. Sie sind mehr als blosse
Wort-für-Wort-Übersetzungen. Sie sind
dem Ungesagten oder nur unterschwellig Mitgeteilten auf der Spur. Hediger
achtet auf die Satzmelodie. Auf Homophone, versteckte Anspielungen, Doppeldeutigkeiten. In seinem Nachwort
führt er einige Beispiele an, die belegen,
wie exakt und einfühlsam er arbeitet.
Fazit: Eine geglückte Kooperation, ein
stilles, aber betörendes Buch, dem man
viele Leser wünscht. l
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman In ihrem fünften Buch beschwört Linn Ullmann Familiengeheimnisse, hinter denen sich
Tragödien verbergen
Vordergründig harmonisch
Linn Ullmann: Das Verschwiegene.
Aus dem Norwegischen von Ina
Kronenberger. Luchterhand,
München 2013. 352 Seiten, Fr. 28.40.
Von Verena Stössinger
«Zunächst war ihnen nicht klar, was sie
gefunden hatten», den drei Jungen. Der
Schatz jedenfalls ist es nicht, eher «das
Gegenteil von einem Schatz». Eine Leiche; schon arg zersetzt.
Linn Ullmanns Roman beginnt wie
ein Krimi. Die Tote, stellt sich heraus, ist
Mille, die vor zwei Jahren verschwand,
jene Neunzehnjährige, die Siri und Jon
angestellt hatten, um in den Sommerwochen bei den Kindern zu sein. Selber
hatten sie dafür keine Zeit; Siri führt
zwei Restaurants, und Jon will endlich
den dritten Band seiner Trilogie zu Papier bringen, auf den schon niemand
mehr wartet. Und Jenny, Siris fünfundsiebzigjährige Mutter, der das weisse
Haus im Küstenstädtchen gehört, in
dem die Familie ihre Sommer verbringt,
denkt nicht ans Enkelhüten.
Mille verschwindet beim Geburtstagsfest, das Siri unbedingt für ihre Mutter ausrichten will, auch gegen deren
Willen. Während die Gäste im Nieselregen um die Tische im Garten herumstehen, schliesst die Mutter sich in ihrem
Zimmer ein und trinkt sich voll. Zuvor
ist sie zwanzig Jahre lang trocken gewesen; aber in jenem Sommer bricht die
sorgfältig behauptete Familienharmonie
Malerei Trautes Heim in der Fremde
So sehen heute wohl Orte aus, an denen die
Sehnsucht nach Vertrautheit sich mit derjenigen nach
Fremde verbindet: Ein Wohnwagen steht an einem
Strand. Hier ist man weg von Arbeit und Haus und via
Satellitenschüssel doch jederzeit mit der ganzen Welt
verbunden. Was hinter den Jalousien vor sich geht,
wissen wir nicht. Dass es nicht das reine Glück ist,
nehmen wir an. Der blaue Himmel schwebt über der
bünzlig akkuraten Bleibe wie ein Damoklesschwert.
Ingmar Alge kennt die Träume vom trauten Heim seit
Kindertagen: Er ist in einer Vorarlberger Baufirma
gross geworden. Und er hat sie von Anfang an zum
Gegenstand seiner Malerei gemacht. Penibel sind die
Bausparerhäuschen im vorarlbergischen Dornbirn auf
seinen Bildern von jeder menschlichen Zutat
gereinigt, bis sie Chiffren der Unbehaustheit wurden.
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
Schnell kamen die Ikonen der Befreiungsphantasien
hinzu: Wohnwagen, Strände, Strassen und Flughäfen,
die wir nutzen, um gesichert auf Abenteuer zu gehen.
Seit geraumer Zeit malt der 1971 in Höchst geborene
Künstler auch, wie Migranten in die Pseudoidylle
eindringen. Ingmar Alge tut das mit derselben
sachlichen Unterkühlung, die seine Malerei
insgesamt bestimmt. Wer die erste umfangreiche
Monografie über den Maler durchblättert – sie wurde
von Markus Stegmann herausgegeben –, sieht: Da ist
ein wenig Alex Katz, eine deutliche Nähe zum
Generationskollegen Tim Eitel und doch eine ganz
eigene Fremdheit in der Welt, wie man sie wohl nur in
Vorarlberg kennt. Gerhard Mack
Markus Stegmann (Hrsg.): Ingmar Alge. Hatje Cantz,
Ostfildern 2013. 184 Seiten, 195 Abbildungen, Fr. 57.–.
ohnehin in sich zusammen. Nicht nur,
weil Mille verschwindet. Davon erzählt
dieser dichte, menschenkluge Text, der
sich vom Krimigenre nur den Einstieg
leiht, Suspensetechniken sowie das analytische Verfahren: von einer Familie, in
der jeder mit seinen Schatten kämpft
und mit dem anstrengenden Wunsch,
eigenen und fremden Ansprüchen (endlich) zu genügen.
Der fünfte Roman der nicht mehr nur
in Norwegen bekannten Linn Ullmann,
der Tochter der Schauspielerin Liv Ullmann und des Regisseurs Ingmar Bergman, zeigt wieder ihre Fähigkeit, kantige
und unerlöste Figuren so gegeneinander
in Beziehung zu setzen, dass menschliche Tragödien geradezu unausweichlich
werden.
Die alte Jenny beispielsweise ist nie
über den Tod ihres Sohnes Syver hinweggekommen; vom Mann verlassen,
überliess sie die Kinder oft genug sich
selbst, und der Junge ertrank, während
Siri, die grosse Schwester, auf ihn aufpassen sollte. Siri trägt seither an diesem Tod, an dieser Schuld, und kämpft
um die Anerkennung der Mutter – und
natürlich fällt ihr der Entschluss nicht
leicht, die eigenen Kinder der verträumten Mille zu überlassen. Aber was bleibt
ihr anderes übrig?
Ihre Restaurants sichern der Familie
das Auskommen, seit Jon diese «Schreibblockade» hat und sich zwischen halbherzigen Seitensprüngen nur am
Schreibtisch festklammert. Es hätte aber
trotz allem noch eine Weile gut gehen
können, obwohl auch Alma, die ältere
ihrer zwei Töchter (und eine der spannendsten Figuren), immer unbegreiflicher wird – aber dann verschwindet
Mille, die sich geschworen hatte, «in
diesem Sommer eine andere zu werden». Zuletzt gesehen wird sie an Jennys
traurigem Fest, in jener Nieselregennacht; da trägt sie ein rotes Kleid, Stöckelschuhe und geht hinunter ins Städtchen. Wir erfahren noch, wie einer aus
dem Dorf, den alle nur KB nennen, sie
im Splitt neben der Strasse vergewaltigt;
alles Weitere müssen wir uns, genau wie
die Figuren, vorstellen.
Die Autorin Linn Ullmann erzählt –
geduldiger und weniger bestürzend befremdlich als etwa noch in «Die Lügnerin» (dt. 1999) – aus verschiedenen Perspektiven, blendet in der Zeit vor und
zurück und zieht dabei das Netz, das
über den Figuren liegt, mit gleichsam
bedauernder Logik langsam zusammen,
bis sie schliesslich doch noch Gnade
walten lässt.
Oder sind bloss alle erschöpft und ergeben sich? Jon und Siri scheinen sich zu
arrangieren, Jon sucht sich eine ordentliche Arbeit und Mutter Jenny kann endlich sterben, das weisse Haus wird verkauft. Zuletzt tauchen gar Milles Eltern
noch auf, sie haben so viele Fragen – und
Siri bittet zu Tisch, obwohl nur noch
Reste da sind. l
Requiem Der österreichische Büchner-Preisträger Josef Winkler schreibt über das, was ihn verstört
Das Schweigen der Mutter
Josef Winkler: Mutter und der Bleistift.
Suhrkamp, Berlin 2013. 91 Seiten,
Fr. 21.90, E-Book 15.90.
Josef Winkler: Wortschatz der Nacht.
Suhrkamp, Berlin 2013. 110 Seiten,
Fr. 21.90, E-Book 15.90.
Als die 18-jährige Maria Winkler, die
spätere Mutter des Ich-Erzählers, eines
Tages von der Landfrauenschule ins
kleine Kärntner Bauernkaff Kamering
zurückkehrt, begrüsst ihre Mutter sie
mit den seltsamen Worten: «Mitzele!
Der Adam kommt auch heim, aber anders!» Der dritte Bruder ist im Krieg gefallen, die Bauernfamilie igelt sich in
ihrem Schmerz ein und spricht kaum
mehr ein Wort. Nicht untereinander und
auch nicht mit anderen. Ihr Leben lang
sei die Mutter, die 87-jährig verstorben
ist, eine Schweigende gewesen, schreibt
Josef Winkler in seinem Requiem «Mutter und der Bleistift».
Über die stille Mutter hatte Winkler
bisher nur wenig geschrieben. In Büchern wie «Menschenkind» (1979),
«Der Ackermann aus Kärnten» (1980),
«Muttersprache» (1982) oder «Roppongi. Requiem für einen Vater» (2007)
steht stets der allmächtige Vater im Zentrum. Er, der im biblischen Alter von
99 Jahren verstarb, war der Patriarch
und Alleinherrscher über die Familie,
ihm hatten sich alle unterworfen. Dagegen halten konnte einzig Sohn Josef,
indem er in Literatur verwandelte, was
ihn bedrängte und verstörte. Und zwar
in einer sprachlichen Präzision, die
einem Gänsehaut über die Arme jagt.
Winkler leuchtet das katholische
Bauernmilieu bis in den hintersten
Herrgottswinkel aus, ohne dabei nur Beobachter oder Chronist zu sein. «Wenn
einen einmal das Katholische getroffen
hat, wenn einem der Kirchturm vorne
ins Herz gegangen ist und hinten wieder
hinaus, dann wird man das nie wieder
los», sagte er einmal im Wissen darum,
immer selber auch Teil seiner Bücher zu
sein. Doch um überhaupt schreiben zu
können, ist er oft unterwegs. Das Requiem auf die Mutter schrieb er auf einer
Indien-Reise zwei Jahre nach ihrem Tod.
Weihwasser für die Nerven
Maria Winkler lebte zeitlebens in Kamering, zog schwanger vom elterlichen
Bauernhof auf den Hof ihres fast zwanzig Jahre älteren Mannes, brauchte ihren
Nachnamen nicht zu wechseln, weil
auch ihr Mann Winkler hiess, und merkte sehr bald, dass sie als junge Bäuerin
nichts zu sagen hatte. Sie erduldete ihr
Los und begehrte kaum je auf; trank
Weihwasser, damit sich ihre Nerven aufhellten, und als das Weihwasser nicht
mehr helfen wollte, schluckte sie jahrzehntelang Psychopharmaka. Mit ihrer
Schwiegermutter wechselte sie wochenlang kein Wort; als diese schliesslich
SUSANNE SCHLEYER
Von Sandra Leis
Josef Winkler
leuchtet das
katholische Milieu
eines Kärntner
Bauerndorfs bis in die
hintersten Ecken aus.
starb, soll sie hörbar aufgeatmet haben:
«Sie sagte kein Wort zu ihrem Mann
(…), kein Wort des Mitleids, kein Wort
des Beileids kam von ihren Lippen.»
Geredet hat sie also kaum – zumindest nicht über das, was sie im Innersten
bewegte. Sie war unnahbar und schottete sich ab, gleichzeitig gab es eine Nähe
zu ihrem Sohn Josef, der ihr als «Mädchenbub» oft und gerne zur Hand ging.
Umgekehrt liess sie ihn gewähren, beispielsweise wenn er am Küchentisch
sass und mit dem Bleistift in seine Hefte
kritzelte. Er durfte auch schreiben, allerdings nicht mit der linken Hand, das
trieb ihm die Mutter aus.
Rauschhaftes Frühwerk
Peter Handkes Werke «Wunschloses
Unglück» (1972) und «Die Geschichte
des Bleistifts» (1982) klingen in Winklers Requiem an – er zitiert ausführlich
Handke und auch Ilse Aichinger, so wie
er in seinem Œuvre immer wieder Passagen von Kolleginnen und Kollegen
wiedergibt und beharrlich weiterarbeitet am «österreichischen Herkunftskomplex» (Thomas Bernhard). Eine besondere Faszination üben auf ihn, den
einstigen Ministranten, Sterben und Tod
aus. Gleichzeitig machte ihm als Bub
nichts mehr Angst als die Vorstellung,
dass die Mutter eines Tages wegsterben
könnte. Monatelang weinte er vor dem
Einschlafen heimlich um die Mutter,
und am Morgen eilte er in die Frühmesse, um am Altar für sie zu beten. Viele
Jahre später, als sie tatsächlich starb,
legte er ihr als letzte Gabe eine Glasflasche voll Weihwasser in den Sarg.
Neben diesem eindringlichen Requiem auf die Mutter ist heuer ein weiterer
Text von Winkler erschienen: Zum
60. Geburtstag des Autors hat der Suhrkamp-Verlag ein Frühwerk von 1979
erstmals als Buch herausgegeben. Damals veröffentlichte die Grazer Avantgarde-Zeitschrift «manuskripte» den
Text unter dem Titel «Das lächelnde
Gesicht der Totenmaske der Else Lasker-Schüler»; heute ist das Buch überschrieben mit «Wortschatz der Nacht».
Satzgirlande reiht sich an Satzgirlande, unterbrochen von nur wenigen Absätzen. Entstanden sind diese hundert
Seiten rauschhafter Prosa in einem
«Wortanfall» weniger Nächte direkt
nach der Niederschrift von Winklers
Erstling «Menschenkind». Der Autor,
der als 26-jähriger Bauernsohn direkt
bei Suhrkamp landete, reagierte auf die
heftigen Reaktionen, die sein Buch in
Kamering ausgelöst hatte. Er schrieb:
«Es erfüllt mich nicht gerade mit Stolz,
wenn ich sagen muss, dass mehrere
Menschen in diesem Dorf mit meinem
Tod spekulieren. Ich weiss, dass ich seit
der Veröffentlichung meines ersten Buches zutiefst (. . .) verachtet werde.»
Hauptgrund dieser Verachtung ist, dass
Winkler es gewagt hatte, über den Liebesdoppelselbstmord zweier 17-jähriger
Burschen zu schreiben. Mittlerweile gehört dieses Sujet mitsamt Kalbstrick zu
seinem festen literarischen Repertoire,
variiert in beinahe jedem neuen Buch.
Wo in der Dorfchronik nichts weiter als
die Namen und das Todesdatum notiert
sind, hakt Winkler nach. Er bannt in
Worte, worüber andere schweigen.
Josef Winkler schreibt seit seinen Anfängen am gleichen Buch – mit einer Besessenheit und sprachlichen Dringlichkeit, dass der kleine dörfliche Kosmos
immer auch Spiegel der ganz grossen
Welt ist. l
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Peter Rosei konfrontiert eine Bankdirektorin mit ihrem bedrückenden Alltag und placiert
lustvoll Seitenhiebe gegen seine Hauptfigur
Nur die Oper macht sie glücklich
Peter Rosei: Madame Stern. Residenz,
Salzburg 2013. 153 Seiten, Fr. 28.40.
Schon der erste, so pausbäckig leserfreundlich daherkommende Satz in
Peter Roseis neuem Roman hat seine –
grossartigen – Tücken: «Wie es dazu
kam, dass Johann Maiernigg, Vater des
nachmalig berühmten Ministers, in
die Elektrobranche, in den Handel mit
Elektro- und Haushaltsgeräten, einstieg,
müssen wir hier offenlassen.» Man fragt
sich unwillkürlich: «Elektrobranche?»
Geht das? Und wer ist der Fiesling, der
«hier» irgend etwas mutmasslich an Banalität nicht zu Überbietendes offenlassen zu müssen meint? Es sind, indem sie
im weiteren Verlauf des Buchs in nur
gnädig zu nennender Lässigkeit unbeantwortet bleiben, bedenklich müssige
Fragen; gleichwohl wird darauf zurückzukommen sein. Vorerst jedoch sei das,
was man guten Gewissens Handlung
nennen darf, kurz umrissen.
Im Zentrum des Geschehens steht
Frau Dr. Gisela Stern, vom Autor wie
von ihrem Mann Edi gern Gisi genannt.
Nach ausführlichen Rückblicken auf
ihre Jugend und die Zeit der Ausbildung
tritt sie uns als dreissigjährige Bankdirektorin entgegen, bestens aufgehoben in den höheren Kreisen Wiens, umworben von allerlei zwielichtigen Gestalten aus Politik, Wirtschaft, Kunst.
Richtig glücklich fühlt sie sich nur in der
Oper, am unglücklichsten auf der «Tag
und Nacht von Arien durchklungenen»
Toilette in einer unweit der Oper gelegenen unterirdischen Fussgängerpassage. Der Anblick des kleinen Hündchens
der Klofrau bringt sie derart aus der
Fassung, dass ihr beim Verrichten ihres
Geschäfts die Tränen kommen. Es ist die
einzige echt, ja berührend wirkende
Szene in dem Buch.
Von boshafter Ironie
Der Rest erscheint weitgehend als von
einer einigermassen boshaften Ironie
imprägniert; auch das Wort Sarkasmus
böte sich an. Als Beispiel sei das Resultat der Musterung ihres nackten Körpers im Spiegel genannt: «Was sie sah,
war so gar nicht nach ihrem Geschmack,
der Anblick ihres Körpers entzückte sie
wenig, ja erfüllte sie gelegentlich mit
Widerwillen: Was für elende Titten! Die
Makel an der Haut ihres Bauches, ihrer
Hüften – weil ich als Kind einfach zu
viel gefressen hab’! Auch ihr Haar passte
ihr nicht, die spitzen Knie noch weniger,
die breiten, spatelförmigen Zehen. Der
Gesamteindruck war ungünstig. Und
doch ging eine Art Wucht, ein deutlich
spürbarer Bann von ihrem Spiegelbild
aus: Wärme, ja rasch aufsteigende Hitze,
die, aufs Erste besehen, sie dann aber
wohlig erschauern liess. Das bin ich,
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
LAURA LETINSKY / GALLERY STOCK
Von Bruno Steiger
«Das bin ich und
keine andere!», denkt
die Protagonistin in
Peter Roseis neuem
Roman und ist vom
Anblick ihres Körpers
im Spiegel wenig
begeistert.
dachte sie etwa, das bin ich und keine
andere!»
Das kann ja nicht gutgehen, denkt
man beim Lesen unwillkürlich, all die
Selbstmorde im Buch wie der bedrückende Schluss bestätigen den Verdacht.
Auch wo Rosei immer wieder einmal so
etwas wie Mitgefühl mit seinen Figuren
durchschimmern lässt, ist nicht zu übersehen, dass er sie ausnahmslos für mies
und windig hält. Ja, windig. Der Autor
selbst nennt das Wort an prominenter
Stelle und in einer Beiläufigkeit, die keinen Zweifel daran lässt, dass es für den
konzeptuellen Ansatz des ganzen Romans steht. Für den Befund sprechen
nicht zuletzt die zahlreichen Einwürfe,
in denen dem Leser signalisiert wird,
dass alles Vorgebrachte auch ein klein
wenig anders sein könnte. Man könnte
von Warnungen sprechen, die den
Roman wie einen roten Faden durchziehen: «Es wäre nicht ganz falsch zu behaupten, dass …»; «wir tragen das rasch
nach»; «wer weiss», oder gar, in Bezug
auf einen Strassennamen: «Die Ortsangabe tut freilich wenig zur Sache. Es
hätte genauso gut an irgendeiner anderen Stelle der Stadt sein können.»
Gänzlich falsch wäre es nun, zu denken, der Autor selbst traue seiner Sache
nicht ganz. Diese Seitenhiebe der Erzählerstimme sind als streng formale Massnahmen zu sehen; sie bilden nicht nur
im vorliegenden Buch Roseis bevorzugtes, lustvoll zelebriertes Stilmittel. Es
drückt sich darin, ähnlich wie etwa bei
Jean Echenoz, eine Skepsis gegenüber
konventioneller Belletristik im Allgemeinen aus, vielleicht sehr gezielt auch
gegenüber der heute marktbestimmenden Erzählseligkeit. Eine Kritik an tumbem Inhaltismus lässt sich daraus nicht
ablesen, im Gegenteil. Roseis freudesattes Gespür für Trivialitäten der hübschen wie der weniger hübschen Art
tritt in seinem ganzen Werk zutage.
Vergnüglich zu lesen
Was in «Madame Stern» besonders auffällt, ist eine deutliche Veränderung von
Roseis Menschenbild. Im Vergleich
etwa zu den traumverlorenen Exponenten seiner zauberhaften Prosa «Die
Milchstrasse» aus dem Jahre 1981 ist das
Personal seiner letzten Romane schrecklich aufgewacht in eine abgrundtief
hässliche, zugleich bedrückend real anmutende Alltagswirklichkeit. In dieser
Hinsicht kann «Madame Stern» als geradezu idealtypischer Beleg gelten: als
Höhepunkt eines literarischen Unternehmens, das in einem rund 50 Titel
umfassenden Werk von poesievoller
Wehmut zu einem hoch ernüchterten
Realismus vorgestossen ist. Zu hoffen
bleibt, dass sich Peter Rosei dem heute
fast schon zum Befehl gewordenen Ruf
nach einer «Literatur, die etwas taugt»
auch fürderhin in derart virtuoser und
listiger, vergnüglich zu lesender Weise
verschliesst. l
E-Krimi des Monats
Schnitzeljagd in Dantes Welt
Dan Brown: Inferno. Lübbe, Köln 2013.
685 Seiten, Fr. 29.90, E-Book 24.40.
Man nehme einen Helden, der die Welt
retten muss; einen üblen Bösewicht,
der eben diese zerstören will; eine Verfolgungsjagd, die sich über vier Fünftel
des gesamten Romans erstreckt; sowie
ein paar Rätsel, die der Held erraten
muss. Das alles drapiere man vor einem
kunsthistorischen Bühnenbild – und
fertig ist der neue Dan-Brown-Roman.
Brown setzt im neuen Thriller «Inferno» auf sein bewährtes Strickmuster, das zweifelsfrei funktioniert. Sein
Held ist erneut der Tweedjacken-Liebhaber Robert Langdon, ein HarvardGelehrter für Symbolik. Dieses Mal findet sich Langdon übel zugerichtet und
mit einer Gedächtnislücke in einem
Spital in Florenz wieder. Kaum erwacht, beginnt seine Flucht – weil eine
Frau mit gezogener Waffe in sein Zimmer stürmt. Ein Umstand, der ihm auch
gleich eine Lebensretterin und Komplizin beschert: die hyperintelligente Ärztin Sienna Brooks. Die beiden werden
mit einer Verschwörung konfrontiert,
die ihre Wurzeln in einem der dunkelsten Meisterwerke der Literatur hat: in
Dantes «Göttlicher Komödie».
Nach den Kardinälen und Tempelrittern, die in früheren Büchern Geheimwissen vertuschten, ist die Reihe nun
an der Wissenschaft; an einer transhumanistischen Geheimloge, die das
Überleben der Menschheit auf der
überbevölkerten Erde per Gentechnologie steuern will. Ihr Kopf ist der Dante-Fan und Biochemiker Bertrand Zobrist, der zwar nach vier Seiten bereits
dahin geht, dessen in Gang gesetzter
Plan jedoch die gesamte Mannschaft
des Romans über 685 Seiten auf Trab
hält.
Die Schnitzeljagd führt durch Dantes
Florenz, nach Venedig und bis nach Istanbul, wobei Brown zugleich als Kulturführer taugt; seitenweise werden
Gebäude, Geschichte und Kunstwerke
erläutert. Ansonsten liest sich das Buch
wie ein Actionfilm, eine Mischung zwischen Indiana Jones und James Bond.
Wobei es sich empfiehlt, nicht immer
genau hinzulesen; dann nämlich, wenn
die Sätze gespickt sind mit Floskeln
und Plattitüden.
Doch bei Browns Lesefutter
wird der Nährwert aus der
Spannung generiert. Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger; man wird genötigt, weiter
zu lesen. Gelungen ist, dass der
Held sein Ziel verfehlen
mag – und gerade
sein Versagen womöglich die Rettung der Menschheit bedeutet. Nett
auch, dass der Bösewicht, der so
böse gar nicht ist,
ein Schweizer ist.
Von Christine
Brand l
Kurzkritiken Belletristik
Christine Brand: Kalte Seelen.
Kriminalroman. Landverlag, Langnau 2013.
354 Seiten, Fr. 29.-.
Victor Zaslavsky: Der Sprengprofessor.
Lebensgeschichten. Wagenbach, Berlin 2013.
144 Seiten, Fr. 22.90.
2008 erschien der erste Kriminalroman
der «NZZ am Sonntag»-Redaktorin
Christine Brand. «Kalte Seelen» ist ihr
viertes Buch und der zweite Fall um
Milla Nova, Journalistin beim Schweizer
Fernsehen mit einem Faible für brisante
Geschichten und brenzlige Situationen.
So lässt sie sich diesmal für einen TVBeitrag im Frauengefängnis einsperren.
Der Krimi beginnt mit dem Prozess
gegen jenen Mann, der im letzten Buch
versucht hat, Milla Nova zu töten. In
einer dramatischen Aktion wird er vor
dem Gerichtsgebäude befreit – oder entführt? Im Frauenknast lernt die Journalistin die mutmassliche Mörderin Flor
kennen und wird nach und nach mit
ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Wie schon in ihren bisherigen
Büchern beeindrucken auch diesmal
Brands fundierte Recherche, detailgenaue Schilderungen und starke, differenziert gezeichnete Frauenfiguren.
Regula Freuler
Bekannt wurde er als Historiker, Politologe und Soziologe. Doch Victor Zaslavsky, der 1937 in Leningrad geboren
wurde und 2009 in Rom starb, war auch
ein begnadeter Erzähler. 1975 emigrierte
er aus der Sowjetunion und unterrichtete fortan als Professor in Kanada, Amerika, Italien. Die hier in einem schönen
kleinen Sammelband vorliegenden Erzählungen schrieb er auf Italienisch. Sie
sind sehr persönlich gehalten und beleuchten den Stalinismus aus ungewohnter Perspektive. Zaslavsky schildert hier das kommunistische Russland
seiner Kindheit, Jugend und Studentenzeit in seiner ganzen Absurdität. In
scheinbar lapidaren Erzählungen fasst
er den Alltag von damals in eindringliche Bilder. Er beschreibt die Konflikte
eines Bürgers jüdischer Herkunft mit
dem totalitären Machtapparat aufs Eindringlichste und findet dabei sogar zu
entwaffnender Komik.
Manfred Papst
Élémir Bourges: Götterdämmerung.
Roman. Deutsch von Alexandra Beilharz.
Manesse, Zürich 2013. 474 Seiten, Fr. 35.40.
Delphine de Vigan: Das Lächeln meiner
Mutter. Autobiografischer Roman. Droemer,
München 2013. 384 S., Fr. 28.90, E-Book 27.20.
Der französische Autor Élémir Bourges
(1852–1925) ist im deutschen Sprachraum
bisher so gut wie unbekannt. Das dürfte
sich jetzt ändern: Zum Wagner-Jahr 2013
hat der Manesse-Verlag erstmals ein
Werk des Décadence-Erzählers übersetzen lassen. Der 1884 erschienene Roman
«Götterdämmerung» («La Crépuscule
des dieux») spielt am Hof des Herzogs
von Blankenburg. Dort dirigiert Wagner
gerade ein Konzert für Karl von Este, als
die Preussen einfallen. Das Fest muss
abgebrochen werden, der Komponist
und sein Gönner entkommen nach Paris.
Bourges’ so schwülstiger wie spannender Roman reflektiert, wie Albert Gier
in seinem Nachwort zeigt, den französischen Wagner-Kult aufs Trefflichste;
zudem reiht er sich in die Tradition
erzählender Prosa von D’Annunzio über
Proust bis zu Thomas Mann ein, die
vom Komponisten beeinflusst war.
Manfred Papst
«Du wirst deinen Roman in einem positiven Ton ausklingen lassen», wurde sie
von ihrer Tante ermahnt. Delphine de
Vigan kam dem Wunsch nach: Am Ende
ihrer autobiografischen Spurensuche
versöhnt sich de Vigan, die 1966 in
Frankreich geborene, in viele Sprachen
übersetzte und vielfach preisgekrönte
Autorin, mit dem Freitod ihrer Mutter
Lucile. Obwohl de Vigan früh merkte,
dass es keine abschliessende Wahrheit
gab, sprach sie mit allen, «die Lucile
gekannt haben und diese vergnügte, vernichtete Familie, die wir bilden». Sie erfährt von heller Zuversicht und dunklen
Geheimnissen, von tragischen Unfällen
und mutmasslichem Missbrauch, von
Verschweigen und Hadern. In die wechselnde Erzählperspektive flicht die
Autorin auch die Entstehungsgeschichte
dieses Buches ein. Eine bewegende Lektüre, trotz fragwürdiger Übersetzung.
Regula Freuler
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Essay
Georg Büchner (1813-1837), der auch in Zürich gelebt hat, hinterliess ein
Werk, das mit seiner Sprachgewalt, der Wucht seiner Dialoge und der
Atemlosigkeit seiner Prosa eine Herausforderung für jeden Leser ist.
Manfred Koch hat sich mit dem Frühverstorbenen auseinandergesetzt
«Ich komme aus
dem Leichendunst»
Georg Büchner
Georg Büchner wird am 17. Oktober 1813 in
Goddelau, Hessen, geboren. Für das Studium der
Medizin zieht er nach Strassburg und kommt
erstmals in Kontakt mit revolutionärem
Gedankengut. 1834 beteiligt er sich in Giessen
an der Gründung der «Gesellschaft der
Menschenrechte». Ein Jahr später entsteht
«Dantons Tod», Büchner flieht nach Strassburg
und beginnt mit dem Studium der Naturwissenschaften. Es folgen «Lenz» und «Leonce und
Lena». 1836 promoviert Büchner in Zürich über
das Nervensystem der Fische. Zusammen mit
anderen politischen Flüchtlingen aus Deutschland wohnt er in der Spiegelgasse 12. Im Februar
1837 stirbt er an Typhus, wird auf dem Friedhof
der Grossmünster-Gemeinde bestattet und
später umgebettet.
Lesenswerte Neuerscheinungen zu Büchner:
• Hermann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte
eines Genies. C. H. Beck, München 2013.
• Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner.
Verschwörung für die Freiheit. Hoffmann und
Campe, Hamburg 2013.
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
kann man sich ihnen allerdings kaum entziehen. Denn staunend steht man vor einem Werk,
das zwar fraglos der geniale Wurf eines Jünglings ist, zugleich aber wie etwas Letztes, Unüberbietbares – und in diesem Sinn: wie ein
abschliessendes Vermächtnis – wirkt.
Büchner wollte nicht sterben in jenem Zürcher Halbjahr 1836/37, in dem er nach Erhalt des
Doktortitels und der Ernennung zum Universitätsdozenten erstmals berufstätig war (allerdings sass in seinem Kolleg «Zootomische Demonstrationen» am Ende nur ein interessierter
Hörer). Er war ein anerkannter Naturwissenschafter, der bald eine Professur bekommen
musste. Die Heirat mit seiner Strassburger Verlobten Wilhelmine Jaeglé war in greifbare Nähe
gerückt. Sein Vater, der strenge Medizinalrat
Ernst Büchner, der den Kontakt abgebrochen
hatte, war angesichts der eingeschlagenen akademischen Laufbahn wieder versöhnt. Der Typhus raffte Georg Büchner also in einer Phase
dahin, in der sein Leben sich gerade zu konsolidieren begann. Man mag heute erschrocken
schmunzeln, wenn man sich Büchner als verheirateten Anatomieprofessor vorstellt, der die
Literatur aufgegeben hat oder nur noch in Nebenstunden schreibt (womöglich weniger
wilde, «klassische» Dramen). Fest steht indes,
dass die wissenschaftliche Karriere zuletzt sein
erklärtes Lebensziel war und er für ihr Gelingen mit einer geradezu titanischen Arbeitswut
Tag für Tag Legionen von Tierleichen zerlegte.
Beschwörung des Todes
Auf der anderen Seite kann Büchners Werk als
eine einzige Beschwörung des Todes gelesen
werden. Schon die Texte des Gymnasiasten
handeln von Selbstmord und Heldentod. Sein
erstes Drama heisst «Dantons Tod», im Zentrum steht die Hinrichtungsmaschinerie der
Französischen Revolution. «Woyzeck», das
letzte Drama, bringt einen Mord aus Eifersucht
auf die Bühne, «Lenz» ist die Darstellung eines
Abgleitens in den Wahnsinn, der vom Helden
der Erzählung als Totsein bei lebendigem Leib
empfunden wird. Und auch die Komödie «Leonce und Lena» wartet mit bizarren Todesbildern auf: «Adio, adio, meine Liebe, ich will
deine Leiche lieben.»
Büchner umkreist den Tod in allen seinen Facetten, auch und gerade den krude-körperlichen. Mit Leichen kannte er sich aus. Schon als
Schüler durfte er an den öffentlichen Sektionskursen seines Vaters teilnehmen. Als Medizinstudent griff er selbst zum Skalpell. «Ich komme
eben», schreibt der 18-Jährige, «aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich
mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige.» Typisch für Büchner ist die plötzliche,
brutale Überblendung von Anatomie und Reli-
Büchner ist ein Meister in
der Darstellung jener
existentiellen Langeweile,
die denjenigen befällt, der
anfängt, sich die Frage zu
stellen: «Wozu eigentlich?»
gion, von Gottesbild und «Leichendunst». Was
den zeitgenössischen Bürgern heilig war, ihre
Ideale, die sie phrasenhaft beschworen, wird in
seinem Werk physisch erniedrigt. Danton erklärt in der Sprache der Anatomie die Liebe für
eine Illusion. Die Menschen, belehrt er seine
Frau, wissen eigentlich nichts voneinander, sie
bleiben ihr Leben lang in einer unaufhebbaren
Einsamkeit befangen: «Einander kennen? Wir
müssten uns die Schädeldecken aufbrechen
und die Gedanken einander aus den Hirnfasern
zerren.»
Danton ist Büchners erster nihilistischer
Held, ein Revolutionär, der angesichts des fabrikmässigen Mordens in der Phase der Schreckensherrschaft unter Robespierre nicht nur
den Glauben an die Politik verloren hat. Ein
umfassender Welt- und Daseinsekel lässt ihn
am Sinn jeglichen Handelns zweifeln, angefangen vom morgendlichen Aufstehen und Anziehen bis hin zur Liebesumarmung. Büchner ist
ein Meister in der Darstellung jener existentiellen Langeweile, die denjenigen befällt, der angefangen hat, sich dauernd die Grundsatzfrage
«Wozu eigentlich?» zu stellen. «Ja Herr Pfar-
▼
Sein dickstes Buch, etwas weniger als hundert
Seiten, handelt vom Nervensystem der Flussbarbe. Sein literarisches Werk lässt sich in
einem Tag lesen: drei Dramen, eine Erzählung,
eine politische Kampfschrift. Danach wird
einem allerdings der Kopf schwindeln: eine ungeheure Sprachgewalt auf engstem Raum!
Georg Büchners schmales Werk ist eine Herausforderung für das Nervensystem des Lesers.
Büchner starb am 19. Februar 1837 im Alter
von 23 Jahren an Typhus. Wiederholt, zuletzt
ein halbes Jahr vor seinem Tod, soll er gesagt
haben: «Ich werde nicht alt werden.» Hat die
Atemlosigkeit seiner Prosa, die geballte Wucht
seiner Dialoge damit zu tun, dass er insgeheim
wusste, wie wenig Zeit ihm blieb? Solche Spekulationen sind problematisch, weil sie sich
zum einen nicht weiter belegen lassen und zum
andern an das «romantische» Klischee vom todessüchtigen Dichter rühren. Im Fall Büchners
ULLSTEIN
«Ich werde nicht alt werden», sagte Georg Büchner; er starb mit nur 23 Jahren an Typhus. Die Lithografie stammt von 1835 und zeigt den Autor im Alter von gut 21 Jahren.
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Essay
«Einander kennen? Wir
müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die
Gedanken einander aus den
Hirnfasern zerren», lässt
Büchner Danton sagen.
1834 in Giessen eine «Gesellschaft der Menschenrechte» gründete und dann im Sommer
mit dem «Hessischen Landboten» die Bauern
gegen ihre Unterdrücker auf die Barrikaden
treiben wollte. Büchner betrat die literarische
Szene als politischer Agitator; er ist der nicht so
häufige Fall eines Schriftstellers, der steckbrieflich verfolgt wurde. Seine konspirative
Gruppe flog auf, viele ihrer Mitglieder kamen
ins Gefängnis. Büchner gelang Anfang März
1835 die Flucht nach Strassburg. In den Wochen
zuvor schrieb er, in ständiger Angst vor der Inhaftierung, «Dantons Tod».
Marxistische Interpreten haben lange behauptet, das Drama unterstütze die Position
der Jakobiner. Das war einigermassen dreist.
Der «Blutmessias» Robespierre ist gewiss
keine Identifikationsfigur. Wie aber steht es
mit seinem Gegenspieler, dem unterlegenen,
am Ende geköpften Danton? Ihm hat Büchner
immerhin seinen deutschen Vornamen gegeben: «Georg Danton» heisst er im Personenverzeichnis, nicht Georges. Die Versuchung lag
nahe, nun in Danton das Sprachrohr des Autors
zu erkennen, Dantons Nihilismus als Ausdruck
von Büchners totaler Resignation nach dem
Scheitern seines hessischen Umsturzversuchs
zu verstehen.
Dagegen spricht zweierlei. Zum einen hat
Büchner nie resigniert in dem Sinn, dass er
gänzlich unpolitisch, apathisch geworden wäre.
Die Wut über soziale Ungerechtigkeit, das heftige Mitgefühl für die misshandelten Armen
blieb seine stärkste Triebkraft. Auch in «Dantons Tod» sind die glaubwürdigsten Figuren
die namenlosen Pariser Hungerleider, die nach
Brot schreien und von den Jakobinern mit Aristokratenköpfen abgespeist werden. Abgesagt
hat Büchner damals allein dem Glauben, zum
gegebenen Zeitpunkt durch Agitation und politisches Handeln die Machtverhältnisse ändern
zu können.
Geplagt von Selbstzweifeln
Zum andern erhält Dantons bodenloser Pessimismus im Drama eine zwielichtige Note. Auf
dem Gipfel seiner Macht war Danton der Verantwortliche für die Massaker vom September
1792 gewesen. Mit ihnen begann die radikale
Phase der Revolution, die ihn mit seinen Anhängern nun selbst in den Abgrund reisst. Diese
Schuld des «Septembers» lässt ihn nachts nicht
schlafen. Tags aber neigt er dazu, mit zynischer
Gebärde die Opfer der Revolution für gleichgültig zu erklären. In der sinnlosen Welt gehe
doch sowieso alles einem mehr oder minder
hässlichen Ende entgegen: «Was liegt daran?
Die Leute befinden sich ganz wohl dabei. (. . .)
Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber
oder am Alter sterben? (. . .) Das Leben ist nicht
die Arbeit wert, die man sich macht, es zu erhalten.» Nihilistische Rhetorik kann auch ein
Mittel sein, sich aus der Verantwortung zu
stehlen.
Der Revolutionär Büchner hat niemanden
umgebracht (oder umbringen lassen). Aber
auch er litt unter einem Schuldgefühl: dem des
Davongekommenen gegenüber den Freunden,
die im Gefängnis teilweise fürchterliche Qualen litten. In Danton, dem sprachmächtigen
«Georg» des Dramas, der eine revolutionäre
Begeisterung entfachen kann, die zuletzt katastrophale Folgen hat, spiegelt er seine Selbstzweifel. Hat er im «Hessischen Landboten»
nicht vor allem selbstverliebt seinem rhetorischen Können freien Lauf gelassen? Wofür die,
KEYSTONE
▼
rer», spricht der Dichter Lenz, «sehen Sie,
die Langeweile! die Langeweile! o! so langweilig, ich weiss gar nicht mehr, was ich sagen
soll.»
Für den verzweifelten Lenz ist Gott ein illusorischer «Zeitvertreib», ein Sinn-Spielzeug,
mit dem die Menschen sich über die Grundlosigkeit ihres Daseins hinwegtäuschen. Büchner
ist ungeheuer erfindungsreich in atheistischen
Sprachexperimenten. Mal beschwört eine seiner Figuren einen leeren «groben Himmel»,
der nurmehr dazu tauge, «einen Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen» (Woyzeck). Oder es gibt zwar noch «Götter», aber
die sind ausgesprochen bösartig: «Sind wir
Kinder, die in den glühenden Molochsarmen
dieser Welt gebraten und mit Lichtstrahlen gekitzelt werden, damit die Götter sich über ihr
Lachen freuen?» (Danton). Die Heftigkeit, mit
der hier Gott für seine Abwesenheit bzw. seinen Sadismus angeklagt wird, zeigt allerdings,
wie stark die Sehnsucht dieses Autors nach
einer höchsten Instanz war, die Sinn und Ordnung des Ganzen verbürgt. Georg Büchner war
kein gelassener Atheist.
Büchner-Leser fragen sich seit jeher, wie dieser mal düstere, mal spöttische Pessimismus
zusammengeht mit der anderen Seite seiner
Persönlichkeit: dem Revolutionär, der im März
Georg Büchners Grab mit Inschrift von Georg Herwegh,
heute am Germaniahügel in Zürich Oberstrass.
die ihm folgten, nun büssen müssen? Und ist
das Gefühl der universellen Nichtigkeit, dem er
sich hingibt, nicht auch eine Ausflucht, um
diese Schuld zu verdrängen?
Der Schriftsteller Büchner hat seine Aufgabe
darin gesehen, das Leiden, das der Politiker
Büchner nicht beseitigen konnte, in einer bis
dahin ungekannten Eindringlichkeit darzustellen. Wenn es im «Lenz» heisst, der Dichter
müsse sich «in das Leben des Geringsten» versenken und es wiedergeben, ganz nah, in seinen
«Zuckungen und Andeutungen», dann sind
damit auch und vor allem die Zuckungen des
Leids, der Schmerzen, der Angst und der Verzweiflung gemeint. Büchners Schreiben zielt
auf die Erregung von Mitleid als körperlicher
Schockreaktion, einer «zuckenden» Betroffenheit des Lesers bzw. Zuschauers. Wer sich auf
«Woyzeck», die Geschichte des Menschen,
«auf dem alle rumtrampeln» (Alfred Kerr), einlässt, wird dieses Zucken spüren.
Georg Büchner, der Mediziner, der Nervenspezialist, ist ein Autor, der mit Seele und Leib
gelesen werden will, mit den Muskeln und Nervenfasern des Körpers so gut wie mit allen von
ihm aufgeregten Emotionen und Phantasien.
Und mit den wachen Augen des Intellekts. l
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14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
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Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Der Autor Charles
Lewinsky arbeitet in
den verschiedensten
Sparten. Sein neues
Buch «Schweizen –
vierundzwanzig
Zukünfte» ist im
Verlag Nagel &
Kimche erschienen.
– Ich habe meinen
ganzen Tag mit einem
verdammten Sonett
verschwendet, ohne
einen Schritt weiterzukommen. Und
dabei fehlt es mir nicht an Ideen. Ich
bin voll davon. Ich habe zu viele.
– Aber, Degas, man macht Verse nicht
aus Ideen. Man macht sie aus Worten.
Kurzkritiken Sachbuch
Wolfgang Röd: Heureka! Philosophische
Streifzüge im Licht von Anekdoten. C. H.
Beck, München 2013. 260 Seiten, Fr. 24.40.
Rupert Gebhard u.a. (Hrsg.): Alexander
der Grosse, Herrscher der Welt. Zabern,
Darmstadt 2013. 304 Seiten, Fr. 35.40.
Descartes entschied sich nach drei
Träumen für die Wissenschaft. Archimedes sprang splitternackt aus dem Bad
und rief Heureka – ich hab’s gefunden!
Wittgenstein ging mit dem Feuerhaken
auf Popper los, weil dieser ihn kritisiert
hatte. Die berühmten PhilosophenAnekdoten sind zwar nicht unbedingt
wahr, doch sie schlagen jeweils ein
Thema an. Ausgehend von 32 Anekdoten erklärt und verfolgt der österreichische Philosophieprofessor Wolfgang
Röd das philosophische Denken seit der
Antike bis heute. Seine Streifzüge sind
nicht immer so leicht lesbar wie die Anekdoten, doch erhellen sie oft erstaunliche Verwandtschaften über die Jahrhunderte. Auch einem Galileo, Newton oder
Rousseau schienen ihre Erkenntnisse in
den Schoss gefallen zu sein wie ein Fund
– doch wie schon bei Archimedes war
dieser Fund in Wahrheit der Abschluss
eines langen Denk- und Suchprozesses.
Kathrin Meier-Rust
Übermensch oder grausamer Schlächter? Der antike Superstar Alexander der
Grosse pendelt zwischen diesen beiden
Polen. Seit dem frühen Tod des charismatischen Helden 323 v. Chr. in Babylon,
angeblich aufgrund einer Vergiftung,
versucht jede Epoche aufs Neue, das rätselhafte Wesen des Makedonenkönigs
zu deuten – zurzeit in einer grossen Ausstellung in München (bis 3. November).
Das sorgfältig gestaltete Begleitbuch
präsentiert den Heros anhand seiner Lebensstationen, seines Umfelds und widmet sich auch seinem postumen Bild in
Kunst und Literatur. Unter den von
kompetenten Spezialisten verfassten,
gut lesbaren Beiträgen ist derjenige von
Chrysoula Saatsoglou hervorzuheben:
Es ist einer der ersten, wenn auch noch
immer sehr rudimentären deutschen
Texte über die sensationellen Wandmalereien im Grab von Alexanders Vater
Philipp II. in Vergina, Griechenland.
Geneviève Lüscher
David Signer: Weniger Verbote! Mehr
Genuss! Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2013.
95 Seiten, Fr. 8.40 (inkl. E-Book).
Margarete Mitscherlich: Eine Liebe zu
sich selbst, die glücklich macht. S. Fischer,
Frankfurt a. M. 2013. 266 Seiten, Fr. 29.90.
Getreu dem Motto Epikurs, dass übertriebene Askese ungesund sei, ruft
David Signer zu mehr Genuss im Leben
auf – zu mehr Spielerei, Kreativität und
Freiheit. «Auch Erwachsensein braucht
einen Schuss kindlichen Übermuts und
Vernunft eine Prise Verrücktheit, um
nicht totalitär zu werden.» Fürwahr, der
Kollege findet zuhauf Anschauungsmaterial: bei der Skandalisierung jedes abweichenden Verhaltens, bei Rauchverboten, spiessiger Bio-Politik usw. Es
drohe die Durchregulierung des Alltags
durch Benimm- und Moralapostel, der
Maulkorb durch political correctness
und das Ende der Privatsphäre durch totale Transparenz. Das Pamphlet beruht
u.a. auf Artikeln des Autors in der «NZZ
am Sonntag». Wer das Buch kauft, erhält
auch das E-Book mit einem Wasserzeichen (um eine unbefugte Weitergabe zu
verhindern). Auch das ein Verbot!
Urs Rauber
Bis zu ihrem Tod vor einem Jahr hat die
95jährige Margarete Mitscherlich an
diesem letzten, nun posthum erschienenen Buch gearbeitet. Es vereint bereits
veröffentlichte mit unpublizierten Texten, die einmal mehr die typischen Mitscherlich-Themen anschlagen: Die Verstrickung von Schuld, Verdrängung und
Trauer, Frauengeschichten und Frauenbewegung sowie Erinnerungen. Ob sie
die Liebe von Beauvoir und Sartre analysiert, die Bewegungsfreiheit ihrer
Kindheit in Dänemark oder das Bewegungs-Gefängnis im Alter schildert – inhaltlich mögen ihre Gedankengänge für
Mitscherlich-Leser nicht neu sein, doch
sie sind immer differenziert und klar
formuliert. Und wer wissen möchte,
worum es dem Ehepaar Mitscherlich damals im Bestseller von der «Unfähigkeit
zu Trauern» wirklich ging, der kann es
hier zusammengefasst erfahren.
Kathrin Meier-Rust
Ein Gespräch zwischen
Edgar Degas und
Stéphane Mallarmé
Immer mal wieder liest man ein Buch,
dessen Autor so viel zu sagen hat, dass
er vor lauter Mitteilungseifer nie dazu
gekommen ist, es auch verständlich zu
formulieren. Vor lauter Betroffenheit
hat er die richtigen Tasten seines Computers nicht mehr getroffen. Die Gewichtigkeit seiner Botschaft hat ihm
die Grammatik durchgeschüttelt und
den Satzbau durcheinander gebracht.
Die Gedanken, an denen ihm so viel
liegt, laufen kreuz und quer in alle
Richtungen. Und kommen nie beim
Leser an.
Ich muss bei solchen Büchern immer
an einen Koch denken, der das Servieren nicht erwarten kann und deshalb
alle Zutaten der geplanten Mahlzeit in
einen grossen Eimer schüttet und den –
friss oder stirb! – vor seinen Gästen auf
den Tisch klatscht. So ungeordnet kippen solche Bücher ihre Überzeugungen
und Meinungen über den Leser aus,
dass man am liebsten einen Schirm aufspannen möchte, um sich vor dem
Wortgewitter zu schützen. «Lies mich!
Lies mich! Ich bin wichtig!», schreien
sie, und sie tun es so laut, dass man
sich gegen den Lärm nur wehren kann,
indem man sie ganz schnell zuklappt
und auf den Brockenhausstapel bugsiert. Buchdeckel drauf.
Die Literaturkritik hat kein Fachwort
für diese Art von Überdruck-Literatur.
Man muss sich die richtige Bezeichnung aus der Theatersprache borgen,
wo solche Text-Eruptionen als
«Schwampf» bezeichnet werden. (Die
Legende berichtet von einem jungen
Schauspieler, dessen allererste Bühnenrolle nur aus dem Satz «Schwarz war
der Himmel von der Schiffe Dampf»
bestand. Als er dann endlich an der
Premiere auf der Bühne stand, drückten ihm Erfolgsgier und Lampenfieber
so sehr auf die Stimmbänder, dass er
nur noch die Silbe «Schwampf» hervorbrachte.)
«Mir fehlen die Worte» sagt man,
wenn einen ein Ereignis oder ein Gefühl überwältigt hat. Die Konsequenz
daraus müsste eigentlich Schweigen
sein. Bei Schwampf-Literaten leider
nicht. Sie bringen die Worte, die ihnen
fehlen, erbarmungslos zu Papier. Im
Irrglauben, das Chaos ihrer Formulierungen würde die Aussage, die ihnen so
wichtig ist, authentischer machen. Aber
alles, was beim Leser ankommt, ist ein
authentisches Durcheinander. Weil man Bücher,
genau wie Sonette, eben
nicht aus Ideen macht,
sondern aus Worten.
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Thomas Mann Der Wallstein Verlag macht sich um zwei editorische Grossprojekte verdient: Die
Tagebücher und Briefe von Hedwig Pringsheim an ihre Tochter Katia Mann
Klatsch und Liebesko
Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933-1941.
Wallstein, Göttingen 2013. 1700 Seiten,
Fr. 118.90.
Hedwig Pringsheim: Tagebücher 18851891 (Bd. 1) und 1892-1897 (Bd. 2).
Wallstein, Göttingen 2013. 718 und 767
Seiten, je Fr. 66.90.
Von Kirsten Voigt
Zwei Lesebändchen hat jeder der beiden
roten Leinenbände von «Mein Nachrichtendienst», der gewichtigen Gesamtausgabe der zwischen 1933 und 1941
verfassten Briefe Hedwig Pringsheims
an ihre Tochter Katia, verheiratete
Mann. Dirk Heisserer hat dieses editorische Grossprojekt in Angriff genommen
und bravourös in staunenswerter Geschwindigkeit zu Ende geführt. In nur
vier Jahren gelang es ihm, den in zwei
Schuhschachteln geborgenen Schatz zu
heben: die leider nur einseitig erhaltene
Korrespondenz der Schwiegermutter
Thomas Manns mit ihrer Tochter.
Das wäre angesichts der Zahl von 375
Briefen – weitere 63 sind wohl verschollen – vielleicht gar nicht so erstaunlich.
Völlig frappierend ist jedoch, dass der
Literaturwissenschafter und Vorsitzende des Thomas-Mann-Forums München
in dieser Zeit einen Zeilenkommentar
zuwege gebracht hat, der schier lückenlos – als handelte es sich um leicht erreichbare Informationen über Zeitgenossen oder Gegenwärtiges – Orientierung schafft: Es werden Identitäten aufgedeckt, Querverbindungen hergestellt,
Tagesabläufe rekonstruiert, Anspielungen erklärt, Theater- und Opernaufführungen dokumentiert, Sendezeiten von
Radioübertragungen und deren Inhalt
verzeichnet.
Erläutert werden alle Wehwehchen
und Malheurchen der Familienmitglieder, referiert die Lektüren der Schreibenden. Ganz nebenbei erfährt man Biografisches über zahllose Intellektuelle,
Künstler und Politiker, um die es in den
Schreiben der gesellschaftlich höchst
umtriebigen Familie ging.
Damit wird schon klar: Ohne das
zweite Lesebändchen wäre der Leser inmitten dieser Flut von Leben, Leuten
und Kultur, von Gedankengängen, Plänen und Verwicklungen völlig verloren,
zumal der humorige Mutter-Tochter16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
Grossfamilien-Geheimcode unter der
mutmasslichen Observanz der Nazis
immer dezenter und unverständlicher
ausfiel. Und so dividieren sich die insgesamt gut 1700 Seiten denn wie folgt auseinander: Die Briefe nehmen wenig
mehr als 600 Seiten ein. 1100 Seiten
braucht es, um die Mitteilungen der unbeirrbar in Nazideutschland ausharrenden Mutter an die emigrierte Tochter zu
entschlüsseln, mit Dokumenten zu flankieren, mit Fotos aus dem Familienalbum zu illustrieren und mit Registern
und Literaturangaben zu erschliessen.
Die Manns, das ist nichts Neues, sind
eine anstrengende Familie.
Soviel zur Arithmetik. Nun zur – im
Angesicht der Zeitläufe äusserst milden
– Tragik der Hedwig Pringsheim. Die
Tochter der Autorin Hedwig Dohm und
des Redakteurs der Zeitschrift «Kladderadatsch», Ernst Dohm, kurze Zeit
Schauspielerin am Meininger Theater,
gebildet und bildschön, begabt mit sarkastisch scharfem Humor und einem
ausgeprägten Sinn für die Kunst des
Wortspiels, zeigt sich auch in diesen
Briefen als mondäne Patriarchin und
mitunter dünkelhaft irrende, nicht selten selbstgefällige Grossbürgerin.
Anders als ihre frauenbewegte Mutter, die auf der Grundlage der von der
Tochter aus München empfangenen
Briefe 1896 einen Skandalroman veröffentlichte – «Sibilla Dalmar» –, bringt es
Hedwig Pringsheim nicht zu einer
emanzipierten schöpferischen Eigenständigkeit. All ihre Beobachtungen und
ihre Lust am Schreiben fliessen in Tagebücher und die Korrespondenz.
Unerhört bildungshungrig
Diesen Tagebüchern widmet sich nun
ein noch umfassenderes, profundes, im
Kommentarsektor aber viel sparsameres Editionsprojekt, um das sich auch
der Göttinger Wallstein Verlag verdient
macht: Herausgegeben von Cristina
Herbst, erschienen jetzt die ersten zwei
Bände (1885-1891 und 1892-1897) der Tagebücher Hedwig Pringsheims. Hier begegnet Hedwig dem Leser als Frau von
29 Jahren – also fast ein halbes Jahrhundert früher als in den Briefen an die
Tochter. Man wird Zeuge ihrer gesellschaftlichen Etablierung, ihres unerhörten Bildungshungers.
Sie verschlingt vor allem französische Literatur, liest Nietzsche, Rousseau
und Schopenhauer. Man lernt ahnen,
wie und woran sich ihr Kunst- und Musikgeschmack entwickelt – im Dialog
etwa mit Hans Thoma, Franz von Lenbach und dem Freundeskreis aus Wagnerianern.
Sie begeistert sich für Henrik Ibsen,
Eislaufen und Radfahren. Sie führt Buch
über ihre Unpässlichkeiten, denen sie
gemütliche Lesetage auf dem Sofa abtrotzt und über gelegentliche Szenen
einer Ehe. Allerdings bleibt die Schreiberin fast durchweg diskret. Ob Tage-
orrespondenz
lust, ihren Pazifismus, ihren Eifer, ihr
Temperament, ihre Wortschöpfungen
wie etwa «schauderös», «abgreulich»,
«abauteln» (für wegfahren), «Zeitraubtier», oder die «Urgreise». Ihr früher
Wunsch, selbst Schriftstellerin zu werden, verebbt im kindergesegneten Eheund Wohlleben, das die Verbindung mit
dem aus höchst begütertem Hause
stammenden Mathematik-Professor Alfred Pringsheim ihr verschafft.
Sie bleibt eine nimmermüde Beobachterin. Aber die Tragweite der politi-
schen Entwicklungen verkannte Hedwig Pringsheim lange und hegte als
Tochter eines vom Judentum zum
Christentum übergetretenen Vaters und
als getaufte Protestantin gegen jüdische
Mitbürger befremdliche Animositäten.
Thomas Mann – den sie in ihren Briefen
unter anderem als «Reh», «Rehbein»,
«Dichterfürsten» und «Paulinchen» codiert – war diese Borniertheit unerträglich: «Meine Gereiztheit und nervöse
Belastung durch die Alten, namentlich
den albernen und dürren Widerspruchsgeist von K.‘s Mutter, eine Objektivität,
die geistige Überlegenheit vorstellen
soll, aber nichts als Unwissenheit und
dünkelhafter Selbstschutz ist, ist sehr
gross.»
Familientee im Ferienhaus von Thomas
Mann in Nidden am 2.
September 1930.
Von links: Monika
Mann, Hedwig
Pringsheim, Thomas
und Katia Mann,
Alfred Pringsheim.
Angetan vom Führer
KEYSTONE
buch oder Brief: Tiefe Reflexionen darf
man von Hedwig Pringsheim nicht erwarten. Sie ist eine Chronistin, vor allem
des persönlichen Lebens, der äusseren
Ereignisse, in deren Spiegel sich Zeitgeschehen reflektiert. Eine Diagnostikerin
ist sie nicht.
Aus ihren Aufzeichnungen sprechen
Esprit, Wachsamkeit, aber auch ein
enervierendes, fast zwanghaftes Bedürfnis, jedes Gegenüber von oben herab zu
taxieren. Sympathisch ist Hedwig dem
Leser für ihre Munterkeit und Lebens-
Für Hitlers Auftritte empfand Hedwig
Pringsheim, obschon sie dessen propagandistische Doppelzüngigkeit spürte,
zeitweilig leise Sympathie. Die Emigration lehnt sie in ihren Briefen an Katia
aus- und nachdrücklich ab – zunächst
hält sie den Nationalsozialismus für
ignorierbar, später scheint ihr eine Umsiedlung weder angesichts ihres und Alfreds Alter noch mit den verbliebenen
finanziellen Mitteln möglich.
Nach der Emigration Katia Manns
und ihrer Familie wird sie sich allerdings zunehmend schmerzlich ihrer
Isolation bewusst. Ihre Zuflucht scheint
dann nur noch die «Liebeskorrespondenz» mit ihrer Tochter Katia. In jenen
letzten Briefen nach Alfreds Tod, die sie
aus Zürich in die USA schickt, ringt die
alte Dame um Erzählenswertes, um Erinnerungen, um Gedanken, um Worte,
die sich nicht mehr einstellen wollen.
Sie, die einst ein lebender Zitatenschatz
war, stammelt.
Der «Nachrichtendienst» hatte praktische, nicht ästhetische Funktionen –
nämlich den Kontakt aufrechtzuerhalten, die Familie und die eigene Psyche
zu stabilisieren, im familiären Rahmen,
Stellung zu beziehen zu den Vorgängen
in Deutschland. Dieser Nachrichtendienst informiert, verrät manches und
wird jenen, die der Familie Mann und
der Literatur ihrer schreibenden Mitglieder als echte Liebhaber besonders
geneigt nahestehen, mehr geben als
nüchterneren Betrachtern. Manches
bleibt eben in der Familie und eine Frage
der Zuneigung. l
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Korrespondenz Der zweite Band der Brautbriefe von Sigmund Freud und Martha Bernays porträtiert
eine Epoche – und weist gleichzeitig voraus auf die Psychoanalyse
Krankengeschichten sind Novellen
Sigmund Freud, Martha Bernays: Unser
Roman in Fortsetzungen. Die Brautbriefe
Bd. 2. Juli bis Dezember 1883. Hrsg.
Gerhard Fichtner, Ilse Grubrich-Simitis
und Albrecht Hirschmüller. S. Fischer,
Frankfurt 2013. 616 Seiten, Fr. 69.90.
Von Sabine Richebächer
Am 16. Juli 1883 schreibt der 27jährige
Assistenzarzt Sigmund Freud an seine
22jährige Braut Martha Bernays im fernen Wandsbek: «Weisst Du, wieviel
Briefe Du von mir in einem Jahr bekommen kannst? 360. Und wie viel Jahre das
so fortgehen wird? Es können wohl tausend Briefe werden, für die wir dann ein
eigenes Zimmer als Archiv bestimmen
werden müssen.» Während der Bräutigam sich eine interessierte Nachwelt
vorstellen kann und Bewahrungsabsich-
ten äussert, liebäugelt die Braut mit
einem anderen Ausgang: «Unsern Briefwechsel, mein Schatz, mein ich, verbrennen wir an unserm Hochzeitstag.»
Die Trennung der Liebenden währte,
mit kurzen Unterbrechungen, von Juni
1882 bis zum September 1886, als Freud,
nunmehr Nervenarzt in eigener Praxis,
eine Existenzgrundlage geschaffen hatte
und sie endlich heiraten konnten. Das
Konvolut der Brautbriefe war inzwischen auf über 1500 Dokumente angewachsen. Sie blieben erhalten und reisten 1938 mit dem nun betagten Ehepaar
Sigmund und Martha Freud ins Londoner Exil.
Mit Gerhard Fichtner, Ilse GrubrichSimitis und Albrecht Hirschmüller hat
das auf fünf Bände angelegte, editorische Grossprojekt ein hervorrragendes
Team von Herausgebern gefunden.
Jeder Band erhält in Gestalt eines Zitats
BRIAN SKERRY
Mensch und Meer Von oben wie von unten
Es ist nicht einfach, auf die vom Menschen
ausgehende Bedrohung der Natur aufmerksam zu
machen, ohne die Moralkeule zu schwingen. Zwei
Fotografen ist es mit «Der Mensch und die
Weltmeere» gelungen, mit berückend schönen
Bildern gleichsam die Anziehungskraft der Ozeane zu
dokumentieren – aber auch ihre Zerstörung durch die
Nutzbarmachung darzustellen. Dabei nehmen sie
unterschiedliche Perspektiven ein. Yann ArthusBertrands Luftaufnahmen fesseln, bleiben durch die
Distanz aber abstrakt. Ihm zur Seite steht der
Unterwasserfotograf Brian Skerry, der sich durch
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
seine Kamera mit Seeanemonen, Riesenmuscheln
und Fischen wie dem neuseeländischen «Köhler»
(Bild) gemein macht. Die beiden wählten Fotos aus,
welche die Schönheit der bedrohten Lebensräume
porträtieren, kontrastiert durch nur wenige grausame
Eindrücke. Der Dringlichkeit der Anliegen sind die
Texte und Interviews von und mit Experten wie Daniel
Pauly, Claire Nouvian oder Paul Watson geschuldet.
Malena Ruder
Yann Arthus-Bertrand, Brian Skerry: Der Mensch und
die Weltmeere. Knesebeck, München 2013.
304 Seiten, Fr. 59.90.
eine Art Leitmotiv, mit dem sich der
psychische Spannungsbogen der Brautzeit charakterisieren lässt. Nach dem
ersten Band «Sei mein, wie ich mir’s
denke» ist nun der zweite «Unser
‹Roman in Fortsetzungen›» erschienen,
welcher den Zeitraum Juli bis Dezember
1883 umfasst.
Freud hatte seinen brotlosen Traum
von einer wissenschaftlichen Karriere
als Hirnforscher begraben. Um eine
Privatpraxis eröffnen zu können, musste
er erst praktische medizinische Kenntnisse erwerben. Er wählte das Wiener
Allgemeine Krankenhaus als Ausbildungsstätte, wo er ab Mai 1883 in einem
Zimmer an Theodor Meynerts Psychiatrischer Klinik wohnte. Die fünf Monate,
die Freud bei Meynert verbringt, sind
seine einzige psychiatrische Ausbildung. Im Oktober 1883 wechselte er an
die Dermatologische Abteilung.
Die Brautbriefe bieten Myriaden von
Einzelheiten, ein Mosaik, das sich beim
Lesen zum Porträt einer Epoche, einer
sozialen Gruppe, hier der jüdischen,
mitteleuropäischen Mittelschicht, zusammenfügt. Im kontinuierlichen Dialog der Brautleute entfalten sich Präkonzepte, Denkfiguren und Vorformulierungen sehr viel später ausgearbeiteter
psychoanalytischer
Begrifflichkeiten
und Methodik: etwa Freuds unbedingte
Forderung, alles absolut offen zu sagen;
oder die Beschäftigung mit Träumen
und Phantasien; ferner gibt es erste,
prägnante Fallvignetten. Freud, dem die
klinische Beschäftigung mit Patienten
zunächst heftig widerstrebt, schreibt an
Martha: «Ich studiere jetzt der Menschen Innerstes; wenn Du daraus einen
Roman machen willst, um einen Nebenverdienst zu haben, bist Du willkommen.» Hier durchaus ironisch gemeint,
weist diese Äusserung voraus auf das
Urbuch der Psychoanalyse, auf Sigmund
Freuds und Josef Breuers «Studien über
Hysterie» (1895), wo Freud zu seiner
Verwunderung feststellen wird, dass
seine «Krankengeschichten sich wie
Novellen» lesen.
Nicht zuletzt ist der Roman in Fortsetzungen auch ein Bildungs«roman».
In einer intensiven selbstreflexiven Anstrengung begegnen sich zwei junge
Menschen mit zunehmendem Vertrauen
und gestärkter Liebesfähigkeit, wobei
Martha den zyklischen Rhythmen von
Freuds sensitiver Misstrauensbereitschaft und drohenden, verzweifelten
Entgleisungen immer umsichtiger begegnen kann. Dabei kommt der Auseinandersetzung um das Judentum ein
hoher Stellenwert zu. So fordert Freud
hartnäckigst und als nicht verhandelbaren Liebesbeweis von Martha, dass
sie, die aus frommer Familie kommt,
Fleisch esse, und zwar Schweinefleisch!
Aber «zum Christentum überzutreten,
sei unmöglich», schreibt Freud. l
Sabine Richebächer lebt als
Psychoanalytikerin und Autorin in
Zürich.
Zeitgeschichte Zum 50. Jahrestag seines Besuches in
Berlin erscheinen John F. Kennedys Tagebücher über
seine frühen Deutschland-Reisen
John F. Kennedy: Unter Deutschen.
Reisetagebücher und Briefe 1937–1945.
Aufbau, Berlin 2013. 256 Seiten, Fr. 34.90.
Alan Posener: John F. Kennedy.
Biographie. Rowohlt, Reinbek 2013.
200 Seiten, Fr. 27.40.
Von Thomas Köster
Kaum ein Satz hat sich ins kollektive
Bewusstsein der deutschen Bevölkerung derart tief eingebrannt wie John F.
Kennedys «Ich bin ein Berliner». Das
Identifikationsbekenntnis zum Schicksal der geteilten Stadt vom 26. Juni 1963
vor dem Schöneberger Rathaus in Berlin
brachte dem US-Präsidenten den wohl
grössten Beifall seiner kurzen Karriere
ein und machte ihn in der Bundesrepublik zur Kultfigur. Daran hat sich auch
zum 50. Jubiläum des Ausspruchs nichts
geändert.
Weitgehend unbekannt hingegen ist,
dass Kennedy vor 1963 bereits mehrmals
nach Deutschland gereist war: 1937 als
junger Harvard-Student, zwei Jahre später im Auftrag seines Botschaftervaters
und 1945 während der Potsdamer Konferenz als Kriegsheld und Reporter. Welche Bedeutung diese Fahrten auch für
sein späteres Berlinbild hatten, macht
«Unter Deutschen» deutlich: Die hier
teils erstmals veröffentlichen Tagebuchjournale, Briefe, Gesprächsnotizen und
Berichte jener Zeit illustrieren, wie sich
Kennedy dem Land schon früh touristisch, diplomatisch und journalistisch
angenähert hat.
Jugendliche Irrungen
Tatsächlich bereiste Kennedy mit Köln,
Frankfurt und Berlin in den dreissiger
und vierziger Jahren gleich drei jener
deutschen Städte, die er auch 1963 wieder besuchte. Hier flirtet er mit Mädchen und spricht mit «Nazichefs», feiert
in Nachtclubs, hört Wagneropern, geht
zum Gottesdienst – und zeigt sich empfänglich für die schönen und hässlichen
Seiten Deutschlands zur Zeit des Dritten Reichs. Der praktizierende Katholik
ist beeindruckt von der pompösen Architektur des Kölner Doms und der
malerischen Romantik des Rheintals,
aber auch von Hitlers Schnellbooten
und der aufgeladenen nationalsozialistischen Atmosphäre in der «Hauptstadt
der Bewegung» München.
Er komme zu dem Schluss, «dass der
Faschismus das Richtige für Deutschland» sei, resümiert Kennedy 1937 im
Gefühl einer «Überlegenheit der nordischen Rasse». Vor und nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ist dann
Russland für den späteren Präsidenten
die weitaus schlimmere Gefahr. Denn:
«Was sind die Übel des Faschismus im
Vergleich mit dem Kommunismus?»
So präsentiert das Buch die historische Folie, auf deren Grundlage sich
1963 jener «persönliche feste Standpunkt zu Deutschland» bilden konnte,
den Egon Bahr, damals Sprecher des
Regierenden Bürgermeisters von Berlin
Willy Brandt, im Vorwort des Bandes
konstatiert. Durch seinen imposanten
Wiederaufbau aus Ruinen ist das seit
jeher bewunderte Land 1963 zum Sinnbild der Hoffnung geworden. Wenn er
aus dem Weissen Haus ausziehen müsse,
sagte Kennedy am Ende seiner Deutschlandreise zu Konrad Adenauer am Berliner Flughafen Tegel, dann werde er
seinem Nachfolger einen Umschlag mit
dem Rat hinterlassen, ihn bei vollkommener Mutlosigkeit zu öffnen. Dieser
werde nur die Worte «Besuche Deutschland!» enthalten.
Die frühen Reisen Kennedys nach
Deutschland spielen in Alan Poseners
Biografie «John F. Kennedy» eine eher
untergeordnete Rolle. Zu sehr zielt das
Interesse des britisch-deutschen Autors
auf ein auch psychologisch stimmiges
Gesamtbild des Machtpolitikers, als
dass er auf diese Jugendepisoden viel
Augenmerk verwenden könnte. Dem
wichtigen Besuch von 1963 und seiner
Vorgeschichte hingegen widmet der
Journalist gleich zwei Kapitel – und fördert dabei durchaus auch Überraschendes zu Tage.
Denn bei allen Bekenntnissen Kennedys zu Berlin galt dem US-Präsidenten
nicht nur die deutsch-deutsche Teilung
als unumstösslich: Auch die Berliner
Mauer, die den Status quo der Trennung
buchstäblich zementierte, erschien ihm
als symbolisches Friedensangebot des
unberechenbaren Sowjetchefs Chruschtschow im Kalten Krieg. «Es ist keine
besonders schöne Lösung», zitiert Alan
Posener Kennedy. «Aber verdammt
nochmal: a wall is better than a war.»
Ansonsten porträtiert Alan Posener
den 35. Präsidenten der USA in seiner
ganzen Widersprüchlichkeit. Angefan-
EASTBLOCKWORLD
JFK zeigte
Sympathie für den
Faschismus
«Ich bin ein Berliner»:
John F. Kennedys
berühmte Rede am
26. Juni 1963 vor dem
Rathaus Schöneberg
in Westberlin.
gen von seiner Kindheit im Bannkreis
eines kaltherzigen, antisemitischen und
von Ehrgeiz zerfressenen Familienclans
über die politischen Lehrjahre im Schatten des Vaters und den scheinbar aussichtslosen, medial gewonnenen Kampf
ums Weisse Haus – bis hin zu KubaKrise, Vietnam-Krieg, Rassenunruhen
und dem tödlichen Attentat 1963 in
Dallas, das die nur 1036 Tage währende
Amtszeit beendete.
Dabei werden sexuelle Eskapaden
ebenso beleuchtet wie Kennedys bedenkliche Medikamentensucht, die den
zeit seines Lebens kränkelnden Präsidenten zu einem echten Sicherheitsrisiko werden liess.
Schillernde, tragische Figur
Der grösste Feind der Wahrheit sei nicht
die Lüge, bemerkte Kennedy ein Jahr vor
seiner letzten Deutschlandreise: Der
grösste Feind der Wahrheit sei «der
Mythos – hartnäckig, verführerisch und
unrealistisch».
Vielleicht hatte der ausgewiesene Demokrat dabei seine eigene, verstörende
Bewunderung für Adolf Hitler im Sinn,
die er noch 1945 notierte. «Aus dem
Hass, der ihn jetzt umgibt, wird Hitler in
einigen Jahren hervortreten als eine der
bedeutendsten Persönlichkeiten, die je
gelebt haben», heisst es in «Unter Deutschen». Er sei «aus dem Stoff, aus dem
Legenden sind».
Tatsächlich ist – glücklicherweise –
eher Kennedy zur Legende geworden.
Die beiden Kennedy-Bücher bringen
das faszinierende Bild einer ebenso
schillernden wie tragischen, wohl überschätzten, aber dennoch prägenden
Persönlichkeit zum Vorschein – einer
Legende. l
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Schweiz Der Publizist und Stabsoffizier Karl Schmid (1907–1974) war eine der interessantesten
Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts – unabhängig im Geist, zerrissen als Person
Musterschüler der Demokratie
Thomas Sprecher: Karl Schmid
(1907−1974). Ein Schweizer Citoyen.
NZZ Libro, Zürich 2013. 492 Seiten,
Fr. 52.90.
Von Urs Rauber
PRIVATARCHIV CHRISTOPH SCHMID / SALA CAPRIASCA
Der früh verstorbene Karl Schmid
(1907−1974) war eine vielseitige Persönlichkeit: Germanist, Historiker, Professor und Rektor der ETH Zürich von 1953
bis 1957, Generalstabsoberst, Schriftsteller, Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates – und Ehegatte der Kabarettistin Elsie Attenhofer. Ein Mann,
dem grosse öffentliche Aufmerksamkeit
und Bewunderung zuteil wurde. Nun
legt der Jurist und Literaturwissenschafter Thomas Sprecher eine umfassende
Monografie über Leben und Werk von
Schmid vor, von dem er bereits die Gesammelten Werke und Briefe herausgegeben hat (NZZ Libro 1998 und 2000).
Aufklärer und Erzieher
Zur Zeit der geistigen Landesverteidigung ab 1936 trat Schmid als Staatsbürger, im Zweiten Weltkrieg als Milizoffizier (der über acht Jahre seines Lebens
dem Wehrdienst opfern sollte) für die
Stärkung der schweizerischen Neutralität, gegen Anpassertum und für Widerstandswillen ein. Sein Engagement – als
Militärpublizist, als Stabschef der Gotthard-Division, als Zürcher Gymnasiallehrer und Germanistikprofessor – war
immer gezeichnet von grosser Ernsthaftigkeit. Vom Willen, den Problemen auf
den Grund zu gehen, seine Pflichten als
Erzieher, Aufklärer und Literaturkritiker gewissenhaft zu erfüllen, seinem Publikum als Vortragsredner praktisches
Wissen zu vermitteln. Schmid war «kein
wissenschaftlicher Dandy, kein Schöngeist hochelastischen Gemüts, kein Süffisanzenkönig des Feuilletons», wie ihn
Sprecher treffend charakterisiert, sondern ein hochbegabter Einsamer.
Der Kettenraucher mit strengem
Scheitel beschäftigte sich schon früh –
seit 1945 – mit Max Frisch, den er sehr
schätzte und förderte. In seinem Werk
«Unbehagen im Kleinstaat» (1963) stellte er Frisch in eine Reihe mit vier anderen Autoren (C. F. Meyer, Henri-Fréderic Amiel, Jakob Schaffner und Jacob
Burckhardt), die aus unterschiedlichen
Gründen am Kleinstaat litten. Thomas
Sprecher würdigt Karl Schmids berühmtestes Werk differenziert: als originell, in vielem aber auch widersprüchlich, ungenau und verallgemeinernd.
Frisch fühlte sich durch Schmids Darstellung zwar ernstgenommen, aber
auch zutiefst gekränkt. Was dazu führte,
dass der Schriftsteller seinen Mentor
später in einer Rede grobschlächtig abkanzelte und damit die Aufkündigung
der Freundschaft provozierte.
Im «Zürcher Literaturstreit» von
1966 positionierte sich Schmid an der
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
Karl Schmid und
seine Ehefrau, die
Kabarettistin Elsie
Attenhofer, 1956 auf
dem Tennisplatz.
Das Lechzen nach
öffentlicher und
gegenseitiger
Anerkennung
überschattete diese
34-jährige Beziehung.
Seite von Frisch – wenn auch weniger
plakativ – und als Gegenspieler zum
gleichaltrigen Emil Staiger. Er lehnte
dessen werkimmanente Literatur-Interpretationen ausserhalb eines gesellschaftspolitischen Rahmens ab. Für
fruchtbar hielt Schmid dagegen den
Ansatz von C. G. Jung, dessen «tiefenpsychologische Sonde» er zunehmend
selbst als literaturanalytisches Instrument nutzte.
Erfüllt von hohem Ethos
Karl Schmid war erfüllt von einem
hohen staatsbürgerlichen Ethos, das ihn
viele Aufgaben übernehmen liess. So
prägte der Citoyen als Präsident der Studienkommission für Strategische Fragen
(1967-1971) auch den nach ihm benannten «Bericht Schmid», der den Grundstein zur Konzeption der Gesamtverteidigung von 1972/73 legte.
So gravitätisch Schmids Persönlichkeit gegen aussen erschien, so zerbrechlich zeigte sie sich in den Tagebüchern
und privaten Briefen. Die Belastungen
durch rastlose Arbeit und viele Ämter
trieben den Workaholic immer wieder
an den Rand der Erschöpfung und des
Zusammenbruchs. Triebfeder seines
Wirkens – so der Biograf – seien nicht
nur das staatsbürgerliche Pflichtbewusstsein und der damit verbundene
Statusgewinn gewesen, sondern auch
eine Art Musterschüler-Syndrom: «Esdem-Lehrer-recht-machen-Wollen»
sowie ein «Schutzwall vor dem Abgleiten ins Trübe» – sprich: den Depressionen, die Schmid zeitlebens quälten.
Thomas Sprecher gelingt es vorzüglich, der hagiografischen Gefahr zu entgehen und ein menschlich anrührendes
Porträt zu zeichnen. Nicht nur indem er
Schmids Äusseres schildert, sein Arbeitszimmer und Ferienhaus, von sei-
nem Alltag erzählt, seinen Beziehungen
zur Ehefrau und den beiden Kindern.
Neben den Stärken thematisiert der Biograf auch die Schwächen, unter denen
Karl Schmid litt, ohne dass das Buch je
voyeuristisch würde: Schwermut, Depressionen, Selbstzweifel, Ängste, auch
die fragile Gesundheit – Schmid war ein
Nikotinsüchtiger, der sich gegenüber
fürsorglichen Vorhaltungen völlig resistent zeigte. Je zerrissener und gefährdeter einem der «grosse» Karl Schmid
entgegentritt, desto menschlicher wird
er als Person.
Erstaunlich offen werden auch die
Eheprobleme zwischen Karl Schmid
und Elsie Attenhofer thematisiert, die
ihre eigene Karriere verfolgte und
Fremdbeziehungen pflegte. «Patriarchale Verhaltensweisen und Besitzansprüche, untergründige Rivalität, grosser
Ehrgeiz, das Lechzen nach öffentlicher
– und gegenseitiger – Anerkennung»
haben diese 34-jährige Paarbeziehung
überschattet. «Sie flog, er zählte sich
zum ‹Bodenpersonal›.» Schmids Frauenbild war konservativ (für Gleichberechtigung, aber gegen Gleichbehandlung), gleichzeitig sorgte er zuhause für
die Kinder, während die Ehefrau auf
Tournee war, und lebte so seine weibliche Seite aus.
Das reichhaltig illustrierte, elegant
und unterhaltsam geschriebene Buch
stellt einen Beitrag zur Schweizer Mentalitätsgeschichte der 1930er bis in die
1970er Jahre dar. Höchstens die etwas
ausführliche Zitierung und Interpretation zahlreicher Schriften von Karl
Schmid hätte etwas gestrafft werden
können. Dieser kleine Mangel ändert
aber nichts am hervorragenden Gesamteindruck, dass hier eine ausserordentliche Biografie einer bedeutenden
Persönlichkeit vorliegt. l
Mathematik Die Autobiografie von Benoît Mandelbrot ist ein kulturhistorisches Zeitzeugnis
Von der Geometrie der Wolken
Benoît B. Mandelbrot: Schönes Chaos.
Mein wundersames Leben. Piper,
München 2013. 470 Seiten, Fr. 42.90,
E-Book 28.90.
Von André Behr
Phasen der Strenge durchziehen die Geschichte der Mathematik wie die der
Naturwissenschaften insgesamt. Sie
konsolidieren das Wissen, doch bahnbrechend Neues ist auf Tabubruch angewiesen. Ein faszinierendes Beispiel
für dieses Wechselspiel aus jüngerer
Zeit ist die fraktale Geometrie. Der Mathematiker Benoît Mandelbrot, ihr Erfinder, bewunderte als Jugendlicher in
seiner Heimatstadt Warschau Johannes
Kepler, der einst die Umlaufbahnen der
Planeten als Ellipsen erkannte. Zeitlebens beschäftigten ihn Phänomene der
Rauheit in der Natur, wie er es nennt,
Formen von Wolken oder die Verteilung
von Galaxien, aber auch die Komplexität von Börsenkursen, Musikstücken
oder moderner Kunst.
Welche Gestalt hat eine Küstenlinie, fragte sich Mandelbrot früh,
und wie kann man eine derart gezackte Linie messen, die aufgrund ihrer Feinstruktur immer
länger wird, je genauer man hinschaut? Solchen geometrischen
Grössen wurden wohl definierte
Werte zugeordnet, obwohl sich
diese nicht eindeutig bestimmen
liessen. Mandelbrots entscheidende Einsicht war, auch infinite
Werte zuzulassen. «Die vielleicht
durchschlagendste Idee der fraktalen Geometrie ist die besondere
Sicht der Dimension», schrieb er 2004.
Eine Dimension muss keine ganze Zahl
sein wie die 1 bei einer Geraden, die 2
bei einer Ebene oder die 3 beim euklidischen Raum. Die Küstenlinie Englands
zum Beispiel hat in Wahrheit die fraktale Dimension 1,25.
Diese mathematische Interpretation
geometrischer Figuren ist gewöhnungs-
bedürftig, und wer sich damit auseinandersetzen möchte, sollte Mandelbrots
«Fraktale und Finanzen» zur Hand nehmen sowie «Die fraktale Geometrie der
Natur», das Buch, das ihn Ende der Siebzigerjahre über die Fachkreise hinaus
vor allem aufgrund der verblüffenden
Schönheit von Bildern wie der «Mandelbrotmenge» weltberühmt machte.
Das «Apfelmännchen», wie diese Figur
auch genannt wird, spielt in der Chaostheorie eine wichtige Rolle, einer Disziplin, die damals en vogue war.
Mandelbrots jetzt auf Deutsch erschienene Autobiografie ist kein Lehrbuch. Dafür eine Lebensbeschreibung
aus dem von Kriegen geschüttelten
«Mandelbrotmenge» nennt sich dieses Muster fraktaler Geometrie.
20. Jahrhundert, die durch die Lust am
genauen und reflektierten Erzählen besticht und sowohl mathematikgeschichtlich wie kulturhistorisch als
Zeitzeugnis ersten Ranges eingestuft
werden darf. Wenige zuvor sind scheinbar abstrusen wissenschaftlichen Fragen so beharrlich nachgegangen wie
Mandelbrot. Insofern überrascht es
nicht, dass sein Leben ähnlich rau verlief, wie die mathematischen Objekte
sind, die er studierte.
Geboren 1924 wuchs Benoît Mandelbrot in einer litauisch-jüdischen Familientradition in Warschau auf, in der
über viele Generationen hinweg der
Gier entsagt, wie er es formuliert, und
geistige Tätigkeit vorgezogen wurde.
1936 flieht die Familie nach Paris.
Warum mit Ausnahme einer Tante ausgerechnet seine Familie überlebte, während fast alle in Warschau verbliebenen
Freunde und Bekannten ermordet wurden, schreibt er der Mutter zu, die während ihres langen Lebens «fünfmal zusehen musste, wie um sie herum die
Welt zusammenbrach und gleich mit
Volldampf weitermachte», und dem
wagemutigen Vater, der immer
sein Vorbild blieb.
Um seine eigenen Begabungen
macht Benoît Mandelbrot wenig
Aufhebens. Zwei aussergewöhnliche Talente scheinen jedoch
auf. Es gelang ihm problemlos
zeichnerisch wiederzugeben, was
er sah, weshalb er Orte beschreiben kann, als würde man davor
stehen, und er löste von Beginn an
mathematische Probleme, in dem
er sie innerlich in geometrische
Zusammenhänge übersetzte. Trotz
glänzender Noten und Angeboten
schlug er keinen akademischen Weg ein,
sondern arbeitete ab 1958 für 35 Jahre am
IBM-Research-Center in New York, ehe
er dann doch noch in Yale anheuerte.
Verstorben Ende 2010, wurde sein Werk
erst spät anerkannt. Doch heute ist es
ein fester Bestandteil im mathematischen Werkzeugkasten. l
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26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Psychologie Die meisten Menschen halten sich für besonders intelligent oder tugendhaft. Denn jeder
biegt sich seine Wahrheit zurecht
Wir sind doch alle Schauspieler
Robert Trivers: Betrug und Selbstbetrug.
Wie wir uns selbst und andere
erfolgreich belügen. Ullstein, Berlin 2013.
528 Seiten, Fr. 34.90, E-Book 30.20.
Alle Menschen sind Werbeprofis. Wir
erzählen pausenlos Geschichten, in
denen wir selbst, unsere Familien und
Freunde, unsere eigene Nation, Religion
und Denkschule heldenhaft für das
Wahre, Gute und Schöne streiten. Meist
basieren diese Geschichten auf wahren
Begebenheiten, die wir jedoch unvollständig wiedergeben und kreativ ergänzen. Häufig gehen wir mit so viel Geschick und Einfallsreichtum ans Werk,
dass kaum ein Kunde zwischen Realität
und Fiktion zu unterscheiden vermag.
In seiner fesselnden Abhandlung
über Betrug und Selbstbetrug zeigt der
Evolutionstheoretiker Robert Trivers
anhand zahlreicher Beispiele aus allen
Lebensbereichen, dass wir die Glaubwürdigkeit unserer Geschichten erhöhen, indem wir uns diese zunächst selbst
glauben machen. Er sieht in den nützlichen Selbsttäuschungen des Menschen
das erstaunlichste Resultat des «coevolutionären Kampfes zwischen Täuscher
und Getäuschtem», der in der gesamten
Natur zu beobachten ist. Gespenstheuschrecken tarnen sich als Stöcke. Affen
verstecken Gegenstände hinter dem Rücken. Menschliche Säuglinge täuschen
erfolgreich Bedürfnisse vor. Als Erwachsene nutzen wir unsere Intelligenz, um
raffinierte Täuschungsmanöver zu entwickeln und zu entlarven. Selbsttäuschung vollendet die Kunst der Täuschung, da selbst meisterhafte Täuscher
ungewollt Signale aussenden, die sie zu
XPOSURE PHOTO
Von Michael Holmes
Heiter und verstörend: Die meisten Menschen beschönigen ihr wahres Ich,
wie Evolutionstheoretiker Robert Trivers nachweist.
verraten drohen, wie etwa eine erhöhte
Stimmlage.
Umfragen zufolge halten sich die
meisten Menschen für überdurchschnittlich klug, attraktiv und tugendhaft. Wir erkennen ein mit Computertechnik geschöntes Bild unseres Selbst
schneller als das Original. Ausserdem
zeigen Assoziationstests, dass auch tolerante Menschen meist die eigene Gruppe unbewusst mit positiven Eigenschaften in Verbindung bringen. Trivers
glaubt, dass wir uns selbst überschätzen,
um unseren Ruf zu verbessern, Sexpartner anzulocken und Feinden zu impo-
nieren. Wir sind wie Schauspieler, die so
sehr in ihrer Rolle aufgehen, dass sie ihr
wahres Ich vergessen.
Trivers belegt eine «systematische
Deformation der Wahrheit in allen Stadien des psychologischen Prozesses».
Schwulenfeindliche Männer reagieren
mit starker sexueller Erregung auf einen
Erotikfilm für Schwule. Wir bevorzugen
Buchstaben, die in unserem Namen, und
Zahlen, die in unserem Geburtsdatum
vorkommen. Das Gedächtnis legt unsere Fehler weiter in die Vergangenheit
zurück als unsere guten Taten.
Eine zweite Funktion des Selbstbetruges besteht nach Trivers in der Stärkung
unserer seelischen und körperlichen
Gesundheit. Er lässt uns über die Wunderwelt der Placeboeffekte staunen, zu
denen er auch die Wirkungen der Religion zählt. Mit Hilfe von Scheinbehandlungen und Gebeten hilft sich die Seele
selbst.
Trivers legt ausführlich dar, wie
Selbsttäuschung
zu
Scheidungen,
Flugzeugabstürzen und vermeidbaren
Kriegen führt. Zudem analysiert er die
Tricks, mit denen Nationalisten in Japan,
der Türkei, den USA und Israel unliebsame historische Fakten vertuschen.
Seine Darstellung des Nahostkonflikts
macht jedoch seine eigenen Voreingenommenheiten deutlich, wenn er alle
israelischen Kriegsgräuel auf Araberhass, palästinensische Terrorakte aber
auf Verzweiflung zurückführt.
Dieses brillante Werk eines grossen
Wissenschafters ist manchmal düster
und verstörend, manchmal heiter und
komisch, aber stets faszinierend und
lehrreich. Die Konfrontation mit unseren Illusionen ist eine ernste Herausforderung. Trivers ermuntert uns zu einem
einzigartigen Abenteuer. l
Ökumene Was Jesus und Mohammed verbindet und seine Anhänger trennt
Religiöse Verbrüderung am Tresen
Josef Hochstrasser: Einwurf. Jesus und
Mohammed im Gespräch. Rüegger,
Zürich 2013. 112 Seiten, Fr. 24.90.
Von Klara Obermüller
Bücher über den Konflikt der Kulturen
und den Dialog der Religionen haben
derzeit Konjunktur. Man geht aufeinander zu, man grenzt sich ab, man versucht sich zu verstehen. Auch Josef
Hochstrasser versucht zu verstehen. Die
religiösen Auseinandersetzungen in seiner multiethnischen Klasse haben den
auch als Religionslehrer tätigen Theologen gewissermassen gezwungen dazu.
Herausgekommen ist bei Hochstrasser allerdings keine religionsgeschichtliche Abhandlung und auch keine theo22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
logische Streitschrift, sondern eine Art
szenischer Dialog, der Jesus und Mohammed miteinander ins Gespräch
bringt. Und dies nicht etwa in einem
nüchternen Hörsaal oder auf einem sterilen Podium, sondern im zwanglosen
Ambiente einer Bar. Man trinkt Cynar
und Tee, man unterhält sich, stellt Fragen, widerspricht sich, stimmt sich gegenseitig zu, und wenn das Gespräch
stockt oder auf Abwege gerät, greift der
Barkeeper ein und bringt es mit seinen
Allerweltsfragen wieder auf Kurs.
Die Versuchsanordnung hat durchaus
ihren Reiz. Sie birgt aber auch ihre Gefahren. Im lockeren Gespräch lässt sich
zwar vieles sagen, was einer wissenschaftlichen Studie verwehrt ist. Es
stösst aber dort an seine Grenzen, wo
historisches und theologisches Wissen
vermittelt werden muss. Und Hochstrasser muss es vermitteln, wenn er
seine These untermauern will, wonach
der Dissens zwischen den beiden Religionen nicht in den heiligen Büchern angelegt, sondern eine Folge späterer Auslegung ist. Genau daran aber krankt der
ganze Text. Das Gespräch zwischen den
beiden Religionsstiftern mäandert munter dahin, solange diese sich auf ihre gemeinsamen Anliegen besinnen. Sobald
der Autor jedoch seine theologische Bildung bemüht, werden die Ausführungen belehrend und die Dialoge papieren.
Schade eigentlich. Denn es täte
manch einer der zur Zeit geführten Debatten gut, wenn sie etwas präziser zwischen der Botschaft der Religionen und
deren fundamentalistischer Interpretation zu unterscheiden wüsste. l
Das neue Augustinum
am Bodensee
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Sachbuch
Naher Osten Ein amerikanischer Jude kritisiert die israelfreundliche Lobby in den USA
Peter Beinart: Die amerikanischen Juden
und Israel. Was falsch läuft. C. H. Beck,
München 2013. 320 Seiten, Fr. 35.40,
E-Book 24.30.
Von Urs Bitterli
«Dies hier ist ein aufrichtiges Buch,
Leser», heisst es zu Beginn von Montaignes «Essais». Derselbe Satz könnte
am Anfang von Peter Beinarts Buch
über die amerikanischen Juden und Israel stehen. Der Autor ist selbst amerikanischer Jude, etwas mehr als vierzig
Jahre alt, Professor für Journalistik und
Politologie an der City University in
New York. Sein Buch ist beides: Bekenntnis und Anklage. Beinart bekennt
sich zum Zionismus, ist aber auch ein
amerikanischer Demokrat, erfüllt vom
Glauben, dass sich politisches Handeln
an den Grundwerten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung orientieren muss.
Zu denselben Grundwerten, stellt der
Autor fest, hätten sich auch Theodor
Herzl und die Gründungsväter des Staates Israel bekannt. Sie vertraten einen
liberalen Zionismus, in dem sich nationale wie liberale Postulate gleichwertig
verbanden. Im Geiste dieses liberalen
Zionismus sei auch die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel vom
Jahre 1948 verfasst, die an der Gleichberechtigung aller seiner Bürger, nicht nur
der Juden, ausdrücklich festhalte.
Von dieser Prämisse geht Beinart aus,
wenn er die israelische Politik seit dem
Sechstagekrieg von 1967 einer scharfen
Kritik unterzieht. Er stellt fest, dass sich
Israel mit der rechtswidrigen Politik ge-
genüber den Palästinensern sowohl in
Israel selbst als auch in Ostjerusalem
und den besetzten Gebieten immer
mehr einem Apartheid-Staat nähere, der
mit den demokratischen Grundsätzen
weder der amerikanischen noch der
jüdischen Unabhängigkeitserklärung zu
vereinbaren sei.
Nur eine Zwei-Staaten-Regelung
könne die Lösung bringen, und Friedensgespräche in dieser Richtung seien
unverzüglich wieder aufzunehmen,
wenn man vermeiden wolle, dass irreversible Tatbestände geschaffen würden. «Auch heute», schreibt Beinart,
«hängt Israels physisches Überleben
wieder vom Überleben seiner ethischen
Werte ab.»
Dies sind altbekannte Positionen aktueller Israel-Kritik, von Beinart allerdings mit ungewohntem persönlichem
Engagement vorgetragen. Neue Wege
geht der Autor, wenn er sein politisches
Bekenntnis durch eine scharfe Kritik
ergänzt, die sich gegen die Haltung verschiedener amerikanischer Vereinigungen richtet, welche Israel finanziell und
politisch unterstützen. Er wirft diesen
Vereinigungen vor, den liberalen Zionismus zu verraten, indem sie, statt die
israelisch-palästinensische Annäherung
zu fördern, die militärische Hochrüstung eines zunehmend undemokratischen Israel unterstützten.
Diese Politik werde unter Hinweis auf
den «Holocaust» mit der Lebenslüge
der «Opferrolle» begründet, während
Israel in Wahrheit längst eine Vormachtstellung im Nahen Osten einnehme. Der
«Holocaust» werde so in unzulässiger
Weise in den Dienst politischer Argumentation gestellt.
IMAGO
Verrat des liberalen Zionismus
Palästinenserinnen
protestieren vor
einem Gefängnis in
Gaza-City, 11. April
2013.
Peter Beinarts Buch, das in der amerikanischen Presse sehr kontrovers beurteilt worden ist, besticht durch die Entschiedenheit der Stellungnahme. Es ist
keine um Ausgewogenheit und Objektivität bemühte Abhandlung, sondern das
Werk eines Idealisten, der sich seine
aufrichtige Sorge um die Zukunft Israels
von der Seele schreibt. Die innenpolitischen Probleme Israels werden ebenso
ausgeblendet wie jene der Palästinenser,
und so entsteht der Eindruck, der Konflikt könnte gelöst werden, wenn sich
nur Obama und Netanyahu über ihr Demokratieverständnis einigen könnten.
Die unselige Blockade des Friedensprozesses wird dieses Buch gewiss nicht
beseitigen können. Aber es vertritt Ansichten, die ernst zu nehmen sind. l
Urs Bitterli ist emeritierter Professor für
Neuere Geschichte an der Uni Zürich.
Emigration Gegen 1000 Auslanddeutsche überlebten die Nazizeit im türkischen Exil
Deutsche Professoren am Bosporus
Reiner Möckelmann: Wartesaal Ankara.
Ernst Reuter – Exil und Rückkehr nach
Berlin. Berliner Wissenschaftsverlag,
Berlin 2013. 368 Seiten, Fr. 39.90.
Von Kathrin Meier-Rust
In der jungen Hauptstadt Ankara gab es
während des Zweiten Weltkrieges eine
kleine deutsche Kolonie mit einem eigenen, regen Konzert- und Theaterleben.
Doch ihre beiden berühmtesten Bewohner sind sich in fünf gemeinsamen Ankara-Jahren nicht ein einziges Mal begegnet: Der Emigrant Ernst Reuter, der
als Sozialdemokrat verhaftet und gefoltert worden war, und der damalige Botschafter Deutschlands Franz von Papen,
der berüchtigte «Steigbügelhalter» und
einstige Vizekanzler Hitlers.
Diese Merkwürdigkeit ist charakteristisch für die paradoxe Situation im
türkischen Exil während der Nazizeit.
24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
Mit etwa 1000 deutschsprachigen Emigranten ist dieses Exil zahlenmässig so
klein, dass es neben den grossen Fluchtländern oft vergessen geht. Doch weil
sich darunter fast 100 deutsche Professoren befanden, die an den neugegründeten Universitäten in Istanbul und Ankara lehrten und der türkischen Regierung als Berater dienten, handelt es sich
um eine eigentliche Elite-Migration mit
besten Beziehungen zum Gastland, die
nur mit den jüdischen Einwanderern
nach Palästina verglichen werden kann.
Gekommen waren diese Professoren
– durchaus nicht nur Juden, sondern
auch Arier wie Ernst Reuter, der Komponist Paul Hindemith oder der Soziologe Alexander Rüstow – dank dem
«deutsch-türkischen Wunder» von 1933:
Als nach Hitlers Machtergreifung zahlreiche Professoren ihre Stelle verloren,
erkannte Kemal Atatürk sofort die
Chance, erstklassiges Personal für seine
grosse Bildungsreform zu gewinnen.
Diese Vorgänge, die lange Tradition
der deutsch-türkischen Freundschaft
sowie das gespannte Nebeneinander
von Emigranten und «Reichsdeutschen»
in einem Land, das dank dieser Tradition bis zum Kriegsende neutral blieb,
schildert der Autor in geradezu umfassender Weise. Zwar steht Ernst Reuter
im Mittelpunkt. Zunächst als Berater
der Regierung, später als Professor für
Urbanistik verbrachte er elf Jahre in der
Türkei, bevor er 1946 nach Deutschland
zurückkehrte und als Bürgermeister
während der Blockade von Berlin historischen Ruhm erlangte. Doch mit ebenso viel Sorgfalt und Detailfreude schildert Möckelmann, der als deutscher Diplomat selbst sieben Jahre in der Türkei
verbrachte, auch Reuters Schicksalsgenossen und Gegner – kurz die ganze,
von der Geschichte zusammengewürfelte Gesellschaft in jenem abgelegenen
Wartsaal, den die Türkei darstellte, als
die Welt in Gewalt und Krieg versank. l
Briefwechsel Während dreier Jahrzehnte unterstützte der Schriftsteller Günter Grass die Politik von
Willy Brandt. Nicht immer waren sich die beiden freundschaftlich verbunden
Verletzte Eitelkeiten
Willy Brandt, Günter Grass: Der
Briefwechsel. Hrsg. Martin Kölbel.
Steidl, Göttingen 2013. 1230 S., Fr. 44.90.
Von Thomas Feitknecht
Am Abend der deutschen Bundestagswahlen 1969 liessen die Hochrechnungen einen Wahlsieg der CDU/CSU erwarten, so dass der amerikanische Präsident Richard Nixon dem christlichdemokratischen Bundeskanzler Kurt
Georg Kiesinger bereits telefonisch zur
Wiederwahl gratulierte. Doch es kam
anders: Kurz vor Mitternacht kündigte
der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Willy Brandt an, er werde mit den
Freien Demokraten von Walter Scheel
eine sozialliberale «kleine» Koalition
bilden. Nach 20 Jahren Regierungsverantwortung wurden die Christlichdemokraten in die Opposition gezwungen.
Grass' vergebliche Avancen
Einer, der für diesen Machtwechsel getrommelt hatte, war der Schriftsteller
Günter Grass, Verfasser des 1959 erschienenen Romans «Die Blechtrommel». Auf einer Wahlkampftour für
Willy Brandt und die SPD hatte er
32 000 Kilometer im VW-Bus zurückgelegt und an 60 meist überfüllten Veranstaltungen zu 60 000 Zuhörenden gesprochen. Grass war die treibende Kraft
der Sozialdemokratischen Wählerinitiative, eines Kreises von bekannten
Schriftstellern, Publizisten und Professoren. Ihr Ziel war keine kritiklose
Unterstützung der Sozialdemokraten,
sondern vielmehr eine «kritische Sympathie» zwischen Geist
und Macht. Es war
der erste Wahlkampf,
in
dem
sich Intellektuelle
wie Golo Mann,
Fernsehstars wie
Hans-Joachim
Kulenkampff oder
Schauspielerinnen
wie Inge Meysel
politisch engagierten.
Nach geschlagener Wahlschlacht zog
Grass in einem Brief an Brandt eine Bilanz seiner Unterstützung, die 1961 begonnen hatte und bald einmal zur engen
Freundschaft wurde. Diese Tätigkeit sei
für ihn, schrieb er am 3. Oktober 1969,
«wichtig, weil von Einfluss». Unter Berufung auf den Wunsch von Mitstreitern liess er durchblicken, dass er gerne
eine Aufgabe im Rahmen von Brandts
Friedenspolitik übernehmen würde.
Und nicht ohne Eitelkeit fügte er hinzu:
«Mir geht es ähnlich wie Dir: Mein Ansehen im Ausland ist grösser als im Inland.» Auf dieses «Bewerbungsschreiben» (so der Herausgeber Martin Kölbel) und auf ähnliche Avancen von
Grass reagierte Brandt hinhaltend. Denn
er wusste, dass ihm ein unabhängiger
und kritischer Geist ausserhalb des
Machtzentrums mehr diente.
Unermüdlich schrieb Grass seine
«Mahnbriefe» an den Politiker-Freund,
in wechselndem Tonfall, aber immer
hartnäckig und selbstbewusst: «Deshalb
ist es zuerst Deine Aufgabe», «Ich warne
noch einmal», «Es wird hohe Zeit», «Du
solltest», «Du musst». Einzelne Schreiben wurden als Offene Briefe in der
Presse veröffentlicht, so dass die Meinung von Grass weiteren Kreisen bekannt wurde. Grass begleitete Brandt
auf offiziellen Reisen und besuchte mit
dessen Segen kulturelle Veranstaltungen im Ausland. Wichtig war die Formulierungshilfe bei Reden, und dem
Schriftsteller wird denn auch der prägnante Satz in Brandts Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 zugeschrieben: «Wir wollen mehr Demokratie
wagen».
Der politische Alltag holte Brandt
bald ein. Grass fand, der Kanzler vernachlässige die Reformpolitik im Innern zugunsten der Aussenpolitik,
und wurde in seiner Regierungskritik immer grundsätzlicher. Brandt
betonte zwar 1971, wie wichtig es
ihm sei, «dass wir es einander nicht
zu leicht machen». Doch als Grass
der Regierung im November 1973 im
Fernsehen «Schlafmützentrott»
und dem Kanzler «Lustlosigkeit»
vorwarf,
war eine Grenze überschritten. Monate
später machte Brandt seiner Verärgerung und Verstimmung Luft, und zwar
in den Notizen zu seinem Rücktritt 1974,
der durch die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume im Kanzleramt
ausgelöst worden war: «Günter Grass:
‹Denkmal› + andere Klugscheissereien». Solche Krisen in der Korrespondenz gab es bis zuletzt, auch noch kurz
vor Brandts Tod 1992 wegen unterschiedlichen Ansichten zur deutschen
Wiedervereinigung.
Fussnoten ohne Ende
Günter Grass und
Willy Brandt 1972 an
einer Pressekonferenz
mit Redaktoren von
Schülerzeitungen.
Der Literaturwissenschafter Martin
Kölbel hat akribisch alle Schreiben von
Brandt und Grass aus den Jahren 1964
bis 1992 zusammengetragen, 288 an der
Zahl, dazu Beilagen und ergänzende Dokumente. Entstanden ist ein Materialienband, der in hunderten von kleinen
Puzzlesteinen die deutsche Nachkriegszeit in Erinnerung ruft. Neben der grossen Weltpolitik spielen dabei auch
kleinliche lokale Parteiquerelen eine
Rolle. Das schlägt sich im Anmerkungsteil nieder, dessen Umfang zuweilen
umgekehrt proportional zur Bedeutung
eines Ereignisses ist: Der Berliner Mauerbau 1961 kann mit drei Fussnoten-Zeilen erledigt werden, aber zur Erläuterung des nur noch Spezialisten geläufigen Streits um den 1968 vorübergehend
aus der Partei ausgeschlossenen Berliner Politiker Harry Ristock sind zwei
Fussnoten mit insgesamt 30 Zeilen erforderlich.
Die Lektüre
der Briefe ist
kein reines intellektuelles
Ve r g n ü g e n ,
sondern zuweilen eine knochenharte zeitge s c h i c h t l i c h e
Lektion. l
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Alpinismus Die Freiburger Bergsteigerin Nicole Niquille erzählt, wie sie Schicksalsschläge meisterte
Was für eine Kraft!
Nicole Niquille: Und plötzlich … am
Himmel ein Berg. Schicksal einer
Unbeugsamen. AS Verlag, Zürich 2013.
240 Seiten, Fr. 47.90.
Von Charlotte Jacquemart
Eigentlich sagt der Untertitel dieses
Werkes schon alles, was die Leser erwartet. Nichts könnte den Inhalt von
«Und plötzlich … am Himmel ein Berg»
besser auf den Punkt bringen als
«Schicksal einer Unbeugsamen». Die
Freiburger Bergsteigerin Nicole Niquille beschreibt im Buch ihre verrückte Geschichte. Verrückt ist weniger, was sie in
den Bergen erreicht, als was sie am Muttertag im Mai 1994 ereilt hat. Beim Pilzesuchen im Kreise der Familie schlägt ein
nussgrosser Kieselstein auf ihren Schädel und verletzt sie dermassen schwer,
dass Niquille für den Rest ihres Lebens
an den Rollstuhl gefesselt wird. Kann
das sein, fragt sich die Leserin. Niquille
erzählt in ihrem Buch, das 2009 bereits
auf Französisch erschienen ist, wie sie
die Zeit nach dem Unfall erlebt und wie
sie seither, in den fast 20 Jahren danach,
damit zurechtkommt. Das Buch mag literarisch kein Überflieger sein, es enthält auch ein paar Ungenauigkeiten.
Lohnenswert ist das Eintauchen in dieses Leben trotzdem.
Denn der Wert der Lektüre liegt an
einem anderen Ort: Die Schilderungen
der Erfahrungen der Freiburgerin gehen
unter die Haut. Sie porträtieren eine
Frau, die sich durch nichts unterkriegen
lässt, die sich ihre Lebensfreude auch
nicht dadurch nehmen lässt, dass sie
ihre Beine nicht mehr benutzen kann. Es
ist ein Buch, das Mut macht, dass vom
Unglück Getroffenen Flügel verleihen
könnte. Niquille schafft es, bei den Lesern nie Mitleid hervorzurufen – sondern Begeisterung für das, was sie seit
dem Unfall erreicht hat. Die Freiburge-
rin engagiert sich heute vor allem für
ein auf ihre Initiative hin gegründetes
Spital in Nepal.
Leicht zu verstehen ist dieses Aufbäumen auf den ersten Blick nicht: Nicole Niquille hat als erste Schweizerin
überhaupt 1986 das Brevet als Bergführerin erworben. Sie war eine begnadete
Bergsteigerin, auch wenn sie nie auf
einem 8000er gestanden ist. Beim K2
wie auch beim Everest war sie allerdings nahe dran. Wer auf den ersten Seiten erfährt, dass sie bereits mit 19 Jahren
bei einem Motorradunfall zum ersten
Mal beinahe das Leben verliert und eine
bleibende Behinderung am linken Bein
davonträgt, rätselt erst recht über die
unbeugsame Natur. Von sich selbst sagt
Niquille, dass sie nicht ans Schicksal
glaube. «Unfälle stossen nur jenen zu,
die sie zu meistern wissen.» Man
braucht damit nicht einverstanden zu
sein, um für diese Frau nur Bewunderung übrigzuhaben. l
Das amerikanische Buch Mit Zucker zur Glückseligkeit
Als Harvard-Absolvent mit einem
Doktortitel in experimenteller Psychologie heuerte Howard Moskowitz Ende
der 1960er Jahre beim Militär an. Er interessierte sich damals schon für das
Geschmacksempfinden und den Appetit. Dies kam dem Pentagon entgegen,
das Soldaten zur Aufnahme ausreichender Kalorien bewegen wollte.
Moskowitz entdeckte, dass der Zusatz
von Zucker fade Armeerationen
verbessern konnte. So begann eine Karriere, die ihn zu einem der Protagonisten des aktuellen Bestsellers Salt Sugar
Moss notiert, halten sich Manager und
Wissenschafter jedoch beim Verzehr
dieser Produkte zurück.
Fat. How the Food Giants Hooked Us
Moss gewann 2010 einen Pulitzer-Preis
für die Aufdeckung ekelhafter Methoden bei der Herstellung von Rinderhack. Sein Buch enthüllt Zusammenhänge und führt von Forschungszentren bis in die Chefetagen von Weltkonzernen wie Kraft, Coca-Cola oder
Nestlé. Gestützt auf zahlreiche Interviews und interne Dokumente, zeigt
Moss, wie die Industrie «im ständigen
Konkurrenzkampf um Amerikas Mägen» seit den 1970er Jahren die Mechanismen von Hunger und Appetit
entschlüsselt hat und hemmungslos für
den Absatz gesundheitsschädlicher Fabrikkost ausnutzt. Demnach reagiert
das limbische System des Gehirns auf
Salz, Zucker und Fett mit «heller Begeisterung» – dies umso mehr, wenn
alle drei raffiniert kombiniert werden.
So hat Moskowitz als vielgefragter Be26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 26. Mai 2013
UPI PHOTO / EYEVINE
(Random House, 446 Seiten) gemacht
hat. Darin schildert der «New York
Times»-Reporter Michael Moss, wie
Salz, Zucker und Fett Grundlage der
modernen Nahrungsmittelindustrie
wurden und gleichzeitig die nicht nur
in Amerika epidemische Zunahme von
Übergewicht ausgelöst haben.
Die Folgen der
absatzgetriebenen
Kombination von Salz,
Zucker und Fett in
Nahrungsmitteln sind
unübersehbar.
Autor Michael Moss
(unten).
rater herausgefunden, dass bei der Aufzuckerung ein «Glückseligkeitspunkt»
erreicht werden kann, der Saucen, Softdrinks oder Kekse unwiderstehlich
macht. Zu viel Süsse mindert die Lust
am Verzehr. Kommen dazu jedoch Fett
und Salz, kennt der Appetit auf Fertigpizzen oder abgepackte Schulverpflegung kaum noch Grenzen. Da Salz,
Zucker und Fett – auch dank staatlicher
Subventionen für Milch und Mais – kostengünstig sind und die Haltbarkeit der
Endprodukte verlängern, haben frische
Lebensmittel gegen die Industrieware
zumindest im Preiswettbewerb keine
Chance. Deshalb sind von der «Fettleibigkeitsepidemie» in den USA vor allem
Minderheiten und ärmere Bürger, speziell aber deren Kinder betroffen. Wie
Gleichzeitig zeigt der Autor, dass Entscheidungsträger bei Unilever oder
General Foods durchaus Zweifel an der
Entwicklung zunehmend kalorienreicher und salziger Nahrungsmittel
haben. Dabei spielt die Sorge vor staatlichen Auflagen und Schadenersatzforderungen nach dem Modell der
Tabakklagen der 1990er Jahre mit.
Aber 1999 scheiterte das bisher geheime Bemühen um eine Art Waffenstillstand bei den Zugaben von Salz,
Zucker und Fett am Konkurrenzdruck
innerhalb der Branche, so Moss. Stattdessen setzt die Industrie seither
effektiv auf Lobbying in Washington
und cleveres Marketing: Um Kritik
abzufangen, bringen Unternehmen
«leichte» oder «gesündere» Varianten
von Erfolgsschlagern wie den
«Lunchables» (Schulverpflegung mit
Keksen, Schmelzkäse und Lyoner) auf
den Markt. Doch diese haben den Absatz der salzigen Kalorienbomben bis
jetzt nicht gemindert.
«Salt Sugar Fat» überzeugt amerikanische Rezensenten durch gründliche
Recherche und eine abwägende Haltung. Nur wenn er am Ende mögliche
Wege zu einer gesünderen Ernährung
diskutiert, geht Michael Moss der Atem
aus. Wie die «Washington Post» in einer ansonsten positiven Besprechung
moniert, ist Moss zwar eine grundlegende Analyse über die amerikanische
Nahrungsmittelindustrie gelungen.
Aber wie deren Macht über Amerikas
Mägen zu brechen ist, wisse auch Moss
kaum zu sagen.
Von Andreas Mink l
Agenda
Fotografie Deutsche Gründerzeit koloriert
Agenda Juni 2013
Basel
Dienstag, 4. Juni, 19 Uhr
Eva Menasse: Quasikristalle. Lesung, Fr. 17.–.
Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50.
Mittwoch, 5. Juni, 19.30 Uhr
Regula Stämpfli: Die Vermessung der
Frau – Von Botox und Hormonen. Lesung, Fr. 15.–. Kulturhaus Bider & Tanner.
Aeschenvorstadt 2, Tel. 061 206 99 96.
Donnerstag, 6. Juni, 19 Uhr
Karl Ove Knausgård: Lieben. Lesung,
Fr. 17.–. Literaturhaus (s. oben).
Bern
Dienstag, 4. Juni, 20 Uhr
Arno Gruen: Dem Leben entfremdet.
Lesung, Fr. 15.–. Buchhandlung
Stauffacher, Neuengasse 25/27,
Tel. 031 313 63 63.
Dienstag, 11. Juni, 20 Uhr
legendären, rund 7000 Bilder umfassenden
Sammlung Siegert. Sie zeigen die deutschen Lande
vor der nationalen Einigung im Jahr 1871 sowie das
frühe Kaiserreich und werden von fachkundigen
Essays ergänzt. Ein Fest für den historischen Geist
und die ästhetischen Sinne! Manfred Papst
Ulrich Pohlmann, Dietmar Siegert (Hrsg.): Zwischen
Biedermeier und Gründerzeit. Deutschland in frühen
Fotografien, 1840–1890. Schirmer/Mosel, München
2013. 365 Seiten, Fr. 66.60.
Belletristik
Sachbuch
1 Carl’s Books. 412 Seiten, Fr. 21.90.
2 Kiepenheuer & Witsch. 368 Seiten, Fr. 24.50.
3 Diogenes. 432 Seiten, Fr. 32.90.
4 Kiepenheuer & Witsch. 416 Seiten, Fr. 21.90.
5 Cosmos. 223 Seiten, Fr. 36.–.
6 Limes. 416 Seiten, Fr. 28.40.
7 Blanvalet. 576 Seiten, Fr. 28.40.
8 Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 24.90.
9
Kiepenheuer & Witsch. 301 S., Fr. 21.90.
10 Eichborn. 396 Seiten, Fr. 27.90.
1 Nagel & Kimche. 320 Seiten, Fr. 34.90.
2
Goldmann. 240 Seiten, Fr. 28.50.
3 Hanser. 246 Seiten, Fr. 24.90.
4
Arkana. 351 Seiten, Fr. 28.40.
5
Schwarzkopf. 288 Seiten, Fr. 14.90.
6 Fona. 196 Seiten, Fr. 29.90.
7 Hanser. 248 Seiten, Fr. 24.90.
8 Wörterseh. 224 Seiten, Fr. 34.90.
9
Nagel & Kimche. 204 Seiten, Fr. 25.90.
10 S. Fischer. 320 Seiten, Fr. 34.90.
Jean-Luc Bannalec: Bretonische Brandung.
Martin Walker: Femme fatale.
Viveca Sten: Mörderische Schärennächte.
Christian Schmid: Blas mer i d Schue.
Tess Gerritsen: Abendruh.
Nora Roberts: Die letzte Zeugin.
Blanca Imboden: Wandern ist doof.
Jean-Luc Bannalec: Bretonische Verhältnisse.
Timur Vermes: Er ist wieder da.
Dominik Flammer, Sylvan Müller: Das kulinarische Erbe der Alpen. Vortrag mit Degustation, Fr. 18.–. Buchhandlung Haupt,
Falkenplatz 14. Info: www.haupt.ch.
Zürich
Dienstag, 4. Juni, 20 Uhr
Eveline Hasler: Mit dem letzten Schiff.
Lesung. Buchhandlung Hirslanden,
Freiestrasse 221. Info:
www.buchhandlung-hirslanden.ch.
Bestseller Mai 2013
Jonas Jonasson: Der Hundertjährige.
Mittwoch, 19. Juni, 19 Uhr
Wilfried Meichtry: Mani Matter.
Richard D. Precht: Anna, die Schule und der
liebe Gott.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens.
Bronnie Ware: 5 Dinge, die Sterbende am
meisten bereuen.
Lisa Müller: Nimm mich, bezahl mich, zerstör
mich!
Thomas Renggli: Der Wetterschmöcker.
Rolf Dobelli: Die Kunst des klugen Handelns.
Sonntag, 9. Juni, 20 Uhr
Till Hein: Der Kreuzberg
ruft! Gratwanderungen
durch Berlin. Lesung,
Fr. 25.–. Kaufleuten,
Festsaal, Pelikanplatz 1,
Tel. 044 225 33 77.
Mittwoch, 12. Juni, 20 Uhr
Hildegard E. Keller, Thomas Meyer und
das Publikum küren aus drei Nachwuchstalenten den Gewinner/die Gewinnerin.
Treibhaus, Bogen F, Kulturviadukt 97.
Info: www.literarischermonat.ch.
Donnerstag, 13. Juni, 19.30 Uhr
Lesungen um Beat-Poeten, u.a. Amiri
Baraka, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
18–19 Uhr: Filmpremiere «Beat Generation», gratis.
Montag, 24. Juni, 20 Uhr
Frank Baumann: Single in 365 Tagen.
Arno Camenisch: Fred und Franz. Lesung,
Fr. 25.–. Kaufleuten (s. oben).
Isabelle Neulinger: Meinen Sohn bekommt
ihr nie.
Bücher am Sonntag Nr. 6
erscheint am 30.6.2013
Alain de Botton: Religion für Atheisten.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 14.5.2013. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
26. Mai 2013 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
TAGESSPIEGEL
Als die Welt sich noch ausschliesslich in Schwarzweiss ablichten liess, mussten die Koloristen nachhelfen: So in dieser Aufnahme von 1855. Sie zeigt
Häuser im Hamburger Stadtteil St. Georg. Die frühe
Fotografie ist enthalten im faszinierenden Bildband
«Zwischen Biedermeier und Gründerzeit», der das
Deutschland der Jahre 1840 bis 1890 in Erinnerung
ruft. Wir sehen Stadt- und Landschaftsbilder,
Architekturaufnahmen und Porträts von Politikern,
Bürgern, Künstlern. Die Aufnahmen stammen aus der
Chalid al-Chamissi: Arche Noah. Lesung
und Gespräch, Fr. 15.–. ONO Bühne,
Kramgasse 6. Info: www.onobern.ch.
Damit Ihre Neugierde gestillt
wird: Wir unterstützen
gute Literatur.
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