Inhalt AUFSÄTZE ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
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Inhalt AUFSÄTZE Europäisches Strafrecht Europäische Strafgesetzgebung Von Prof. Dr. Mark A. Zöller, Trier 340 Völkerstrafrecht Immunität und IStGH Zur Bedeutung völkerrechtlicher Exemtionen für den Internationalen Strafgerichtshof Von RiLG Dr. Helmut Kreicker, Hildesheim 350 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latino-americanas Una crítica a la utilización excesiva del derecho penal en procesos de transición: no peace without justice o bien no peace with justice De Prof. Dr. Ezequiel Malarino, Buenos Aires, Argentina 368 ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN Strafrecht BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 (Zu den Voraussetzungen des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nach Vollendung der Raubtat) (Ass. iur. Jan Dehne-Niemann, Karlsruhe) 376 Ordnungswidrigkeitenrecht OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08 (Zur Verjährungsfalle im Bußgeldverfahren) (Prof. Dr. Christian Fahl, Rostock) 380 BUCHREZENSIONEN Strafrecht Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008 (Prof. Dr. Walter Gropp, Gießen) 383 Sabit Osman Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts, 2008 (Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen) 386 Michael Hettinger u.a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007 (Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg) 390 Wirtschaftsstrafrecht Günter Janke, Kompendium Wirtschaftsstrafrecht, 2008 (Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, München) 391 Betäubungsmittelstrafrecht Ulrich Franke/Karl Wienroeder (Hrsg.), Betäubungsmittelgesetz (BtMG), 3. Aufl. 2008 (Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg) 392 Europäische Strafgesetzgebung* Von Prof. Dr. Mark A. Zöller, Trier The legislative competences in matters of Criminal Law on the European level have been subject to intensive discussion for a long time. Though the European Community (EC) lacks legislative powers concerning supranational Criminal Law in principle, the European Court of Justice broke new ground with two important new decisions. Its reasoning that the competence to harmonize the national legal systems by means of EC directives in matters of Criminal Law is implied in the explicit competences of the EC, is being criticized within the following paper. The article highlights a variety of contradictions between the ruling of the European Court of Justice and basic principles of European Law and German Constitutional Law. Based on these comments, it concludes with an outlook on the future of "European Criminal Law". I. „Europäisches Strafrecht“ und das „Prinzip der drei Affen“ Der Bundesgerichtshof, also immerhin das höchste deutsche Strafgericht, hat sich 1988 in seinem berühmten „Katzenkönig-Fall“1 zu der wunderbaren Formulierung hinreißen lassen, die Beteiligten „lebten in einem von Mystizismus, Scheinerkenntnis und Irrglauben geprägten neurotischen Beziehungsgeflecht“. Dieser Satz – natürlich nur ein Euphemismus für ihren zweifelhaften Geisteszustand – lässt sich nicht ohne ein gewisses Maß an Bösartigkeit auch auf einige Akteure im Bereich der europäischen Strafgesetzgebung übertragen. Obwohl das Strafrecht gemeinhin immer noch als eine der letzten Bastionen nationaler Zuständigkeiten gilt2, ist die Wirklichkeit längst eine andere. Aber im Vergleich zu anderen Rechtsdisziplinen hat man hier die Tatsache, dass sich aus europäischen Rechtsakten naturgemäß Auswirkungen auf das nationale deutsche Recht ergeben, teilweise bis zum heutigen Tag zu verdrängen versucht. Das erste Lehrbuch, das sich mit dem Internationalen und Europäischen Strafrecht beschäftigt, stammt aus dem Jahr 2004.3 Und noch immer herrscht in Teilen von Wissenschaft, Justiz und Anwaltschaft die Überzeugung vor, dass man im Strafrecht doch bisher hervorragend „ohne Europa“ ausgekommen sei und daran auch bis zum Erreichen des Rentenalters nichts zu ändern gedenke. Dass diese „Vogel-Strauß-Taktik“ nicht von Erfolg gekrönt sein kann, versteht sich von selbst. Bindende supranationale oder völkerrechtliche Verpflichtungen verschwinden nach dem Prinzip der drei Affen („nichts sehen, * Mit Fußnoten versehene und aktualisierte Fassung des Vortrags, den der Verf. am 8.6.2009 im Rahmen der Ringvorlesung „60 Jahre Grundgesetz – Anspruch und Wirklichkeit“ an der Humboldt-Universität Berlin gehalten hat. Der Vortragsstil wurde überwiegend beibehalten. 1 BGHSt 35, 347. 2 Vgl. nur Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 11 Rn. 10; Rackow, ZIS 2008, 526 (527); Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 f. 3 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 1. Aufl. 2004, nunmehr vorliegend in der 3. Aufl. 2009. nichts hören, nichts sagen“) leider nicht wieder von selbst, wenn man sie nur lange genug ignoriert. Wirft man einen genaueren Blick auf unser heutiges deutsches Strafrechtssystem, wird schnell deutlich, dass es bereits in erheblichem Umfang von europäischen Einflüssen geprägt ist. Dies gilt sowohl für das materielle als auch das formelle Recht. Materiell-rechtlich schützen deutsche Straftatbestände auch Gemeinschaftsinteressen. So erfasst etwa der Subventionsbetrug (§ 264 StGB) auch den betrügerischen Umgang mit EG-Subventionen.4 Und erst kürzlich hat der deutsche Gesetzgeber mit der Einführung des neuen § 162 Abs. 1 StGB5 klargestellt, dass falsche Angaben vor internationalen Gerichten – und damit beispielsweise auch vor dem Europäischen Gerichtshof – ebenso zu bestrafen sind, wie Falschaussagen vor deutschen Gerichten. Zudem führt das aus der in Art. 10 des EG-Vertrags verankerten Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu gemeinschaftstreuem Verhalten abzuleitende Institut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auch in weniger evidenten Fällen zu vergleichbaren Ergebnissen. Noch deutlicher zeigt sich dieser Europäisierungsprozess im Bereich des Strafverfahrensrechts. Einrichtungen und Rechtsinstitute wie das europäische Polizeiamt Europol, der europäische Haftbefehl, das Schengener-Informationssystem oder der Austausch von Strafverfolgungsdaten auf der Grundlage des Prümer Vertrags6 bzw. des diesbezüglichen EU-Ratsbeschlusses7 gehören längst zum alltäglichen Handwerkszeug der Strafverfolgungsbehörden in der EU. Für diese gesamteuropäische Entwicklung lässt sich das Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Und trotz erkennbarer rechtsstaatlicher Defizite bei den Rechtsgrundlagen ist ein Bedürfnis für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei der Verfolgung der sich naturgemäß nicht an nationale Grenzen haltenden Straftäter nicht ernsthaft zu bezweifeln. Das zeigt schon ein Blick auf die aktuelle Bedrohungssituation durch die Organisierte Kriminalität und den – derzeit vor allem islamistisch geprägten – Terrorismus. Wenn aber für eine Europäisierung des Straf- und Strafprozessrechts ein praktisches Bedürfnis derart klar erkennbar ist, besteht die Aufgabe von Strafrechtswissenschaft und Praxis eben darin, diesen unvermeidbaren Prozess konstruktiv, wenn auch kritisch zu begleiten. Die drei Affen müssen also mit offenen Augen und Ohren dasitzen und – falls nötig – auch ihren Mund aufmachen. Daran fehlt es bislang. Das Resultat ist, dass in den letzten Jahren aus Brüssel eine Entwicklung losgetreten wurde, die letztlich die Kommission zum „Ersatzgesetzgeber“ in Strafsachen macht – und dies, ohne dass die Kompetenz zur Strafgesetzgebung von den Mitgliedstaaten 4 Vgl. § 264 Abs. 7 Nr. 2 StGB. Dazu Sinn, NJW 2008, 3526. 6 Abrufbar im Internet unter http://www.bmj.bund.de/enid/Internationale_strafrechtliche_Zusammenarbeit/Pruemer_Vertrag_v1.html 7 Beschluss 2008/615/JI des Rates zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität v. 23.6.2008 (ABl. L 210, 1 v. 6.8.2008). 5 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 340 Europäische Strafgesetzgebung _____________________________________________________________________________________ tatsächlich auf die supranationale Ebene des Gemeinschaftsrechts übertragen worden wäre. Nach einem Blick auf die umstrittene Frage der Kompetenzverteilung zum Erlass von Strafrechtsnormen in Europa und mögliche Änderungen durch den Vertrag von Lissabon (unter II.), soll diese aktuelle Entwicklung anhand von zwei neueren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs näher dargestellt werden (unter III.). Sodann folgen (unter IV.) einige kritische Bemerkungen hierzu, die der Beantwortung der Frage dienen sollen, ob auf diese Weise nicht nur die geltenden europa- und völkerrechtlichen Grundlagen, sondern auch Grundwerte unserer Verfassung, etwa das Demokratieprinzip, ausgehebelt werden. Auf dieser Grundlage soll zum Abschluss ein Ausblick auf die Zukunft des „Europäischen Strafrechts“ stehen (unter V.). II. Kompetenzen zur Strafgesetzgebung in der Europäischen Union Um die Besonderheiten der damit angedeuteten aktuellen Entwicklung nachvollziehen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich noch einmal vor Augen zu führen, inwiefern auf der Grundlage des geltenden Primärrechts überhaupt Möglichkeiten bestehen, auf die nationalen Strafrechtssysteme der EU-Mitgliedstaaten Einfluss zu nehmen. 1. Die Drei-Säulen-Struktur der EU Die Europäische Union ist nach geltender Rechtslage nach wie vor keine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit. Sie stellt lediglich eine Dachorganisation dar, die – bildlich gesprochen – auf drei Säulen ruht. Nach diesem berühmten „Drei-Säulen-Modell“ besteht die EU aus den Europäischen Gemeinschaften als der 1. Säule, der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) als der 2. Säule und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) als der 3. Säule. Einflüsse der Europäischen Union auf unser nationales Strafrecht ergeben sich überwiegend aus den Rechtsbereichen, die zur 1. und 3. Säule zählen. Allerdings bestehen zwischen rechtlichen Maßnahmen aus diesen beiden Bereichen bekanntlich gravierende Unterschiede: Nur die Europäischen Gemeinschaften in der 1. Säule sind echte supranationale Organisationen. Nur sie besitzen eine eigene Rechtspersönlichkeit, eigene Organe und können einen von den Mitgliedstaaten unabhängigen Willen bilden. Nur in ihrem Bereich haben die Mitgliedstaaten tatsächlich Hoheitsrechte an die EG übertragen und damit „vergemeinschaftet“. Weil der EG also von den Mitgliedstaaten Hoheitsrechte übertragen worden sind, können die Gemeinschaftsorgane Regelungen erlassen, die unmittelbar für den Einzelnen Rechte und Pflichten begründen, ohne dass diese zuerst von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssten. Würde auch der Bereich des Strafrechts zu den „vergemeinschafteten“ Materien zählen, so könnte die EG unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltendes Straf- und Strafprozessrecht schaffen, also ein „europäisches StGB“ und eine „europäische StPO“. Als Rechtsinstrument käme hierfür der Erlass einer Verordnung in Frage, da eine Verordnung nach Art. 249 EGV bin- dende Rechtswirkungen entfaltet, ohne dass es einer Umsetzung in das jeweilige nationale Recht bedarf. In den Bereichen, die unter die 2. und 3. Säule der EU fallen, haben die Mitgliedstaaten demgegenüber gerade keine Hoheitsrechte auf eine supranationale Organisation übertragen. Nach außen hin handeln die 27 EU-Staaten nach wie vor selbst, und zwar im Wege einer sog. „intergouvernementalen Zusammenarbeit“. Die dabei gefassten Beschlüsse entfalten im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung. Sie müssen daher – wie alle völkerrechtlichen Verträge – stets noch durch nationale Rechtsakte umgesetzt werden. Dies gilt im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS), d.h. in der 3. Säule der Union, speziell für das Rechtsinstrument des Rahmenbeschlusses. Dessen Inhalten kommt ohne Transformation in innerstaatliches Recht – im Gegensatz zum Primärrecht in den „vergemeinschafteten“ Bereichen der 1. Säule – grundsätzlich kein Vorrang gegenüber dem nationalen Strafrecht zu.8 Das Verhältnis zwischen dem Recht der 1. und der 3. Säule der EU wird durch Art. 29 und 47 EUV geregelt. Danach lassen der EU-Vertrag und speziell die darin geregelten Bestimmungen über die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen den EG-Vertrag unberührt. Maßnahmen, die in die Zuständigkeit der Gemeinschaften in der 1. Säule fallen, können damit nicht auf eine Bestimmung des EUVertrags gestützt werden. Bei Zuwiderhandlung sind entsprechende Rechtsakte vom EuGH, der über die Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen Besitzstands wacht, auf Antrag für nichtig zu erklären. 2. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Besäße also die EG die Kompetenz zum Erlass von Strafgesetzen, so wären damit nach den Art. 29 und 47 EUV vergleichbare Vereinbarungen des Rates im Rahmen der 3. Säule faktisch ausgeschlossen. Die mangelnde Plausibilität eines solchen Ergebnisses lässt sich prima facie schon aus der Existenz der Art. 29 ff. EUV ableiten. Dort werden Harmonisierungsbestrebungen im Bereich des Strafrechts gerade der völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten überantwortet. Entscheidender Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob die EG dazu befugt ist, unmittelbar geltendes Strafrecht zu erlassen, ist jedoch das sog. „Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“9. Nach diesem Grundsatz, der insbesondere Art. 5 EGV ausdrücklich zu entnehmen ist, können die Gemeinschaftsorgane eine Kompetenz nur in 8 Zur Möglichkeit der rahmenbeschlusskonformen Auslegung („Fall Maria Pupino“) vgl. EuGH NJW 2005, 2839; dazu Adam, EuZW 2005, 558; Fetzer/Groß, EuZW 2005, 550; Fletcher, European Law Review 2005, 862; Herrmann, EuZW 2005, 436; Hillgruber, JZ 2005, 841; Wehnert, NJW 2005, 3760; Gärditz/Gusy, GA 2006, 225; Lorenzmeier, ZIS 2006, 576 (578 ff.); Tinkl, StV 2006, 37; v. Unger, NVwZ 2006, 46; Wasmeier, ZEuS 2006, 23; Weißer, ZIS 2006, 562; Rackow, ZIS 2008, 526. 9 Allg. dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 4 Rn. 54 ff. m.w.N. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 341 Mark A. Zöller _____________________________________________________________________________________ Bezug auf solche Materien haben, die ihnen zuvor ausdrücklich von den Mitgliedstaaten übertragen wurden. Jeder Rechtssetzungsakt der Gemeinschaft erfordert damit eine ausdrückliche oder aber zumindest im Wege der Auslegung (hinreichend sicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage in den Gründungsverträgen. Auf diese Weise wird das Recht der Europäischen Gemeinschaften letztlich an das Demokratieprinzip gebunden.10 Die EG besitzt damit – anders als die Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht – keine Kompetenz-Kompetenz.11 Sie kann also ihre bestehenden Kompetenzen nicht eigenständig erweitern. 3. Fehlende Kompetenz der EG zum Erlass supranationaler Strafgesetze Die Frage, ob sich für die EG nun eine Kompetenz zum Erlass von supranationalen strafrechtlichen Bestimmungen begründen lässt, ist aber gerade umstritten: So finden sich vereinzelte Stimmen im Schrifttum, die eine solche Kompetenz zur Schaffung supranationaler Strafnormen bejahen.12 Zwar erkennen auch sie an, dass es an einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisungsnorm im EGVertrag fehlt. Sie leiten aus der ausdrücklich normierten Sachkompetenz der EG zur Regelung bestimmter Sachbereiche (z.B. den Grundfreiheiten oder der Agrar- und Umweltpolitik) aber gleichzeitig auch die Befugnis her, damit sachlich zusammenhängende kriminalstrafrechtliche Sanktionen mitzuregeln. Sie berufen sich auf die völkerrechtliche Lehre von den „implied powers“, wonach die geschriebene Kompetenznorm immer auch die Befugnis zur Setzung notwendigerweise mitzuregelnder Tatbestände umfasst. Die ganz überwiegende Ansicht lehnt eine Strafrechtssetzungskompetenz der EG demgegenüber zu Recht ab.13 Dafür lassen sich insbesondere folgende Argumente anführen: Eine Befugnis der EG müsste sich nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unmittelbar aus dem Primärrecht ergeben. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Außerdem sehen die Mitgliedstaaten die Schaffung strafrechtlicher Regelungen nach wie vor als die ureigenste Aufgabe des nationalen Gesetzgebers an. Eine so bedeutsame Befugnis kann wohl kaum en passant und stillschweigend in den Gründungsverträgen an die EG übertragen worden sein. Zudem ist das Strafrecht in den Art. 29 ff. EUV gerade dem Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der 3. Säule der EU übertragen worden. Daneben ist zu sehen, dass der EG in verschiedenen Bereichen durch den EGV ausdrücklich die Kompetenz zum Erlass von Bußgeldnormen zugewiesen ist.14 Diese ausdrücklichen Regelungen ergäben keinen Sinn, wenn die viel gewichtigere Materie der Strafsanktionen ohnehin bereits stillschweigend von der Sachkompetenz mit abgedeckt wäre. Und schließlich erscheint es auch unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips höchst zweifelhaft, ob sich der Erlass supranationalen Strafrechts durch die EG überhaupt rechtfertigen ließe.15 4. Die Bedeutung des Art. 280 Abs. 4 EGV Diskutieren lässt sich daher allenfalls, ob sich an diesem Ergebnis fehlender originärer Strafgesetzgebungskompetenz durch Art. 280 Abs. 4 des EG-Vertrags etwas ändert. Diese Bestimmung ist durch den Amsterdamer Vertrag vom 2.10.1997 eingefügt worden und lautet wie folgt: „Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß dem Verfahren des Artikels 251 nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt.“ Unter den hier verwendeten Begriff der „Maßnahme“ könnte angesichts des offenen Wortlauts möglicherweise auch der Erlass strafrechtlicher Normen gefasst werden. Insofern wird Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV teilweise als Kompetenzgrundlage für eine bereichsspezifische, auf den Schutz der finanziellen Interessen der EG beschränkte Strafrechtssetzungsbefugnis der EG angesehen.16 Nach überwiegender Auffassung scheidet aber auch Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV als Ermächtigungsgrundlage für die Schaffung von Gemeinschaftsstrafrecht aus. Dafür spricht derzeit17 bereits die eindeutige Vorbehaltsklausel des Satzes 2 zugunsten des jeweiligen nationalen Strafrechts.18 Danach soll ausdrücklich keine Veränderung des status quo bei der Kompetenzverteilung zwischen EG und den Mitgliedstaaten erfolgen. Außerdem zählt auch die Betrugsbekämpfung nach dem Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 EUV explizit zu den Aufgaben der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der 3. Säule der EU.19 Und schließlich hat auch die Kommission selbst im Zuge der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza Art. 280 EGV als 14 10 Braum, wistra 2006, 121 (123); Krausser, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991, S. 28. 11 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 233. 12 Böse, Strafen und Sanktionen, 1996, S. 56, 61 ff., 94; ders. GA 2006, 211 (220 ff.); Heitzer, Punitive Sanktionen, 1997, S. 136 ff.; Pache, EuR 1993, 173 (178 f.). 13 Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 2003, Art. 280 EGV Rn. 20; Waldhoff, in: Calliess/Blanke/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar. 3. Aufl. 2007, Art. 280 EGV Rn. 3, 19; Ambos (Fn. 2), § 11 Rn. 4 f.; Hecker (Fn. 9), § 4 Rn. 88 ff.; Griese, EuR 1998, 476; Satzger, KritV 2008, 17 (20); Rosenau, ZIS 2008, 15. Z.B. in Art. 83 Abs. 2 lit. a EGV. Satzger, KritV 2008, 17 (21). 16 Wolfgang/Ulrich, EuR 1998, 616 (627); Tiedemann, in: Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag, 1998, S. 411 (415); Dannecker, in: Weigend u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag, 1999, 141 (144); Zieschang, ZStW 113 (2001), 255 (259 ff.); Hedtmann, EuR 2002, 122 (133 f.); Stiebig, EuR 2005, 466 (483 ff.); Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, 2004, S. 107 ff., 327 ff. 17 Nach den Vorgaben des Vertrags von Lissabon soll diese Vorbehaltsklausel im neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV entfallen. 18 Satzger, KritV 2008, 17 (21). 19 Vgl. Art. 29 S. 2 EUV. 15 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 342 Europäische Strafgesetzgebung _____________________________________________________________________________________ unzureichende Ermächtigungsgrundlage angesehen und in ihrem sog. „Grünbuch zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft“20 aus dem Jahr 2001 die Schaffung eines neuen Art. 280a EGV vorgeschlagen, der eine ausdrückliche Ermächtigung zur Regelung von Straftaten zum Schutz der finanziellen Interessen der EG enthalten sollte.21 Mit diesem Vorschlag konnte sie sich jedoch damals nicht durchsetzen. Es lässt sich also Folgendes festhalten: 1. Die EG verfügt nach geltendem Recht über keine supranationale Strafgewalt. 2. Die nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erforderliche Kompetenzzuweisung im Primärrecht existiert nicht. 3. Auch die Einfügung von Art. 280 Abs. 4 in den EGV durch den Vertrag von Amsterdam ändert an diesem Befund nichts. 5. Fehlende Harmonisierungskompetenz im Bereich des Strafrechts Dieser Zwischenbefund darf nicht dadurch entwertet werden, dass man zwar im Gemeinschaftsrecht die Existenz einer Kompetenz zum Erlass unmittelbar wirksamer, supranationaler Strafrechtsnormen verneint, dann aber – sozusagen als „wesensgleiches Minus“ – vom Vorliegen einer Rechtsgrundlage für die Harmonisierung des nationalen Strafrechts ausgeht. Wenn es an einer Strafgesetzgebungskompetenz fehlt, sollte dieses klare Ergebnis nicht dadurch infrage gestellt werden, dass man den Mitgliedstaaten dann eben im Wege der Richtlinie detaillierte Vorgaben hinsichtlich der zu kriminalisierenden Verhaltensweisen und der anzudrohenden Strafen macht.22 Ansonsten würden man faktisch in die national eigenständigen und höchst unterschiedlichen Konzeptionen von Strafrecht in den 27 Mitgliedstaaten eingreifen und damit fehlende sachliche Kompetenzen einfach überspielen.23 Zwar 20 KOM (2001) 715 endg. In diesem Vorschlag für Art. 280a Abs. 3 lit. a EGV heißt es: „[...] 3. Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikels 251 die Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere (a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände“; [...]. Art. 280 Abs. 4 bezieht sich somit nach zutreffender Lesart nur auf die Schaffung präventiver Rechtsvorschriften (z.B. verwaltungsrechtliche Vorschriften zur Betrugsvorbeugung und -aufdeckung). Zulässig ist es jedoch, wenn man den geltenden Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV als spezielle Kompetenzgrundlage für eine Angleichung des nationalen Strafrechts in den Mitgliedstaaten ansieht, sofern es um die Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der EG geht; vgl. Hecker (Fn. 9), § 4 Rn. 100. 22 Ebenso Hecker (Fn. 9), § 8 Rn. 35 ff. m.w.N. zum Streitstand; a.A. jüngst Rosenau, ZIS 2008, 9 (16). 23 So im Ergebnis auch Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (586); Satzger, KritV 2008, 17 (21 f.). 21 hat der EuGH bereits im Jahr 1989 in dem berühmten Fall „Griechischer Mais“24 aus dem Loyalitätsgebot des Art. 10 EGV die Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zu sanktionieren. Die einzelnen Staaten haben seiner Ansicht nach Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen, wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (sog. Gleichstellungserfordernis). Darüber hinaus müssen die angedrohten Sanktionen auch wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (sog. Mindesttrias). Aber den Mitgliedstaaten verbleibt nach wie vor die konkrete „Wahl der Sanktionen“. Sie treffen also die Entscheidung darüber, ob sie ihr Kriminalstrafrecht oder andere Sanktionen (z.B. Verwaltungssanktionen) einsetzen wollen.25 In diese Entscheidung hat sich die EG nicht einzumischen. 6. Auswirkungen des Vertrags von Lissabon An diesem Ergebnis de lege lata würde sich durch ein Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Wesentliches ändern. Das Vertragswerk sieht neben zahlreichen weiteren Änderungen26 vor, dass die bisherige Unterscheidung zwischen Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft entfallen soll. Es gäbe danach also nur noch die Europäische Union als Rechtsnachfolgerin der EG (Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV). Zugleich würde die bisherige Drei-Säulen-Struktur entfallen. Damit verbunden ist die Überführung des Bereichs der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in einen neuen Bereich supranationalen Rechts. Dies führt beispielsweise zur Abschaffung besonderer Rechtsinstrumente aus der bisherigen 3. Säule der EU (z.B. des Rahmenbeschlusses) und zur Unterwerfung des Strafrechts unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren der Mitentscheidung des Europäischen Parlaments und das Mehrheitsprinzip im Rat. Art. 83 Abs. 1 des neuen Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht daneben ausdrücklich eine materiell-strafrechtliche Harmonisierungskompetenz durch Richtlinien für den Bereich besonders schwerer grenzüberschreitender Kriminalität vor. Zu den dadurch erfassten Kriminalitätsbereichen sollen von vornherein Terrorismus, Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierte Kriminalität zählen (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV). Dieser Katalog kann aber jederzeit durch einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erweitert werden (Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV). Hinzu kommt nach Art. 82 Abs. 2 AEUV erstmalig eine Harmonisierungskompetenz der Ge24 EuGH NJW 1990, 2245 m. Anm. Tiedemann, EuZW 1990, 100; Bleckmann, NJW 1991, 285; vgl. auch Tiedemann, NJW 1990, 2226. 25 Satzger, KritV 2008, 17 (22). 26 Einen Überblick über die Neuerungen des Lissaboner Vertrags geben etwa Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761; Lindner, BayVBl 2008, 421; Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473; Terhechte, EuR 2008, 143; Weber, EuZW 2008, 7. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 343 Mark A. Zöller _____________________________________________________________________________________ meinschaft für einzelne Bereiche des nationalen Strafprozessrechts, wie die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten oder die Rechte des Einzelnen und der Opfer im Strafverfahren. Insgesamt würde mit dem Vertrag von Lissabon daher keine originäre Strafgesetzgebungskompetenz für die EU geschaffen. Jedoch könnten die Mitgliedstaaten in nicht unerheblichem Umfang zum Erlass von harmonisierten Strafrechtsnormen angewiesen werden. Gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13.12.200727, das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union und das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93) waren beim Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden sowie ein Organstreitverfahren anhängig28, über die mit Urteil vom 30.6.200929 entschieden wurde. Bereits in der mündlichen Verhandlung am 10. und 11.2.2009 war deutlich geworden, dass die Mitglieder des zuständigen Zweiten Senats vor allem die geplante Kompetenzerweiterung der EU für das Strafrecht kritisch sehen. Sowohl Berichterstatter Udo di Fabio als auch sein Senatskollege Herbert Landau wiesen darauf hin, dass mit europäischen Strafgesetzen in die nationale Werteordnung eingegriffen werde. Zudem gebe es auf EU-Ebene gerade keine öffentliche Begleitung der politischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen. Auch in den Urteilsgründen stellt das BVerfG fest, dass die Zuständigkeiten der EU mit dem Vertrag von Lissabon erheblich erweitert werden.30 Wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen seien die vertraglichen Kompetenzgrundlagen strikt und keinesfalls extensiv auszulegen und ihre Nutzung bedürfe besonderer Rechtfertigung.31 Ein solcher Rechtfertigungsgrund könne etwa die Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität sein. Gerade im Hinblick auf die in Art. 83 Abs. 2 AEUV vorgesehene Annexzuständigkeit für eine Angleichung des Strafrechts in bereits harmonisierten Politikbereichen könne speziell das deutsche Zustimmungsgesetz nur deshalb (noch) als verfassungskonform beurteilt werden, weil diese Zuständigkeit nach dem Vertrag eng auszulegen sei.32 Und das notwendige Maß an demokratischer Legitimation über die mitgliedstaatlichen Parlamente lasse sich aus dem Blickwinkel des deutschen Verfassungsrechts nur dadurch gewährleisten, dass der deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV genannten Rechte nur nach Weisung des Bundestages und des Bundesrates ausübt.33 Dennoch hat das BVerfG angesichts der Übertragung von strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen durch den Lissaboner Vertrag an die EU kein nach Art. 23 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht mehr hinnehmbares strukturelles Demokratiedefizit feststellen können. Es klingt aber doch ein wenig nach dem sprichwörtlichen „Pfeifen im Walde“, wenn besonders betont wird, dass der Vertrag von Lissabon hinreichende Anhaltspunkte für eine verfassungskonforme Auslegung biete.34 Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht werden zwar generell als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates eingestuft.35 Konsequenzen daraus im Hinblick auf eine mögliche Verfassungswidrigkeit der Inhalte des Lissaboner Vertrages finden sich in den Urteilsgründen jedoch nicht. Damit wird das Gefährdungspotenzial weit reichender strafrechtlicher Harmonisierungskompetenzen faktisch heruntergespielt. Es scheint also zumindest im Endergebnis Gnade vor den Schranken des BVerfG gefunden zu haben. Damit die Bestimmungen des Lissaboner Vertrages Rechtswirksamkeit erlangen können, müsste aber nach wie vor die Mehrheit der Iren in dem für Oktober 2009 vorgesehenen zweiten Referendum dem völkerrechtlichen Vertragswerk zustimmen. Und schließlich verzögert derzeit auch der als „EU-Reformgegner“ bekannte tschechische Präsident Vaclav Klaus bewusst die Ausfertigung des tschechischen Ratifizierungsgesetzes zum Lissaboner Vertrag. Die Überwindung keiner dieser beiden verbliebenen Hürden ist nach dem heutigen Stand der Dinge sicher. 27 33 Vgl. dazu BT-Drs. 16/8300 sowie ergänzend BT-Drs. 16/8488 und BT-Drs. 8489. 28 Az.: 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2 BvE 2/08, 2 BvE 5/08. 29 BVerfG – 2 BvE 2/08, abrufbar unter http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve0002 08htm 30 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 352. 31 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 358. 32 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 361. III. Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH Kommen wir aber zur aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Über die dogmatischen Grundsätze und Feinheiten der Kompetenzen zum Erlass europaweit verbindlicher Strafgesetze sieht sich der EuGH in den letzten Jahren offensichtlich erhaben. Davon zeugen vor allem zwei Entscheidungen, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen: 1. EuGH, Urt. v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03 Blicken wir zunächst auf ein Urteil des EuGH vom 13.9.200536, dem folgender Streitfall zugrunde lag: Im Januar 2003 hatte der Rat der Europäischen Union auf Initiative Dänemarks im Rahmen der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, also im Rahmen der 3. Säule der EU, den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht37 erlassen. Auf diese Weise wollte der BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 365. BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 362. 35 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 252. 36 EuGH JZ 2006, 307 m. Anm. Heger, JZ 2006, 310; vgl. dazu Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585; Böse, GA 2006, 211; Braum, wistra 2006, 121; Diehm, wistra 2006, 366 (368 ff.); Streinz, JuS 2006, 164; Wuermeling, BayVBl. 2006, 368; Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (59 ff.); Satzger, KritV 2008, 17 (22 ff.). 37 ABl. L 29, 55 v. 5.2.2003. 34 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 344 Europäische Strafgesetzgebung _____________________________________________________________________________________ Ministerrat koordiniert gegen die Besorgnis erregende Zunahme der Umweltkriminalität vorgehen. Der Rahmenbeschluss definierte u.a. eine Reihe von Umweltstraftaten als vorsätzlich (Art. 2) bzw. fahrlässig (Art. 3) begangene Delikte und forderte die Mitgliedstaaten verpflichtend auf, hierfür strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Nach dem einzelstaatlichen Recht musste die Beteiligung an Vorsatztaten unter wirksame, angemessene und abschreckende Strafen gestellt werden, wobei zumindest in schwerwiegenden Fällen auch Freiheitsstrafen vorzusehen waren, die zu einer Auslieferung führen können. Diese Vorgehensweise passte der Kommission nun überhaupt nicht. Sie war der Auffassung, dass nicht die Vorschriften des EU-Vertrages, sondern Art. 175 EGV die geeignete Rechtsgrundlage für solche Inhalte bot, und hatte daher gemeinsam mit dem Europäischen Parlament schon im Jahr 2001 den Vorschlag einer Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt38 vorgelegt. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten lehnte diesen Vorschlag jedoch ab, so dass der Rat die vorgeschlagene Richtlinie nicht annahm. Nachdem der Rat stattdessen den EU-Rahmenbeschluss erlassen hatte, erhob die Kommission, unterstützt durch das Europäische Parlament, Nichtigkeitsklage.39 In Brüssel war man offensichtlich pikiert. Der Gerichtshof stellte sich auf die Seite der Kommission und argumentierte ausgehend von Art. 29 Abs. 1 und 47 EUV, nach deren Aussage der Vertrag über die Europäische Union den EG-Vertrag unberührt lässt. Danach habe er darüber zu wachen, dass die Handlungen, von denen der Rat behauptet, sie fielen unter die Vorschriften über die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, nicht in die Zuständigkeiten übergreifen, die die Bestimmungen des EG-Vertrags der Gemeinschaft zuweisen. Und exakt ein solcher Fall sei hier gegeben: Der Umweltschutz stelle eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft dar. Zwar falle – man höre und staune – grundsätzlich weder das Strafrecht noch das Strafprozessrecht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft. Dies könne den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche Maßnahme darstellt. In Bezug auf den konkret zu entscheidenden Fall ergebe sich, dass der Hauptzweck des Rahmenbeschlusses im Schutz der Umwelt bestehe. Diese Vorschriften hätten nach Ansicht des EuGH wirksam auf der Grundlage des Art. 175 EGV erlassen werden müssen. Dadurch dass der angegriffene Rahmenbeschluss in diese Zuständigkeiten übergreife, verstoße er aufgrund seiner inhaltlichen Unteilbarkeit auch in seiner Gesamtheit gegen Art. 47 EUV. Inso- 38 39 KOM (2001) 139 endg. Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 6 EUV. fern erklärte der Gerichtshof den Rahmenbeschluss für nichtig. Auf diese Weise hat der EuGH der EG zum ersten Mal das Recht zugestanden, sich in den Erlass von Strafrechtsnormen in den Mitgliedstaaten einzumischen.40 Offen blieben aber zunächst zwei wichtige Fragen, nämlich 1. ob sich die Befugnisse der EG, die Mitgliedstaaten zum Erlass von harmonisierten strafrechtlichen Bestimmungen anzuweisen, nur auf den Bereich des Umweltschutzes erstrecken oder sich die Argumentation auch auf alle anderen Politikbereiche der Gemeinschaft bezieht41 und 2. ob die EG nur das Recht besitzt, zu kriminalisierende Verhaltensweisen festzulegen oder den Mitgliedstaaten auch die Art und Höhe der Sanktionen vorschreiben kann. Der juristische Tiefgang der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs lässt in der Tat zu wünschen übrig und erinnert zudem an das Bild eines quengelnden Kindes. Er lautet nämlich aus Sicht der EG wie folgt: „Eigentlich habe ich keine Kompetenz, um auf dem Gebiet des Strafrechts tätig zu werden, außer ich brauche sie wirklich sehr, sehr dringend“. Das ist natürlich noch näher zu begründen. Aber einstweilen sollten wir das – selbstverständlich überzogene – Bild vom EuGH als quengelndem Kind mit in die Betrachtung der zweiten EuGH-Entscheidung nehmen. 2. EuGH, Urt. v. 23.10.2007 – Rs. C-440/05 Auch in dieser zweiten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23.10.200742 standen sich Kommission und Rat in einer vergleichbaren Konstellation gegenüber. Hier ging es um den Rahmenbeschluss zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe,43 den der Rat am 12.7.2005 erlassen hatte. Hintergrund dieses Rechtsakts war die Auffassung der EU, dass ein Großteil der globalen Meeresverschmutzung durch Schiffe mit dem Einleiten von Stoffen (z.B. Öl, Schiffsabwasser und Schiffsmüll) in das Gewässer zu erklären ist.44 Dieser Rahmenbeschluss unterschied sich von der Struktur des Rahmenbeschlusses zum Schutz der Umwelt dadurch, dass er nicht nur Mindestvorschriften von Straftatbeständen, sondern in Anknüpfung an die Intensität der Schädigung von Wasserqualität, Menschen, Tieren und Pflanzen, auch Art und Maß der strafrechtlichen Sanktion festlegte (z.B. in schweren Fällen Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren). Der EuGH entschied den Fall 40 Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (61). Von einer Beschränkung auf den Bereich des Umweltstrafrechts ging offenbar der Rat aus; vgl. EuGH Rs. C-440/05, Rn. 44; eine umfassende Annexkompetenz der Gemeinschaft bejahen bereits auf der Grundlage des Urteils v. 13.9.2005 Heger, JZ 2006, 310 (313); Fromm, ZIS 2007, 26 (27, 29); Eisele, JZ 2008, 251; Rackow, ZIS 2008, 526 (535). 42 EuGH JZ 2008, 251 m. Anm. Eisele; dazu Fromm, ZIS 2008, 168; ders., ZUR 2008, 301; Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (67 ff.); Satzger, KritV 2008, 17 (22 ff.); Zimmermann, NStZ 2008, 662. 43 ABl. L 255, 164. 44 Fromm, ZIS 2008, 168 (170). 41 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 345 Mark A. Zöller _____________________________________________________________________________________ erneut durch Verweis auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Zur Begründung führt er an, dass auch die gemeinsame Verkehrspolitik zu den Grundlagen der Gemeinschaft gehöre. Und nach Art. 80 Abs. 2 EGV45 verfüge der Gemeinschaftsgesetzgeber über eine weit reichende Rechtssetzungsbefugnis u.a. für den Erlass von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und aller sonstigen zweckdienlichen Vorschriften im Bereich der Seeschifffahrt. Im Übrigen sei auch der Umweltschutz als eines der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft Bestandteil der gemeinsamen Verkehrspolitik. Mit identischem Wortlaut im Vergleich zu seiner Entscheidung aus dem Jahr 2005 folgt wiederum das Lippenbekenntnis, dass Strafrecht und Strafprozessrecht grundsätzlich nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fielen. Doch könne die EG die Mitgliedstaaten gleichwohl zur Einführung von Strafrechtsnormen verpflichten, wenn dies eine unerlässliche Maßnahme darstellt, um die volle Wirksamkeit der in der 1. Säule der EU erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten.46 Anders als in seiner vorangegangenen Entscheidung stellt der Gerichtshof jedoch ausdrücklich fest, dass die Bestimmung von Art und Maß der anzuwendenden Sanktionen nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Ein Erfolg war für den Rat damit in casu jedoch nicht verbunden. Da man die tatbestandlichen Umschreibungen des kriminalisierungswürdigen Verhaltens und seine Rechtsfolgen sachlich nicht voneinander trennen konnte, wurde der Rahmenbeschluss infolge seiner Unteilbarkeit erneut insgesamt für nichtig erklärt. mit der Abschaffung der Drei-Säulen-Struktur der EU de facto vorweggenommen werden. Damit sind auch eine allgemeine Schwächung des Rates der Europäischen Union und eine Stärkung der Kommission und des Europäischen Parlaments verbunden.49 So kann beispielsweise die Kommission im Anwendungsbereich des EG-Vertrages ein Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV) durchführen, um die Mitgliedstaaten zur ordnungsgemäßen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu zwingen. Im Rahmen der 3. Säule der EU besteht diese Möglichkeit nicht. Auch hat die Kommission im dortigen Rechtssetzungsverfahren kein Initiativmonopol für Rechtssetzungsaktivitäten, sondern nur – wie jeder Mitgliedstaat – ein Initiativrecht.50 Zudem unterliegt die Rechtssetzung in der 1. Säule der vollen Mitentscheidung des Europäischen Parlaments (Art. 251 EGV), während das Parlament bei den Handlungsformen der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen lediglich eine Stellungnahme abgeben kann (Art. 39 Abs. 1 EUV).51 Und eine solche Stellungnahme ist der Sache nach nichts anderes als eine unverbindliche Anregung. Vor allem aber geht die Letztentscheidungsbefugnis über die Ausgestaltung des Strafrechts vom nationalen Gesetzgeber auf die EG über. Schließlich herrscht im Rechtsrahmen der 1. Säule der EU das (qualifizierte) Mehrheitsprinzip und nicht das Einstimmigkeitsprinzip der 3. Säule. Bezogen auf Deutschland bedeutet dies, dass die Bundesrepublik im Extremfall auch Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts umsetzen muss, die sie inhaltlich vollkommen ablehnt und für rechtspolitisch verfehlt hält.52 3. Praktische Konsequenzen Mit seinem Urteil aus dem Jahr 2007 hat der EuGH klargestellt, dass sich seine Argumentation zugunsten einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG auf alle Gemeinschaftsziele erstreckt, die Festlegung von Art und Höhe strafrechtlicher Sanktionen aber nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Als Ergebnis dieser Rechtsprechung ist es der EG nunmehr aber erlaubt, den Mitgliedstaaten durch Richtlinien verbindliche Vorgaben zur Harmonisierung des nationalen Strafrechts zu machen, wenn sie nur der Auffassung ist, dass Strafvorschriften eine wesentliche Bedeutung zur Absicherung der Gemeinschaftsziele, z.B. des Umweltschutzes oder der Verkehrssicherheit, besitzen. Dass von dieser Befugnis praktisch auch Gebrauch gemacht wird, zeigt sich beispielhaft an der mittlerweile erlassenen Richtlinie über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom 19.11.2008.47 Maßnahmen der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind auf der Grundlage der Art. 29 ff. EUV nur noch dann zulässig, wenn diese nicht auch auf der Grundlage des EGV getroffen werden können.48 Dies bedeutet nichts anderes als dass für den Bereich des Strafrechts wesentliche Vorgaben des Lissaboner Vertrags IV. Kritik Diese EuGH-Rechtsprechung, die vor allem den Interessen der Kommission und des Europäischen Parlaments entgegen kommt, ruft sowohl mit Blick auf das geltende Europarecht als auch auf unser Grundgesetz Kritik hervor. 1. Überspielte Grundsätze des Europarechts Dem Ansatz des EuGH lässt sich zunächst seine mangelnde Praktikabilität angesichts der mit ihm verbundenen Rechtsunsicherheit entgegenhalten. Nahezu immer wird man ohne allzu großen Argumentationsaufwand behaupten können, der Hauptzweck einer Maßnahme liege in irgendeinem Politikfeld der Gemeinschaft, dem das staatliche Strafrecht dann dienstbar gemacht werden kann.53 Denn faktisch soll der Gemeinschaftsgesetzgeber ja nun in der Lage sein, die Mitgliedstaaten zum Erlass von strafrechtlichen Normen zu verpflichten, wenn dies auf EG-Ebene für unbedingt erforderlich gehalten wird. Problematisch daran ist, dass der EuGH keine klare Leitlinie aufstellt, wann nun strafrechtliche Maßnahmen 49 45 Krit. zum Rückgriff des EuGH auf Art. 80 Abs. 2 EGV Eisele, JZ 2008, 251 (252 f.); Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665 f.). 46 Vgl. EuGH JZ 2008, 250. 47 ABl. L 328, 28 v. 6.12.2008; dazu Zimmermann, ZRP 2009, 74. 48 Diehm, wistra 2006, 366 (368). Douma, EurUP 2005, 249 (259); Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369). 50 Satzger (Fn. 12), Art. 34 EUV Rn. 15; ders., KritV 2008, 17 (19); Heger, JZ 2006, 310 (311). 51 Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369). 52 Heger, JZ 2006, 310 (313). 53 Braum, wistra 2006, 121 (124). _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 346 Europäische Strafgesetzgebung _____________________________________________________________________________________ in diesem Sinne wirklich erforderlich sind.54 Auch findet man keine Begründung dafür, warum aus dem Bedürfnis für eine effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht nur eine allgemeine Sanktionsanweisungskompetenz, sondern auch speziell eine Kompetenz zur Anweisung von Strafrechtsnormen folgen muss.55 Hinzu kommt, dass man das Fehlen einer Kompetenz für einen Sachbereich dogmatisch nicht einfach dadurch ersetzen kann, dass man lediglich ein dringendes Bedürfnis hierfür bejaht. Wo nichts ist, ist eben nichts. Fehlt eine Kompetenz der Gemeinschaft insgesamt, so lässt sie sich auch nicht als Anweisungskompetenz bejahen.56 Das ergibt sich nicht nur allgemein aus den Gesetzen der Logik, sondern speziell für die EG auch aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Dass sich eine zumindest im Wege der Auslegung (hinreichend sicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage in den Gründungsverträgen nicht finden lässt, gesteht selbst der EuGH zu. Insofern hilft es auch nicht weiter, wenn der Europäische Gerichtshof die strafrechtliche Anweisungskompetenz durch eine Art Annexkompetenz57 zu begründen versucht. Zum einen wird das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung faktisch entleert, wenn man das Strafrecht stets als Annex zu den bestehenden Politikfeldern der Gemeinschaft einstuft.58 Zum anderen würde ein solcher kompetenzergänzender Sachzusammenhang stets voraussetzen, dass ein Eingreifen der EG in eine ihr nicht zugewiesene Materie wie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aus der 3. Säule als unerlässliche Voraussetzung einzustufen wäre.59 Gegen die Unerlässlichkeit einer solchen Vorgehensweise spricht aber schon die Tatsache, dass es jahrelanger europäischer Praxis entspricht, zu regelnde Sachverhalte mit gleichzeitigem Bezug zur 1. und 3. Säule der EU eben in zwei voneinander getrennte Rechtsakte, beispielsweise eine Richtlinie und einen Rahmenbeschluss, aufzuspalten und diese getrennt voneinander zu erlassen. Der EuGH ordnet aber unter Abschaffung dieser gängigen Praxis schlicht den strafrechtlichen Bereich der ersten Säule der EU zu, ohne sich dafür auf eine ausdrückliche Billigung der Mitgliedstaaten berufen zu können.60 Und bei genauer Betrachtung lässt sich bei der Harmonisierung der nationalen Strafrechtssysteme die Aufspaltung in zwei Rechtsakte auch in Zukunft nicht vermeiden.61 Denn Art und Maß der Sanktionen, also z.B. auch konkrete Strafrahmen, ordnet auch der EuGH nach wie vor dem Bereich der 3. Säule zu, die dann mittels eines Rahmenbeschlusses festzulegen sind. Nur das „Ob“ des Einsatzes von Kriminalstrafrecht, also beispielsweise die Umschrei54 Krit. auch Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665). Heger, JZ 2006, 310 (312). 56 Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (586). 57 In diesem Sinne Beukelmann, NJW-Spezial 2006, 183; Eisele, JZ 2008, 251 (252); Satzger, KritV 2008, 17 (24). 58 Braum, wistra 2006, 121 (124). 59 Vgl. zu dieser Voraussetzung aus deutscher Sicht BVerfGE 3, 407 (423); 98, 265 (299); 106, 62 (115). 60 Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (71). 61 Ebenso Fromm, ZIS 2008, 168 (177). 55 bung tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen, kann auf Initiative der EG im Wege einer Richtlinie statuiert werden. Dogmatische Zweifelhaftigkeiten müssen sich die Luxemburger Richter aber auch in anderem Zusammenhang vorwerfen lassen. So ist unbestritten, dass der EG-Vertrag in seiner geltenden Fassung lediglich an zwei Stellen, in den Art. 135 und 280 EGV, überhaupt Bezug auf das Strafrecht nimmt, und dies jeweils nur in negativer Form mit der eindeutigen Formulierung: „Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen Maßnahmen unberührt“. Daraus mit dem EuGH den Schluss zu ziehen, dass diese Formulierungen strafrechtlichen Harmonisierungsbestrebungen der EG nicht entgegen stehen,62 ist doch – vorsichtig gesagt – eine gewagte These. Logisch scheint doch ein Erst-recht-Schluss in die entgegengesetzte Richtung zu deuten.63 Denn wenn die EG nicht einmal zum Schutz ihrer originären Rechtsgüter eine Harmonisierung der darauf bezogenen nationalen Strafnormen verlangen kann, dann wohl auch nicht zum Schutz anderer Gemeinschaftsinteressen. Darüber hinaus überspielt der Europäische Gerichtshof mit seiner richterrechtlichen Konstruktion, dass der geltende EU-Vertrag in Art. 42 bereits explizit eine Möglichkeit enthält, Maßnahmen aus den in Art. 29 EUV genannten Bereichen zu „vergemeinschaften“.64 Ein Vorgehen nach dieser als „Passerelle“ bezeichneten „Brückenklausel“ setzt allerdings einen einstimmigen Ratsbeschluss und dessen Annahme durch die Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen Vorschriften voraus. Dies zeigt, dass für den Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bereits ein vereinfachtes Verfahren zur Vertragsänderung vorgesehen ist, über dessen Existenz sich das Gericht stillschweigend hinwegsetzt. Schließlich passt das Konzept des EuGH auch nicht zu den Inhalten des Vertrags von Lissabon. Dieser enthält zwar (in Art. 83 Abs. 2 AEUV) ausdrücklich eine strafrechtliche Annexkompetenz für alle Politikfelder, in denen bereits europäische Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Diese Kompetenznorm des Lissaboner Vertrags erstreckt sich auch auf die Rechtsfolgenseite und geht somit sogar über die Rechtsprechung des EuGH hinaus. Allerdings besitzt der Lissaboner Vertrag eine wichtige „Notbremse“. Danach können sich die Mitgliedstaaten der Harmonisierung widersetzen, wenn ansonsten grundlegende Aspekte der nationalen Strafrechtsordnung berührt sind (Art. 83 Abs. 3 AEUV). Diese Möglichkeit verweigert der EuGH den Mitgliedstaaten. Im Ergebnis beschneidet er das Mitspracherecht in Strafsachen also stärker als es der den Bürgern ohnehin schwer zu vermittelnde Reformvertrag bewirken würde65 – ein höchst zweifelhaftes Ergebnis! 62 EuGH JZ 2006, 307 (310). Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (587); Heger, JZ 2006, 310 (312); Rackow, ZIS 2008, 526 (534). 64 Dazu Jour-Schröder/Konow, EuZW 2006, 368. 65 Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665). 63 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 347 Mark A. Zöller _____________________________________________________________________________________ 2. „Maastricht revisited“ Aber auch die Frage, inwiefern sich die aktuelle Rechtsprechung des EuGH mit der Grundkonzeption des deutschen Verfassungsrechts und vor allem mit der Rechtsprechung des BVerfG in Einklang bringen lässt, birgt Zündstoff. Dies hat jüngst auch die Entscheidung des BVerfG vom 30.6.200966 über das deutsche Zustimmungsgesetz und die Begleitgesetzgebung zum Lissaboner Vertrag noch einmal deutlich gemacht. In Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG heißt es nämlich klar und unmissverständlich: „Die Bundesrepublik Deutschland wirkt zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Inwieweit diesen Vorgaben Rechnung getragen wird, hatte das BVerfG schon im Jahr 1993 anhand des Vertrags von Maastricht zur Gründung der EU zu überprüfen. Dabei wies es darauf hin, dass das Demokratieprinzip die Bundesrepublik zwar nicht an der Mitgliedschaft in einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft hindere. Allerdings müsse eine vom Volk ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb eines solchen Staatenverbunds gesichert sein. Insbesondere müssten dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.67 Dies folge aus dem nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren Gehalt des Demokratieprinzips. Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG mögliche Bedenken im Hinblick auf eine Verletzung des Demokratieprinzips vor allem mit dem Hinweis auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu entkräften versucht.68 Und nahezu identisch argumentieren die Karlsruher Richter nun auch in der Lissabon-Entscheidung.69 Aber das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung existiert nach den aktuellen Voten des EuGH im Bereich des Strafrechts nur noch auf dem Papier. Und auch dass diese Entwicklung von für den Bundestag voraussehbaren Voraussetzungen oder sogar einer parlamentarischen Zustimmung der Bundesregierung abhinge, wie es vom BVerfG für den Weg zu einer stufenweisen Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft gefordert wird, kann man zumindest bei dem rein richterrechtlichen „Husarenstück“ des EuGH kaum guten Gewissens behaupten. Es überspielt vielmehr die Tatsache, dass jedenfalls das Grundgesetz den deutschen Staatsorganen die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz an die EU untersagt.70 An der Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip bestehen daher Zweifel. Ob sich diese Zweifel für die Zukunft nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags mit der vom BVerfG jüngst angemahnten, verfassungskonformen und engen Auslegung der strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen71 werden beseitigen lassen, erscheint zweifelhaft. Dasselbe gilt im Übrigen für die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes, der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich erwähnt und vom BVerfG zuletzt in seinen Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehlsgesetz72 und zur Zustimmungs- und Begleitgesetzgebung zum Lissaboner Vertrag73 noch einmal ausdrücklich angemahnt worden ist. Dabei entbehrt eine solche Einschätzung nicht einer gewissen Ironie. Denn die Befürchtung eines Defizits an demokratischer Legitimation ist vom Grundsatz her eigentlich eher bei der intergouvernementalen Struktur der 3. Säule der EU angebracht.74 Schließlich hat das Europäische Parlament hier keine nennenswerten Einflussmöglichkeiten auf das Zustandekommen von Rechtsakten. Demokratische Legitimation wird nur über die nationalen Regierungsvertreter im Rat der Europäischen Union, speziell die Justiz- und Innenminister, vermittelt. Diese haben ihre Legitimation, für das Staatsvolk zu handeln, wiederum durch die Bundestagswahlen erhalten. Nachdem der Rat sich auf den Erlass eines Rahmenbeschlusses verständigt hat, ist aber stets auch das nationale Parlament als Gesetzgeber an das darin festgehaltene Ergebnis gebunden. Mit dieser generellen Machtlosigkeit der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments im Zusammenhang mit der intergouvernementalen Zusammenarbeit darf jedoch die vom EuGH angestoßene Entwicklung nicht verwechselt werden. Zwar verlagert der Europäische Gerichtshof die Materie der Strafgesetzgebung in den Bereich des Gemeinschaftsrechts und damit in einen Bereich, der eigentlich stärkere Mitwirkungsbefugnisse des Europäischen Parlaments vorsieht. Er tut dies aber ohne sich auf eine ausdrückliche Legitimation der Mitgliedstaaten berufen zu können. Und die Annahme von Kompetenzen in einem demokratisch weniger defizitären Bereich ohne jede demokratische Legitimation ist nun einmal immer noch weniger (eigentlich überhaupt nicht) demokratisch als die Ausübung von über die Gründungsverträge ausdrücklich vorgesehenen Kompetenzen, bei denen die demokratische Legitimation nach unserem deutschen Rechtsverständnis doch etwas ausgeprägter sein könnte. V. Ausblick Es kommt somit Einiges auf uns zu in Sachen „Europäisches Strafrecht“. Schließlich sind die Erwägungen des EuGH theoretisch auch auf die Europäisierung von höchst aktuellen und praxisrelevanten Bereichen, etwa auf das Wirtschaftsstrafrecht, zu übertragen.75 Und dass sich der Gerichtshof von seiner grundsätzlichen Linie nicht abbringen lassen will, zeigt auch eine erst im Februar dieses Jahres ergangene Entscheidung in Bezug auf die EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspei- 66 BVerfG – 2 BvE 2/08. BVerfGE 89, 155 (156) – LS 4. 68 BVerfGE 89, 155 (192 ff.). 69 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 226, 272. 70 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 233. 67 71 BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 358 ff. BVerfGE 113, 279 (299). 73 BVerfG – 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 251. 74 Vgl. nur Satzger, KritV 2008, 17 (20). 75 Heger, JZ 2006, 310 (312). 72 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 348 Europäische Strafgesetzgebung _____________________________________________________________________________________ cherung von Telekommunikationsdaten.76 Auch hier hat der EuGH einen klar von strafrechtlichen Erwägungen geprägten Bereich dem Schutz des Binnenmarkts und damit dem Gemeinschaftsrecht zugeschlagen. Nun mag man zwar auf den ersten Blick meinen, das Strafrecht sei als eine Art Durchsetzungsmechanismus des Gemeinschaftsrechts nun an einem Punkt angelangt, an dem sich alle anderen Rechtsbereiche ohnehin schon seit geraumer Zeit befinden. Aber damit würde man den Besonderheiten des Strafrechts nicht gerecht. Es spiegelt gerade ein individuelles Gleichgewicht von Allgemein- und Individualinteressen wider, das durch nationale Traditionen und Wertvorstellungen geprägt ist.77 Angesichts der Tatsache, dass jeder der 27 Mitgliedstaaten eine eigenständige Kriminalpolitik betreibt und die Befugnis hierzu bislang gerade nicht an eine supranationale Organisation abgetreten wurde, kann man in diesem Bereich bei Harmonisierungsmaßnahmen gerade nicht ohne Gefahr mit dem effet utile-Gedanken argumentieren.78 Die Bemühungen des EuGH um eine faktische Vorwegnahme von Inhalten des Lissaboner Vertrags auf der Grundlage des bereits geltenden Rechts setzen im Übrigen ein falsches Zeichen und kommen zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Denn es wird den ohnehin europamüden EUBürgern nichts anderes ins Stammbuch geschrieben, als dass es auf ihre Zustimmung oder Ablehnung zu zentralen Fragen ohnehin nicht ankommt. Dies verstärkt nur das ungewisse Gefühl, mit der EU eine Entwicklung ins Rollen gebracht zu haben, die sich durch nichts und niemanden stoppen lässt und an den Menschen vorbei agiert. Die geringe Wahlbeteiligung von lediglich 43,3 % bei der Europawahl am 7.6.2009 spricht in diesem Zusammenhang Bände. Es könnte zudem sein, das der EuGH der gesamteuropäischen Entwicklung einen Bärendienst erwiesen hat.79 In Politikbereichen nämlich, in denen der EuGH Rahmenbeschlüsse für unzulässig hält, der Rat sich aber nicht auf Regelungen im Bereich der 1. Säule einigen kann, bleibt die Materie letztlich unionsrechtlich ungeregelt.80 Pattsituationen zwischen Kommission und Rat sind damit vorprogrammiert, die Fortentwicklung eines europäisch harmonisierten Straf- und Strafprozessrechts blockiert. Es zeigt sich hier ein unheilvoller Trend: Man versucht, auf europäischer Ebene Tatsachen zu schaffen, ohne dass es hierfür durch die Regierungen der Mitgliedstaaten, vor allem aber durch die diesen in ihr politisches Amt verhelfenden EU-Bürger, eine wirkliche Zustimmung gibt. Man sieht und versteht zwar allgemein das Bedürfnis für eine Zusammenarbeit im Bereich von Polizei und Justiz auf europäischer Ebene, will aber nationalstaatliche Kompetenzen nicht wirklich aus der Hand geben. Dies führt zu rechtsstaatlich bedenklichen Auswüchsen. So operierte etwa das europäische Polizeiamt Europol über Jahre hinweg ohne ausreichende rechtliche Grundlage – und tut dies möglicherweise bis heute. Strafverfolgungsdaten wurden und werden zwischen den Mitgliedstaaten der EU ausgetauscht, ohne dass ausreichende Datenschutzvorschriften auf europäischer Ebene bestehen. Weitere Beispiele gäbe es zuhauf. Anspruch und Wirklichkeit klaffen also gerade im Bereich des „Europäischen Strafrechts“ besonders deutlich auseinander. Damit ist zugleich aus deutscher Sicht ein Abschied von Garantien verbunden, die uns auf der Grundlage des „Erfolgsmodells Grundgesetz“ in 60 Jahren lieb und teuer geworden sind. Dazu zählen insbesondere auch demokratische und rechtsstaatliche Errungenschaften. Natürlich setzt jede Beteiligung an supranationalen Organisationen die Bereitschaft voraus, national Abstriche zugunsten der internationalen gemeinsamen Sache zu machen. Aber im Augenblick scheint es, als rüttele Europa längst an den Grundfesten der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG. Das war mit der Einführung von Vorschriften wie Art. 23 GG nicht gemeint und dagegen sollten wir als Bürger uns wehren. Oder ist das Prinzip der drei Affen nach alledem vielleicht doch die beste Lösung? 76 EuGH JZ 2009, 466 m. Anm. Ambos, JZ 2009, 468; Frenz, DVBl 2009, 374; Petri, EuZW 2009, 214; vgl. auch Mayer, K&R 2009, 313; Zerdick, RDV 2009, 56. 77 Vgl. BVerfG – 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 253; Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (58). 78 Satzger, KritV 2008, 17 (23). 79 So Rackow, ZIS 2008, 526 (536); von einem möglichen „Pyrrhussieg der Kommission“ spricht Heger, JZ 2006, 310. 80 Streinz, JuS 2006, 164 (167). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 349 Immunität und IStGH Zur Bedeutung völkerrechtlicher Exemtionen für den Internationalen Strafgerichtshof Von RiLG Dr. Helmut Kreicker, Hildesheim* Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat im März 2009 einen Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten des Sudan, Omar al Bashir, erlassen. Staatsoberhäupter genießen jedoch nach geltendem Völkergewohnheitsrecht Immunität. Diese gilt, wie der IGH im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen Belgien im Jahr 2002 ausdrücklich festgestellt hat, selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen. Der Haftbefehl gibt deshalb Anlass, über die Beachtlichkeit völkerrechtlicher Immunitäten für den IStGH nachzudenken. In March 2009, the International Criminal Court (ICC) issued a warrant of arrest against the incumbent President of Sudan, Omar al Bashir. Heads of State, however, enjoy immunity according to customary international law. This immunity applies, as the ICJ has confirmed in its decision Democratic Republic of Congo against Belgium in 2002, even to international crimes. The warrant of arrest against al Bashir, therefore, gives cause for discussing whether international immunities are of relevance for the ICC. I. Der Immunitätsausschluss in Art. 27 IStGH-Statut Auf den ersten Blick scheint es, als lasse sich die Frage, ob völkerrechtliche Immunitäten der Jurisdiktionsgewalt des IStGH Schranken setzen können, leichthin verneinen: Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut1 normiert einen pauschalen und generellen Immunitätsausschluss; jegliche amtliche Eigenschaft oder Immunität wird für unbeachtlich erklärt.2 Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut lautet: „Immunitäten oder besondere Verfahrensregeln, die nach innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“ Doch griffe es zu kurz, wenn man schlicht unter Verweis auf Art. 27 IStGH-Statut behauptete, Immunitäten seien für den IStGH unbeachtlich.3 Vielmehr ist zu fragen, inwieweit dieser Immunitätsausschluss völkerrechtskonform und damit rechtswirksam ist. Denn der IStGH wurde von einzelnen Staaten – den Vertragsstaaten – durch einen völkerrechtlichen Vertrag – das Römische Statut – als eigenständige internationale Organisation gegründet; er ist kein Organ der Vereinten * Dr. Helmut Kreicker ist Richter am Landgericht Hildesheim (Niedersachsen), dort tätig im Schwurgericht und war bis 2005 Leiter des Referats „Internationales Strafrecht und Völkerstrafrecht“ am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. 1 Deutsche Übersetzung in BGBl. 2000 II, S. 1393. 2 Vgl. Gaeta, in: Cassese u.a. (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court, Bd. 1, 2002, S. 975 (S. 978, 990 ff.). 3 So aber Gornig, in: Ipsen u.a. (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, S. 457 (S. 484). Nationen.4 Einzelne Staaten können aber nicht dadurch, dass sie gemeinsam ein internationales Gericht gründen, diesem konstitutiv Kompetenzen zuerkennen, die sie selber nicht haben. Jede Kompetenz des IStGH muss sich deshalb aus den völkerrechtlichen Kompetenzen der Vertragsstaaten oder aus dem übrigen Völkerrecht, namentlich dem Völkergewohnheitsrecht, ableiten lassen. Dies gilt auch für die in Art. 27 IStGH-Statut verankerte Befugnis des Gerichtshofs, Gerichtsbarkeit ungeachtet jeglicher völkerrechtlicher Exemtionen auszuüben. II. Pauschalverzicht der Vertragsstaaten auf ihnen zustehende Immunitäten Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass Art. 27 IStGH-Statut unproblematisch insofern völkerrechtskonform und rechtswirksam ist, als völkerrechtliche Immunitäten von Funktionsträgern von Vertragsstaaten des Statuts für unbeachtlich erklärt werden: Die – derzeit 109 – Vertragsstaaten des IStGH haben mit der Ratifikation des Römischen Statuts auch dessen Art. 27 akzeptiert. Sie haben deshalb mit der Ratifikation implizit eingewilligt, dass völkerrechtliche Exemtionen ihrer Funktionsträger einer Strafverfolgung durch den IStGH keine Schranke setzen. Die Vertragsstaaten haben mithin ex ante auf sämtliche ihnen zustehenden Immunitäten und sonstigen Exemtionen (etwa Unverletzlichkeitsgewährleistungen)5 gegenüber dem IStGH verzichtet.6 Alle völkerrechtlichen Exemtionen – von der Staatenimmunität über die diplomatischen und konsularischen Immunitäten bis hin zur Immunität amtierender Staatsoberhäupter – sind also für den IStGH ohne weiteres dann unbeachtlich, wenn es um die Strafverfolgung von Funktionsträgern – etwa 4 Oellers-Frahm, EuGRZ 2003, 107 (110). Zur Terminologie vgl. Kreicker, Völkerrechtliche Exemtionen, Grundlagen und Grenzen völkerrechtlicher Immunitäten und ihre Wirkungen im Strafrecht, 2007, S. 9 ff. 6 Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 8 Rn. 66; Kreicker (Fn. 5), S. 218, 290, 760; ders., HuV-I 2008, 157 (161); Kreß, GA 2003, 25 (38); Kreß/Prost, in: Triffterer (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2008, Art. 98 Rn. 13; Meißner, Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, 2003, S. 123 f., 130, 213; Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (427); Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (39); Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 613 Fn. 549; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (452, 456 f.). Völkerrechtliche Exemtionen werden nie im persönlichen Interesse der exemtionsberechtigten Person, sondern ausschließlich im Interesse des Staates bzw. der internationalen Organisation gewährt, für den bzw. die die betreffende Person tätig ist, so dass der Staat bzw. die internationale Organisation – ohne Rücksicht auf die exemtionsberechtigte Person – einen Verzicht aussprechen kann. 5 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 350 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ Soldaten,7 Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder – eines Staates geht, der das Römisches Statut ratifiziert hat.8 Unerheblich ist, welche Staatsangehörigkeit ein Beschuldigter hat. III. Irrelevanz von Immunitäten bei Verfolgungsersuchen des UN-Sicherheitsrates Art. 13 lit. b IStGH-Statut bestimmt, dass der Gerichtshof auch dann wegen völkerrechtlicher Verbrechen Ermittlungen aufnehmen und Strafverfahren durchführen darf, wenn eine Situation – im Sinne eines Geschehenskomplexes – der Anklagebehörde des Gerichtshofs vom UN-Sicherheitsrat durch eine Resolution nach Kapitel VII UN-Charta unterbreitet wird. Nur bei einem derartigen Verfolgungsersuchen des UNSicherheitsrates ist der IStGH, wie sich aus Art. 12 Abs. 2 IStGH-Statut ergibt, auch für Taten zuständig, die weder im Hoheitsgebiet noch von einem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates oder eines Staates begangen wurden, der im Einzelfall die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt hat – eine angesichts der Geltung des Universalitätsprinzips bei Völkerstraftaten9 völkerrechtlich nicht gebotene und auch rechtspolitisch verfehlte Beschränkung der Zuständigkeit des IStGH. Von der ihm durch Art. 13 lit. b IStGH-Statut eingeräumten Möglichkeit hat der UN-Sicherheitsrat bereits Gebrauch gemacht: Mit Resolution 1593 (2005) vom 31.3.2005 überwies er die Situation im westsudanesischen Darfur – wegen dort verübter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ist der eingangs erwähnte Haftbefehl gegen al Bashir ergangen – an den Gerichtshof.10 Gemäß Art. 24 Abs. 1 UN-Charta haben die UN-Mitglieder dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen sowie anerkannt, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe in ihrem Namen handelt. Nach Art. 25 UN-Charta sind die UN-Staaten verpflichtet, Beschlüsse des Sicherheitsrates anzunehmen. Die UN-Mitglieder haben sich mithin verpflichtet, sämtliche Maßnahmen des Sicherheitsrates zu akzeptieren, und sich mit hieraus folgenden Eingriffen in ihre völkerrechtlichen Rechtspositionen vorab einverstanden erklärt.11 7 Eine besondere Stellung genießen unter Umständen jedoch Soldaten, deren Einsatz vom UN-Sicherheitsrat autorisiert worden ist. Siehe hierzu unten VI.2. 8 Einem Vertragsstaat gleichzustellen sind Staaten, die im Einzelfall nach Art. 12 Abs. 2 IStGH-Statut die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt haben. 9 Näher hierzu Kreicker, in: Eser/ders. (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1: Deutschland, 2003, S. 250 ff. 10 Vgl. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (127 f.); Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (590 ff.); Contag, Der internationale Strafgerichtshof im System kollektiver Sicherheit, 2009, S. 131 ff.; Kreß, in: Kempf u.a. (Hrsg.), Festschrift für Christian Richter II: Verstehen und Widerstehen, 2006, S. 319 (325 ff.). 11 Delbrück, in: Simma (Hrsg.), Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 25 Rn. 4 ff. Wenn der UN-Sicherheitsrat nach Art. 13 lit. b IStGHStatut eine Situation an den Gerichtshof überweist, so heißt dies notwendigerweise, dass er dem IStGH zugleich gestattet, die für völkerrechtliche Verbrechen Verantwortlichen zu verfolgen. Sofern in einer solchen Resolution nicht ausdrücklich bestimmte Personen oder Personengruppen von der Verfolgungszuständigkeit des IStGH ausgenommen werden, bedeutet dies, dass auch völkerrechtliche Immunität genießende Funktionsträger von der Verfolgungsermächtigung umfasst sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Funktionsträger von Vertragsstaaten des Römischen Statuts oder von Drittstaaten handelt. Mit einer Resolution des UNSicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta i.V.m. Art. 13 lit. b IStGH-Statut werden also völkerrechtliche Immunitäten etwaiger Beschuldigter implizit für unbeachtlich erklärt. Einen damit verbundenen Eingriff in seine völkerrechtlichen Rechtspositionen muss der Staat, in dessen Interesse eine Immunität gewährt wird, nach Art. 25 UN-Charta akzeptieren. Sämtliche völkerrechtlichen Exemtionen sind mithin für den IStGH unbeachtlich, wenn ein Strafverfahren auf einen Tätigwerden des UN-Sicherheitsrates nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut beruht und der Sicherheitsrat in der betreffenden Resolution nicht ausdrücklich bestimmte Einschränkungen der Verfolgungszuständigkeit festgelegt hat.12 In solchen Fällen hat Art. 27 IStGH-Statut lediglich deklaratorische Bedeutung. Praktische Relevanz kann der Exemtionsausschluss durch UN-Resolutionen nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut aber lediglich für die Immunitäten von Funktionsträgern von NichtVertragsstaaten des Römischen Statuts erlangen, weil für Funktionsträger von Vertragsstaaten bereits der oben dargelegte pauschale Exemtionsverzicht durch Ratifikation des Statuts eingreift. Unter anderem mit der hier skizzierten Argumentation hat die Vorverfahrenskammer I des IStGH in ihrer Haftbefehlsentscheidung vom 4.3.2009 – zutreffend – eine Immunität des amtierenden Staatspräsidenten des Sudan al Bashir verneint:13 Da der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1593 (2005) dem IStGH die Situation in Darfur unterbreitet hat, ohne Funktionsträger des Sudan von der Verfolgungsermächtigung auszunehmen, stand ungeachtet des Umstandes, dass der 12 Ebenso Akande, AJIL 98 (2004), 407 (417); Gaeta, JICJ 1 (2003), 186 (192 f.); Kreicker, HuV-I 2008, 157 (161 f.); Kreß, GA 2003, 25 (39); Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (427); Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (41 f., 55); Wirth, CLF 12 (2001), 429 (442). Ähnlich auch Alebeek, Immunity of States and Their Officials, 2008, S. 278, 290. Diese Argumentation greift allerdings nicht in Bezug auf Funktionsträger der Staaten, die keine UN-Mitgliedsstaaten sind. Dies sind aber lediglich das Kosovo, die Republik China (Taiwan) und die Vatikanstadt. 13 Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009, ICC-02/05-01/09-3, Ziff. 45. Vgl. diesbezüglich auch Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (128 f.); Kreicker, HuV-I 2008, 157 (161 f.). _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 351 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ Sudan das Römische Statut nicht ratifiziert hat, dem am 14.7.2008 vom Ankläger des IStGH gemäß Art. 58 IStGHStatut beantragten Erlass eines Haftbefehls gegen al Bashir keine völkerrechtliche Immunität, insbesondere keine Immunität als Staatsoberhaupt, entgegen. Auf die – noch zu diskutierende – Frage, ob die Immunität amtierender Staatsoberhäupter bei Verfahren vor dem IStGH eine völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme erfährt, kam es im Fall al Bashir deshalb nicht an. IV. Immunitäten für Funktionsträger von Drittstaaten Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut vermag nicht mit konstitutiver Wirkung die Unwirksamkeit von Immunitäten der Funktionsträger von Nicht-Vertragsstaaten festzulegen; dem steht das allgemeine Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter (Art. 34 WVRK) entgegen (pacta tertiis nec nocent ne prosunt).14 Für Drittstaaten, also Staaten, die das Römische Statut nicht ratifiziert haben, stellt dieses eine unverbindliche res inter alios acta dar; ihnen gegenüber kann der IStGH keine Rechte – wie das Recht auf Nichtbeachtung völkerrechtlicher Immunitäten – geltend machen, die sich nicht entweder aus einer – durch Delegation auf den IStGH übertragenen – völkerrechtlichen Kompetenz eines Vertragsstaates oder aus dem auch für Drittstaaten verbindlichen Völker(gewohnheits-)recht ergeben. Zur Beantwortung der Frage, inwieweit Exemtionen von Funktionsträgern von Drittstaaten für den IStGH beachtlich sind, muss deshalb – sofern nicht der UN-Sicherheitsrat nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut tätig geworden ist – zwischen den verschiedenen völkerrechtlichen Exemtionen differenziert werden.15 1. Die Staatenimmunität als Strafverfolgungshindernis a) Der Grundsatz der Staatenimmunität Aus dem völkerrechtlichen Fundamentalprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) folgt die – auch als eigenständiger Rechtssatz des Völkergewohnheitsrechts geltende – Staatenimmunität: Grundsätzlich darf kein Staat einen anderen Staat seiner nationalen Gerichtsbarkeit unterwerfen.16 Damit nämlich würde er sich gegenüber dem anderen Staat eine höherrangige Stellung anmaßen. Die Staatenimmunität untersagt in erster Linie zivilrechtliche Klagen gegen einen Staat vor Gerichten eines anderen Staates. Allerdings gilt sie heutzutage nur für hoheitlich-staatliche Tätigkeit (acta iure imperii), nicht jedoch für privatwirtschaftliches Handeln der Staaten (acta iure gestionis).17 Die Staatenimmunität erstreckt sich auch auf natürliche Personen. Diese sind in Bezug auf ihr hoheitliches Handeln 14 Akande, AJIL 98 (2004), 407 (418 f., 421); Kreß, GA 2003, 25 (39 f.); Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (35 ff.). 15 Auf die besondere Rechtsstellung von Soldaten wird unten unter VI. gesondert eingegangen. 16 Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, Rn. 658 ff.; Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 26 Rn. 17 ff. 17 BVerfGE 16, 27 (33 ff., 51 f., 61) = NJW 1963, 1732 (1732 f., 1735). für einen Staat fremder Gerichtsbarkeit grundsätzlich entzogen, und zwar unabhängig davon, ob sie – etwa als Beamte oder Soldaten – in einem festen Dienstverhältnis zu einem Staat stehen oder nicht.18 Denn mit der Inanspruchnahme von Personen für Handlungen, die einem anderen Staat als hoheitliches Handeln zurechenbar sind, würde man indirekt Gerichtsbarkeit über einen fremden Staat ausüben.19 Für das Strafrecht bedeutet dies, dass die Staatenimmunität einer Strafverfolgung staatlicher Funktionsträger wegen hoheitlicher Handlungen, die als Handlungen in Ausübung ihres Amtes einem anderen Staat zuzurechnen sind, prinzipiell entgegensteht.20 Die Staatenimmunität ist auch in ihrer Ausprägung als Strafverfolgungshindernis völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.21 Sie ist eine Immunität ratione materiae (handlungsbezogene Immunität), da sie nicht bestimmte Personen als solche von fremder Gerichtsbarkeit befreit, sondern „nur“ eine Strafverfolgung wegen hoheitlicher Amtshandlungen für einen anderen Staat untersagt, dafür aber für alle staatlichen Funktionsträger gleichermaßen gilt. b) Nichtgeltung der Staatenimmunität bei völkerrechtlichen Verbrechen Die völkerrechtlichen Verbrechen, die der Gerichtsbarkeit des IStGH unterfallen – Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und, vorbehaltlich einer Einigung über die Verbrechensdefinition, das Verbrechen der 18 BGH NJW 1979, 1101 (1102); Ambos, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1, 2003, Vor § 3 Rn. 106; Folz/Soppe, NStZ 1996, 576 (576, 578); Kreicker (Fn. 5), S. 51 f., 109 ff. m.w.N.; Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (400 ff., 411 f.). Die Staatenimmunität in ihrer Ausprägung als Immunität natürlicher Personen wird häufig auch als „Act of State-Doktrin“ bezeichnet; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 298 f. 19 Die Staatenimmunität in ihrer Ausprägung als Immunität natürlicher Personen ist seit dem „McLeod-Fall“ aus dem Jahr 1837 (hierzu Kreicker [Fn. 5], S. 110 f.) in der Völkerrechtspraxis anerkannt. 20 BVerfGE 96, 68 (85, 91) = NJW 1998, 50 (53 f.); BGHSt 39, 260 (263) = NJW 1993, 3147 (3147); House of Lords, 2. Entscheidung im Fall Pinochet vom 24.3.1999, Votum von Lord Browne-Wilkinson, HRLJ 1999, 61 (69), Votum von Lord Millet, HRLJ 1999, 61 (98); Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 106; ders. (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 106; Cryer et al., International Criminal Law, 2007, S. 423. Ausführlich zur strafrechtlichen Relevanz der Staatenimmunität Kreicker (Fn. 5), S. 49 ff. 21 ICTY, Prosecutor v. Blaškić, 29.10.1997 (IT-94-1AR108bis), Ziff. 38, 41: „State officials acting in their official capacity […] are mere instruments of a State and their official action can only be attributed to the State. They cannot be the subject of sanctions or penalties for conduct that is not private but undertaken on behalf of a State. […] they enjoy so-called ‘functional immunity’. This is a well established rule of customary international law […] and is based on the sovereign equality of States (par in parem non habet imperium).“ _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 352 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ Aggression (Art. 5 IStGH-Statut) – werden typischerweise nicht als Privathandlungen der einzelnen Täter, sondern mit staatlicher Unterstützung bzw. sogar in staatlichem Auftrag begangen. Sie sind also in aller Regel einem Staat zurechenbare acta iure imperii. Doch gilt die Staatenimmunität bei völkerrechtlichen Verbrechen generell nicht.22 Diese Immunitätsausnahme folgt zwangsläufig aus dem Charakter völkerrechtlicher Verbrechen: Die Staatenimmunität soll die Souveränität der Staaten schützen. Ein Staat, dessen Funktionsträger Völkerstraftaten begehen, verletzt jedoch in eklatanter Weise das Völkerrecht. Solche Straftaten berühren – wie es in der Präambel des Römischen Statuts heißt – die internationale Gemeinschaft als Ganzes. Eine strafrechtliche Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen stellt damit keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates dar, der „hinter dem Verbrechen steht“, und verletzt keine legitimen Souveränitätsinteressen dieses Staates. Die Ausnahme von der Staatenimmunität bei völkerrechtlichen Verbrechen ist seit langem völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Sie ist in den Nürnberger Prozessen zum Ausdruck gebracht worden23 und von der Völkerrechtspraxis seither immer wieder bestätigt worden.24 Hinzuweisen ist auf eine Entscheidung des ICTY aus dem Jahr 1997, in der es bezogen auf die Staatenimmunität heißt: „[…] exceptions arise from the norms of international criminal law prohibiting war crimes, crimes against humanity and genocide. Under these norms, those responsible for such crimes cannot invoke immunity from national or international jurisdiction even if they perpetrated such crimes while acting in their official capacity“.25 22 BVerfGE 96, 68 (84 f.) = NJW 1998, 50 (52 f.); Alebeek (Fn. 12), S. 209 f., 222 ff.; Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 111; ders. (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 135 ff.; Cassese, International Criminal Law, 2. Aufl. 2008, S. 304 ff.; ders., JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.); Cryer et al. (Fn. 20), S. 428, 432 f.; Gaeta (Fn. 2), S. 982; Frulli, Immunities of Persons, in: Cassese (Hrsg.), Oxford Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 368; Kreicker (Fn. 5), S. 156 ff. m.w.N. in Fn. 85; Kreß, GA 2003, 25 (35); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 16, 18; Werle (Fn. 6), Rn. 609 ff.; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (433 ff., 457). 23 Im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg (Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, Nürnberg 1947, S. 189) heißt es: „Jener Grundsatz des Völkerrechts, der unter gewissen Umständen dem Repräsentanten eines Staates Schutz gewährt, kann nicht auf Taten Anwendung finden, die durch das Völkerrecht als verbrecherisch gebrandmarkt werden. Diejenigen, die solche Handlungen begangen haben, können sich nicht hinter ihrer Amtsstellung verstecken, um in ordentlichen Gerichtsverfahren der Bestrafung zu entgehen. […] Derjenige, der das Kriegsrecht verletzt, kann nicht Straffreiheit deswegen erlangen, weil er auf Grund der Staatshoheit handelte, wenn der Staat Handlungen gutheißt, die sich außerhalb der Schranken des Völkerrechts bewegen.“ 24 Nachweise bei Kreicker (Fn. 5), S. 187 ff. 25 ICTY, Prosecutor v. Blaškić, 29.10.1997 (IT-94-1AR108bis), Ziff. 41. Hieraus folgt, dass Art. 27 IStGH-Statut in Bezug auf die Staatenimmunität deklaratorisch ist und sich auch Funktionsträger von Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts gegenüber dem IStGH nicht auf die Staatenimmunität berufen können.26 2. Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern a) Allgemeines zum Immunitätsumfang Amtierenden Staatsoberhäuptern kommt – neben der Staatenimmunität – Immunität ratione personae (statusbezogene Immunität) zu: Staatsoberhäupter genießen während ihrer Amtszeit umfassende Immunität von fremder Gerichtsbarkeit, die nicht nur vor einer Strafverfolgung wegen Handlungen in Ausübung des Amtes schützt, sondern auch Privathandlungen und Taten erfasst, die vor der Amtsübernahme begangen wurden, also die Person des Staatsoberhauptes wegen ihres Status fremder Strafgerichtsbarkeit vollständig entzieht.27 Diese völkergewohnheitsrechtliche28 Immunität von Staatsoberhäuptern verdeckt gewissermaßen während der Amtszeit die allgemeine Staatenimmunität. Sie gilt erga omnes, befreit also grundsätzlich von jeder Strafgerichtsbarkeit 26 Wie hier Akande, JICJ 1 (2003), 618 (637 ff.). Zum Teil wird argumentiert, die Staatenimmunität könne schon deshalb einer Strafverfolgung durch den IStGH keine Schranke setzen, weil sie auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten beruhe und deshalb nur fremdstaatliche Gerichtsbarkeit untersage; überstaatliche Instanzen könnten von vornherein durch die Staatenimmunität nicht gebunden werden. So etwa Epping (Fn. 16), § 26 Rn. 39; Frulli, JICJ 2 (2004), 1118 (1122); Gaeta, JICJ 1 (2003), 186 (194); König, Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz, 2003, S. 400; Werle (Fn. 6), Rn. 613 Fn. 549. Diese These greift aber zu kurz, denn sie verkennt, dass der IStGH kein von den Vertragsstaaten losgelöstes, genuin supranationales Gericht ist, sondern – wie bereits dargelegt – auf einem völkerrechtlichen Vertrag einzelner Staaten beruht, die jeweils Adressaten der Staatenimmunität sind. Deshalb ist der IStGH grundsätzlich in gleicher Weise an die Staatenimmunität von Funktionsträgern von Drittstaaten gebunden wie die einzelnen Vertragsstaaten. Ebenso Akande, AJIL 98 (2004), 407 (417). Vgl. insofern auch Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (36 f.). 27 Vgl. Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 106; Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (864); ders. (Fn. 22), S. 302 ff.; ders., JICJ 1 (2003), 437 (440); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1, 2. Aufl. 1989, S. 252 f.; Gornig (Fn. 3), S. 457 (460 ff.); Kreicker (Fn. 5), S. 707 ff.; Tangermann, Immunität von Staatsoberhäuptern, 2002, S. 116 ff., 207 f.; UerpmannWittzack, AVR 44 (2006), 33 (33 f.); Watts, RdC 247 (1994 III), S. 9 (51 ff.); Weiß, JZ 2002, 696 (701); Werle (Fn. 6), Rn. 607, 614; Wirth, EJIL 13 (2002), 877 (883 ff.). 28 Eine universelle völkervertragliche Regelung der Immunität von Staatsoberhäuptern gibt es nicht. Allerdings setzt Art. 21 der Convention on Special Missions vom 8.12.1969 (UNTS 1400, 213 = ILM 9 [1970], 127) mittelbar eine gewohnheitsrechtliche Immunität ratione personae von Staatsoberhäuptern voraus. Vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 712 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 353 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ außer der des eigenen Landes. Bereits die Einleitung eines Strafverfahrens – nicht etwa nur eine Inhaftierung – ist untersagt, und zwar unabhängig davon, ob sich die betreffende Person im Hoheitsgebiet eines strafverfolgungswilligen Staates aufhält oder nicht.29 Die umfassende Immunität der Staatsoberhäupter wurde erst in jüngerer Zeit durch internationale und nationale Judikate eindrucksvoll bestätigt. Zu erwähnen sind die Urteile des britischen House of Lords im Fall Pinochet,30 die Entscheidung der französischen Cour de Cassation im Fall Gaddafi vom 13.3.2001,31 ein Beschluss des OLG Köln im Fall Saddam Hussein vom 16.5.200032 und das Urteil des IGH im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen Belgien33. Inwieweit neben Staatsoberhäuptern auch Regierungsmitglieder – Regierungschefs und Minister der Zentralregierung eines Staates – Immunität ratione personae genießen, ist nach wie vor nicht abschließend geklärt.34 Der IGH hat – im Er29 BGHSt 33, 97 (97 f.) = NJW 1985, 639 (639); OLG Köln NStZ 2000, 667 (667). 30 Lord Nicholls of Birkenhead, 1. Pinochet-Urteil vom 25.11.1998, HRLJ 1998, 436 (438 f.): „[…] there can be no doubt that if Senator Pinochet had still been head of the Chilean State, he would have been entitled to immunity. […] I have no doubt that a current head of state is immune from criminal process under customary international law.“ Lord Steyn, 1. Pinochet-Urteil vom 25.11.1998, HRLJ 1998, 439 (440): „It is common ground that a Head of State while in office has an absolute immunity against civil or criminal proceedings.“ Lord Browne-Wilkinson, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 61 (67): „[…] personal immunity of the head of state persists to the present day. […] This immunity enjoyed by a head of state in power […] is a complete immunity attaching to the person of the head of state […] and rendering him immune from all actions and prosecutions whether or not they relate to matters done for the benefit of the state.“ Lord Saville of Newdigate, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 96 (96): „In general, under customary international law serving heads of state enjoy immunity from criminal proceedings in other countries by virtue of holding that office. This form of immunity is known as immunity ratione personae. It covers all conduct of the head of state while the person concerned holds that office and thus draws no distinction between what the head of state does in his official capacity […] and what he does in his private capacity.“ 31 Arrêt Nr. 1414. In englischer Übersetzung wiedergegeben in ILR 125, 490. Siehe auch Ambos (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 141 mit Fn. 780; Zappalá, EJIL 12 (2001), 595 (595 ff.). 32 OLG Köln NStZ 2000, 667 (667) mit Anm. Wirth in NStZ 2001, 665 (665 ff.). 33 Urteil vom 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3; deutsche Übersetzung in EuGRZ 2003, 536. Diese Entscheidung betraf zwar den völkerrechtlichen Status von Außenministern, doch gelten die Erwägungen für Staatsoberhäupter in gleicher Weise (so auch Weiß, JZ 2002, 696 [698]). 34 Bejahend etwa Steinberger-Fraunhofer, Internationaler Strafgerichtshof und Drittstaaten, 2008, S. 201; Watts, RdC gebnis zu Recht – in der vorstehend genannten Entscheidung eine umfassende völkergewohnheitsrechtliche Immunität ratione personae von Außenministern wegen ihrer vielfältigen Auslandskontakte bejaht.35 Zwar ist diese Feststellung kritisiert worden,36 da der IGH die Immunität von Außenministern nicht durch den Nachweis einer entsprechenden, von Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis belegt hat, sondern teleologisch argumentierte, doch wird man angesichts des erreichten Entwicklungsstandes des Völkerrechts die Ableitung einzelner Rechtssätze aus Strukturprinzipien des Völkerrechts für zulässig erachten müssen. Wenn aber Außenministern vollständige Immunität zukommt, so kann – a minore ad maius – die Rechtslage für Regierungschefs nicht anders sein, zumal Art. 7 Abs. 2 lit. a WVRK Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Außenministern identische völkerrechtliche Vertretungsbefugnisse zuerkennt. Die belgische Cour de Cassation hat denn auch im Fall Sharon eine umfassende Immunität von Regierungschefs anerkannt.37 Eine Immunität anderer Regierungsmitglieder als dem Regierungschef und Außenminister wird in der Literatur vielfach verneint.38 Doch wird diese Auffassung der Realität der modernen internationalen Beziehungen nicht gerecht. Einzelne Fachminister sind heutzutage wie Außenminister auf dem internationalen Parkett tätig. Sie sind mithin völkerrechtlich ebenso schutzwürdig und schutzbedürftig wie Außenminister. Wenn man deshalb die teleologische Argumentation des IGH akzeptiert, so muss man zu dem Schluss kommen, dass auch andere amtierende Fachminister der Zentralregierung eines Staates umfassende Immunität ratione personae genießen.39 Zu Recht hat deshalb ein britisches Gericht im Jahr 2004 den Erlass eines Haftbefehls gegen den israelischen Verteidi- 247 (1994 III), 9 (105 ff.); Wirth, CLF 12 (2001), 429 (432). Verneinend z.B. Bothe, ZaöRV 31 (1971), 246 (264); Folz/Soppe, NStZ 1996, 576 (577); Lüke, Immunität staatlicher Funktionsträger, 2000, S. 104 ff.; Ruffert, NILR 2001, 171 (180 f.). Vgl. ferner Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (404 ff.). 35 ICJ-Reports 2002, 3 (23 ff.), Ziff. 54 ff. 36 Vgl. Kreß, GA 2003, 25 (31 f.); Wouters, LJIL 16 (2003), 253 (256 ff.); Zeichen/Hebenstreit, AVR 41 (2003), 182 (188 f.). Zustimmend aber Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (855). 37 Hierzu Cassese, JICJ 1 (2003), 437 (437 ff.); Rau, HuV-I 2003, 92 (93 ff.). 38 So etwa Kreß, GA 2003, 25 (32 f.). 39 Ebenso Köck, in: Neuhold u.a. (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 4. Aufl. 2004, Rn. 1765; Steinberger-Fraunhofer (Fn. 34), S. 201 und wohl auch Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 264 f., wenn er allgemein „senior members of cabinet“ Immunität zuspricht. Ferner wird eine Immunität ratione personae amtierender Regierungsmitglieder ohne Differenzierung anerkannt von Simma/Paulus, in: NZZ vom 27.11.1998, S. 7 und Vogel, in: ders./Grotz, Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 2004, S. 1 (31 f.). Näher zu dieser Problematik Kreicker (Fn. 5), S. 723 ff. m.w.N. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 354 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ gungsminister Mofaz unter Verweis auf dessen völkerrechtliche Immunität ratione personae abgelehnt.40 Die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern dient der Verhinderung zwischenstaatlicher Konflikte, die eine Strafverfolgung wohl zwangsläufig mit sich brächte, und schützt die Funktionsfähigkeit der internationalen Beziehungen, da sie Reisen in andere Staaten ohne Furcht vor – politisch motivierter bzw. mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbarer – Strafverfolgung ermöglicht. Sie dient also nicht zuletzt der Friedenssicherung und hat so eine hinreichende Legitimationsbasis. b) Immunitätsausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen Hinsichtlich der hier interessierenden Frage der Beachtlichkeit der Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern für den IStGH ist zunächst zu klären, ob diese Immunität – ebenso wie die von ihr streng zu unterscheidende Staatenimmunität – bei völkerrechtlichen Verbrechen eine generelle Ausnahme erfährt. Bezogen auf nationale Strafverfolgungen durch einzelne Staaten fällt die Antwort klar negativ aus: Die jüngere Staatenpraxis in Form von Entscheidungen nationaler und internationaler Gerichte hat die Geltung dieser Immunität ratione personae auch bei Verfahren wegen völkerrechtlicher Verbrechen bestätigt. Die bereits erwähnten Gerichtsentscheidungen in den Fällen Pinochet und Gaddafi gehen von einer absoluten Geltung der Immunität in Bezug auf nationale Strafverfolgungen aus, die auch bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme erfährt.41 In seinem Urteil im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen Belgien vom 14.2.200242 hat der IGH ausgeführt: „58. The Court has carefully examined State practice, including national legislation and those few decisions of national higher courts, such as the House of Lords or the French Court of Cassation. It has been unable to deduce from this practice that there exists under customary international law any form of exception to the rule according immunity from criminal jurisdiction and inviolability to incumbent Ministers of Foreign Affairs, where they are suspected of having committed war crimes or crimes against humanity. The Court has also examined the rules concerning immunity or criminal responsibility of persons having an official capacity contained in the legal instruments creating international criminal tribunals, and which are specifically applicable to the latter […]. It finds that these rules likewise do not enable it to conclude that any such an exception exits in customary international law in regard to national courts.“ Ganz zu Recht wird deshalb auch in der Literatur überwiegend angenommen, die Immunität amtierender Staatsoberhäupter (und Regierungsmitglieder) gelte in Bezug auf nationale Strafverfolgungen uneingeschränkt, also auch bei völkerrechtlichen Verbrechen.43 Völkerrechtliche Strafverfolgungspflichten treten insofern zurück.44 40 Hierzu Warbrick, ICLQ 53 (2004), 769 (771 ff.). Vgl. oben Fn. 30 und Fn. 31. 42 Vgl. oben Fn. 33. 43 Akande, AJIL 98 (2004), 407 (411); Alebeek (Fn. 12), S. 265 ff.; Ambos, JZ 1999, 16 (23); Cassese, EJIL 13 (2002), 41 Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Immunität amtierender Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder von Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts deshalb auch für den IStGH beachtlich: Diese Immunität gilt erga omnes; sie ist von allen Staaten außer dem eigenen Staat eines Staatsoberhauptes oder Regierungsmitgliedes zu beachten. Mithin kann kein Vertragsstaat eine eigene Verfolgungskompetenz an den IStGH delegieren. In der Literatur ist Art. 27 IStGH-Statut daher insofern, als die Unbeachtlichkeit der Immunität von Staatsoberhäuptern von Drittstaaten ausgesprochen wird, für völkerrechtswidrig erachtet worden.45 Doch ist fraglich, ob man zu einem solchen Verdikt wirklich kommen muss. Es ist vielmehr zu klären, ob sich mittlerweile Völkergewohnheitsrecht dahingehend herausgebildet hat, dass die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern gegenüber internationalen Gerichten wie dem IStGH nicht gilt.46 An derartiges Völkergewohnheitsrecht wären auch Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts gebunden. Eine solche Immunitätsausnahme lässt sich nicht schon mit dem Argument verneinen, dass – wie gezeigt – die Immunität gegenüber nationalen Strafverfolgungen auch bei völkerrechtlichen Verbrechen gilt. Denn bei einer einzelstaatlichen Strafverfolgung, die – da bei völkerrechtlichen Verbrechen das Weltrechtsprinzip gilt47 – von jedem Staat durchgeführt werden könnte, lässt sich die Gefahr einer politisch motivierten, parteiischen oder sonst mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbaren Verfolgung nicht immer von der Hand weisen. Deshalb verwundert es nicht, dass eine Immunitätsausnahme gegenüber fremdstaatlicher Strafver853 (865 ff.); ders. (Fn. 22), S. 304, 310; Cryer et al. (Fn. 20), S. 434 ff.; Kreicker (Fn. 5), S. 729 ff. m.w.N. in Fn. 85; Kreß, GA 2003, 25 (33); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 20; Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (425); Werle (Fn. 6), Rn. 608, 614, 619; Wirth, EJIL 13 (2002), 877 (883, 888 f.). A.A. Triffterer, in: Buffard u.a. (Hrsg.), International Law between Universalism and Fragmentation, Festschrift in Honour of Gerhard Hafner, 2008, S. 571 (575 ff.). Eine Ausnahme von der uneingeschränkten Immunität amtierender Staatsoberhäupter normiert allerdings Art. IV der Völkermordkonvention vom 9.12.1948 (BGBl. 1954 II, S. 730), doch gilt diese gemäß Art. VI nur bei Strafverfolgungen durch den Tatortstaat; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 741 f. 44 IGH, Demokratische Republik Kongo gegen Belgien, Urt. v. 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3 (25 f.), Ziff. 59. 45 Wirth, CLF 12 (2001), 429 (453). Vgl. auch Akande, AJIL 98 (2004), 407 (418 f.). 46 Methodisch unzulänglich wäre es, eine Nichtgeltung der Immunität gegenüber internationalen Gerichten schlicht damit zu begründen, es lasse sich keine positive gewohnheitsrechtliche Regel dahingehend feststellen, dass die Immunität auch gegenüber internationalen Gerichten gilt. Denn die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern befreit von jeglicher fremder Hoheitsgewalt, so dass es für die Nichtgeltung gegenüber internationalen Gerichten einer Ausnahmevorschrift bedarf. So auch UerpmannWittzack, AVR 44 (2006), 33 (35 ff.). 47 Vgl. oben Fn. 9. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 355 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ folgung in der Staatenpraxis keine Anerkennung findet. Derartige Gefahren bestehen jedoch bei einem auf Universalität angelegten, an die Vereinten Nationen angebundenen, mit Richtern aus allen Teilen der Welt besetzten sowie von einzelnen Staaten unabhängigen und strengen rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Gericht wie dem IStGH nicht. Für eine solche Immunitätsausnahme lässt sich auf eine durchaus beachtliche Staatenpraxis verweisen: 1999 erhob der Ankläger des ICTY Anklage gegen den damaligen Staatspräsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan Milosević. Die Bundesrepublik Jugoslawien war aber zu diesem Zeitpunkt nicht Mitglied der Vereinten Nationen, so dass das ICTY-Statut (Art. 7 Abs. 2) eine Immunität von Milosević nicht konstitutiv ausschließen konnte.48 2001 begründete der ICTY die Nichtgeltung einer Immunität von Milosević damit, der Immunitätsausschluss in Art. 7 Abs. 2 ICTY-Statut spiegele Völkergewohnheitsrecht wider.49 Der Sondergerichtshof für Sierra Leone erklärte 2004 die Erhebung einer Anklage und den Erlass eines Haftbefehls gegen den zum Zeitpunkt der Anklageerhebung und des Erlasses des Haftbefehls noch amtierenden Staatspräsidenten von Liberia, Charles Taylor, mit dem Argument für rechtmäßig, amtierende Staatsoberhäupter genössen keine Immunität gegenüber (bestimmten Anforderungen genügenden) internationalen Strafgerichtshöfen – und als ein solcher sei der Sondergerichtshof für Sierra Leone zu klassifizieren.50 Im Urteil Demokratische Republik Kongo gegen Belgien ist offenbar auch der IGH von einer solchen Immunitätsausnahme ausgegangen, heißt es doch dort: „[…] an uncumbent or former Minister for Foreign Affairs may be subject to criminal proceedings before certain international criminal courts, where they have jurisdiction.“51 Der Haftbefehlsentscheidung des IStGH vom 4.3.200952 kommt im vorliegenden Kontext besondere Bedeutung zu: Die Vorverfahrenskammer I hat die Irrelevanz der Immunität al Bashirs als Staatsoberhaupt des Sudans für den IStGH nicht nur – wie erwähnt – mit dem Verfolgungsersuchen durch den UN-Sicherheitsrat begründet, sondern in erster Linie darauf abgestellt, dass es Ziel des Römischen Statuts sei, eine Straflosigkeit der für Völkerstraftaten Verantwortlichen zu verhindern.53 Ferner hat die Kammer ausgeführt, das Statut normiere mit Art. 27 einen generellen Exemtionsausschluss; andere Regeln des Völkerrechts – also auch die völkergewohnheitsrechtlich geltende Immunität von Staats48 Vgl. hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 762. ICTY, Prosecutor v. Milosević, 8.11.2001 (IT-02-54), Ziff. 28. 50 Decision on Immunity from Jurisdiction vom 31.5.2004 im Verfahren SCSL-2003-01-I, Ziff. 34 ff. Vgl. zu dieser Entscheidung Deen-Racsmány, LJIL 18 (2005), 299 (299 ff.); Frulli, JICJ 2 (2004), 1118 (1118 ff.); Nouwen, LJIL 18 (2005), 645 (645 ff.). 51 IGH, Demokratische Republik Kongo gegen Belgien, Urt. v. 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3 (26 f.), Ziff. 61. 52 Vgl. oben Fn. 13. 53 Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009 (vgl. oben Fn. 13), Ziff. 42. 49 oberhäuptern – seien gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. b IStGHStatut nur maßgeblich, wenn das Statut eine Regelungslücke aufweise.54 Dies aber ist im Hinblick auf die Regelung des Art. 27 gerade nicht der Fall. Auch wenn diese Argumentation enttäuschend schwach und ungenügend ist, da sie außer Acht lässt, dass das Römische Statut als „normaler“ völkerrechtlicher Vertrag gemäß Art. 34 WVRK nicht die völkergewohnheitsrechtlich geltenden Rechtspositionen von Drittstaaten zu beschränken vermag, so ist doch auch diese Entscheidung der Vorverfahrenskammer I des IStGH von Rechtsüberzeugung getragene völkerrechtliche Übung und damit maßgeblich für die Begründung neuen Völkergewohnheitsrechts – hier eines völkergewohnheitsrechtlich geltenden Rechtssatzes des Inhalts, dass die Immunität von Staatsoberhäuptern (und Regierungsmitgliedern) gegenüber supranationalen Strafgerichten wie dem IStGH nicht gilt. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Statuten aller internationalen Strafgerichtshöfe vom IMT-Statut des Nürnberger Militärgerichtshofs über das ICTY- und ICTR-Statut bis hin zum IStGH-Statut sämtliche Immunitäten und damit auch die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern für unbeachtlich erklären. Bedenkt man, dass das IStGH-Statut von 109 Staaten und damit mehr als der Hälfte der Staaten der Welt ratifiziert worden ist, so finden die genannten Gerichtsentscheidungen Unterstützung in einer breiten Verbalpraxis der Staaten. Deswegen wird man mittlerweile davon auszugehen haben, dass die Immunität amtierender Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder gegenüber internationalen Strafgerichtshöfen wie dem IStGH eine völkergewohnheitsrechtlich anerkannte Ausnahme erfährt.55 Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut ist also auch hinsichtlich amtierender Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder aus Drittstaaten völkerrechtskonform und anwendbar. c) Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder Ehemaligen Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern kommt keine besondere völkerrechtliche Immunität mehr zu: Unbestritten endet die Immunität ratione personae mit dem Amtsverlust.56 Da diese Immunität nicht als persönliche 54 Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009 (vgl. oben Fn. 13), Ziff. 43 f. 55 Wie hier Lord Slynn of Hadley, 1. Pinochet-Urteil vom 25.11.1998, HRLJ 1998, 419 (425); Ambos, JZ 1999, 16 (20); ders. (Fn. 6), § 7 Rn. 109; Cassese (Fn. 22), S. 311 f.; Frulli, JICJ 2 (2004), 1118 (1127 f.); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 20 ff.; Triffterer, in: ders. (Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2008, Art. 27 Rn. 12 f.; Werle (Fn. 6), Rn. 616, 620; Zahar/Sluiter, International Criminal Law, 2008, S. 504. Siehe zudem Kreicker (Fn. 5), S. 761 ff. m.w.N. in Fn. 212. A.A. aber Alebeek (Fn. 12), S. 275 ff.; Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (45 ff.). 56 Vgl. nur Lord Browne-Wilkinson, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 61 (68); Lord Goff of Chieveley, _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 356 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ Wohltat gewährt wird, sondern allein, damit die geschützte Person ihr Amt ungehindert ausüben kann, ist für eine über die Amtszeit hinausreichende Immunität ratione personae kein Raum. Allerdings wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ehemalige Staatsoberhäupter (und Regierungsmitglieder) zeitlich unbegrenzt Immunität für ihre früheren Amtshandlungen genössen, da es insoweit um ihrem Staat zuzurechnende Handlungen gehe.57 Diese Begründung zeigt, dass die fortbestehende Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder für frühere Amtshandlungen nichts anderes ist als die jedem Funktionsträger zukommende Staatenimmunität, die während der Amtszeit lediglich von der umfassenden Immunität ratione personae überdeckt wird.58 Die Staatenimmunität aber erfährt – wie dargelegt – bei Völkerstraftaten eine Ausnahme. Ehemalige Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder genießen deshalb bei einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen nicht nur gegenüber dem IStGH, sondern auch gegenüber der nationalen Strafgerichtsbarkeit einzelner Staaten keine Immunität.59 Auch in Bezug auf ehemalige Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder ist Art. 27 IStGH-Statut somit völkerrechtskonform. 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 69 (71); Lord Saville of Newdigate, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 96 (96); Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (864); ders. (Fn. 22), S. 302, 304; Doehring (Fn. 16), Rn. 672; Werle (Fn. 6), Rn. 607, 615. 57 Vgl. die in Fn. 56 zitierten Voten im 3. Pinochet-Urteil sowie Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 254; Doehring (Fn. 16), Rn. 672; Gornig (Fn. 3), S. 457 (484). 58 So auch Lord Millett, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 97 (98); OLG Köln NStZ 2000, 667 (667); Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (862 ff.); Wirth, EJIL 13 (2002), 877 (883, 888 ff.); Zappalà, EJIL 12 (2001), 595 (598 ff.). 59 Im Ergebnis ganz h.M.; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 747 ff. m.w.N. in Fn. 165. Daher braucht man, um die Zulässigkeit nationaler Strafverfolgungen ehemaliger Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder wegen Völkerstraftaten zu begründen, nicht die – realitätsferne und unrechtsrelativierende – These zu bemühen, solche Taten seien – zumindest in immunitätsrechtlicher Hinsicht – als Privathandlungen zu werten. So aber z.B. Alebeek (Fn. 12), S. 222 ff.; Ambos, JZ 1999, 16 (23); Kreß, GA 2003, 25 (36). Siehe zu dieser Diskussion auch Kreicker (Fn. 5), S. 120 ff., 751 ff. m.w.N. Die Ausführungen des IGH im Urteil Demokratische Republik Kongo gegen Belgien, wonach ehemalige Außenminister von fremden Staaten wegen solcher während der Amtszeit verübter Straftaten verfolgt werden dürfen, die als Privathandlungen zu werten sind (ICJ-Reports 2002, 3 [26], Ziff. 61), steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen, da diese Passage des Urteils nur Beispiele für eine zulässige Strafverfolgung (ehemaliger) höchster staatlicher Funktionsträger nennt; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 755 f. Für völkerrechtswidrig, weil die Nichtgeltung der Immunität ehemaliger höchster staatlicher Funktionsträger bei völkerrechtlichen Verbrechen außer Acht lassend, halten das IGH-Urteil u.a. Ambos (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 143 und Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (866 ff.). 3. Diplomatische und konsularische Immunitäten a) Allgemeines zum Immunitätsumfang Die Immunitäten der Mitglieder diplomatischer und konsularischer Vertretungen gehören zu den wenigen völkervertraglich normieren Exemtionen: Sie sind im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD) von 196160 und im Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) von 196361 geregelt, deren Bestimmungen aufgrund ihrer herausragenden Akzeptanz auch völkergewohnheitsrechtlich und damit universell gelten.62 Diplomaten und ihre Familienmitglieder63 genießen während der Dienstzeit des Diplomaten umfassende Immunität ratione personae, die auch Privathandlungen sowie vor Dienstantritt begangene Taten erfasst, also eine vollständige Strafgerichtsbarkeitsbefreiung bewirkt (Art. 31 Abs. 1 S. 1, Art. 37 Abs. 1 WÜD). In gleichem Umfang privilegiert sind Mitglieder des Verwaltungs- und technischen Personals diplomatischer Missionen sowie deren Familienangehörige (Art. 37 Abs. 2 WÜD). Anders als die Immunität ratione personae der Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder gilt die diplomatische Immunität aber nicht erga omnes, sondern lediglich im jeweiligen Empfangsstaat.64 Die diplomatische Immunität ratione personae endet mit der endgültigen Ausreise aus dem Empfangsstaat nach Beendigung der dienstlichen Tätigkeit (Art. 39 Abs. 2 S. 1 WÜD). Allerdings gilt – als Teilmenge der Immunität ratione personae – für die während der Amtszeit vorgenommenen Diensthandlungen gemäß Art. 39 Abs. 2 S. 2 WÜD eine Immunität ratione materiae zeitlich unbegrenzt fort.65 Konsularbeamten, Bediensteten des Verwaltungs- oder technischen Personals einer konsularischen Vertretung sowie den Mitgliedern des dienstlichen Hauspersonals diplomatischer Missionen kommt „nur“ Immunität ratione materiae zu, die ebenfalls allein den jeweiligen Empfangstaat verpflichtet: Lediglich Strafverfahren wegen in Ausübung der dienstlichen Tätigkeit vorgenommener Handlungen sind untersagt (Art. 43 Abs. 1, Art. 58 Abs. 2 WÜK, Art. 37 Abs. 3 WÜD), dafür ist die Immunität allerdings zeitlich nicht befristet (Art. 53 Abs. 4 WÜK). Jedoch genießen Berufskonsularbeamte während ihrer Dienstzeit neben ihrer Immunität ratione materiae noch eine – für „private Taten“ relevante – weitreichende Unverletzlichkeit (Art. 41 Abs. 1 WÜK): Mit einer Freiheitsentziehung verbundene Maßnahmen sind nur wegen schwerer 60 BGBl. 1964 II, S. 957. BGBl. 1969 II, S. 1585. 62 Vgl. IGH, ICJ-Reports 1979, 7 (19 f.) und ICJ-Reports 1980, 3 (24, 31). 63 Zum Begriffsgehalt siehe Kreicker (Fn. 5), S. 421 ff. 64 Fischer, in: Ipsen (Fn. 16), 5. Aufl. 2004, § 35 Rn. 34 f., 42, 44. Ausführlich zum Gehalt der diplomatischen und konsularischen Immunitäten Kreicker (Fn. 5), S. 383 ff. 65 BVerfGE 96, 68 (80, 89) = NJW 1998, 50 (51, 54); Böttcher, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 7, 25. Aufl. 2003, § 18 GVG Rn. 8, § 19 GVG Rn. 12. 61 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 357 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ strafbarer Handlungen statthaft – dies sind bezogen auf Deutschland Verbrechen im Sinne des § 12 StGB.66 Anderen Beschäftigten diplomatischer und konsularischer Vertretungen stehen nach dem WÜD und WÜK keine besonderen Exemtionen zu. Sie können sich allerdings – wie jeder staatliche Funktionsträger – in Bezug auf ihre hoheitlichdienstlichen Handlungen auf die allgemeine Staatenimmunität berufen.67 In Drittstaaten kommt Mitgliedern diplomatischer und konsularischer Vertretungen keine Immunität, sondern – beschränkt auf dienstlich motivierte Durchreisen – nur Unverletzlichkeit, also Befreiung von strafprozessualer Zwangsgewalt zu (Art. 40 WÜD, Art. 54 WÜK).68 Besonderheiten gelten für Diplomaten und Konsularbeamte, die – wie regelmäßig Honorarkonsuln – Angehörige des Empfangsstaates oder in diesem ständig ansässig sind: Diese genießen lediglich – zeitlich unbegrenzt – Immunität ratione materiae, die aber – anders als die Immunität ratione materiae der entsandten Konsularbeamten und die fortbestehende Immunität ehemaliger Diplomaten – nicht alle Handlungen in Ausübung des Dienstes erfasst, sondern nur die unmittelbaren Amtshandlungen (Art. 38 Abs. 1 WÜD, Art. 71 Abs. 1 WÜK).69 Schon daran wird – und dies ist für die Frage der Geltung der Exemtionen bei völkerrechtlichen Verbrechen von zentraler Bedeutung – deutlich: Anders als in der Literatur vielfach behauptet wird, handelt es sich bei den Immunitäten ratione materiae um kein einheitliches Rechtsinstitut. Der Begriff „Immunität ratione materiae“ ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene Exemtionen mit unterschiedlicher sachlicher und räumlicher Reichweite, die nicht mehr vereint, als dass sie auf (bestimmte) dienstliche Handlungen bezogen sind.70 So gilt beispielsweise – wie dargelegt – die Staatenimmunität einerseits erga omnes, also gegenüber allen fremden Staaten, erfasst andererseits aber lediglich hoheitlich-dienstliche Handlungen (acta iure imperii). Die Immunitäten ratione materiae von Konsularbeamten und ehemaligen Diplomaten dagegen gelten – wie ausgeführt – allein im Empfangsstaat der betreffenden Person, erfassen dafür aber auch acta iure gestionis, so dass die Staatenimmunität und die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae nicht identisch sind.71 66 Kreicker (Fn. 5), S. 444 ff., insbesondere S. 456 f. Denza, Diplomatic Law, 2. Aufl. 1998, S. 342; Kreicker (Fn. 5), S. 438 mit Fn. 161. 68 Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 285; Kreicker (Fn. 5), S. 598 ff. 69 AG Hannover NdsRpfl. 1975, 127 (127); Böttcher (Fn. 65), § 19 GVG Rn. 5; Denza (Fn. 67), S. 342; Kreicker (Fn. 5), S. 429 ff., 467 ff., 476 f., 492 ff.; Richtsteig, Übereinkommen über diplomatische und konsularische Beziehungen, 1994, S. 216, 252, 268. 70 Ebenso Seidenberger, Diplomatische und konsularische Immunitäten, 1994, S. 114. 71 BVerfGE 96, 68 (85) = NJW 1998, 50 (53); Kreicker (Fn. 5), S. 490 ff., 551 ff.; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (447); ders., EJIL 13 (2002), 877 (883 f.). A.A. etwa Cassese, EJIL 67 b) Immunitätsausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen Für die hier interessierende Frage der Exemtionsgeltung gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof ist zunächst zu klären, ob die diplomatischen und konsularischen Immunitäten eine generelle Ausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen erfahren. Denn dann könnten sie – wie die Staatenimmunität – der Gerichtsbarkeit des IStGH von vornherein keine Schranken setzen. Weitgehende Einigkeit besteht dahingehend, dass jedenfalls für die Immunitäten ratione personae des Diplomatenrechts eine solche Ausnahme nicht gilt.72 Weder lässt sich dem WÜD eine derartige Immunitätsausnahme entnehmen noch gibt es entsprechende Staatenpraxis. Amtierende Diplomaten genießen gegenüber der Strafgerichtsbarkeit ihres Empfangsstaates also auch dann Immunität, wenn ihnen Völkerstraftaten zur Last gelegt werden. Soweit in der Literatur behauptet wird, die Immunitäten ratione materiae des Diplomaten- und Konsularrechts gälten bei völkerrechtlichen Verbrechen nicht, liegt dem die verfehlte und deshalb zu Recht vom BVerfG zurückgewiesene73 These einer Identität dieser Exemtionen mit der Staatenimmunität zu Grunde und wird deshalb schlicht die – völkergewohnheitsrechtlich anerkannte – Immunitätsausnahme bei der Staatenimmunität für einschlägig erachtet.74 Eine genaue Analyse der Völkerrechtspraxis zeigt jedoch, dass auch die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae – im Rahmen ihrer sehr begrenzten räumlichen Reichweite – vor einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen schützen.75 Insofern ist zunächst auf das WÜD und WÜK zu verweisen: In diesen Verträgen ist keine Immunitätsausnahme für Völkerstraftaten normiert, obwohl dies, hätten die Staaten eine solche Ausnahme gewollt, zu erwarten gewesen wäre.76 Denn bei der Ausarbeitung des WÜD und WÜK lag die im Rahmen der Nürnberger Prozesse geführte Diskussion über die Geltung von Immunitäten bei völkerrechtlichen Verbrechen noch nicht lange zurück; zudem waren kurz nach dem zweiten Weltkrieg einige – vereinzelt gebliebene – Judikate ergangen, mit denen Gerichte eine 13 (2002), 853 (862 ff.); Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68 (70, 74 f., 96 f.); Faßbender, NStZ 1998, 144 (145); Werle (Fn. 6), Rn. 606 ff. 72 Vgl. nur Alebeek (Fn. 12), S. 265 ff.; Cassese (Fn. 22), S. 304, 310; ders., JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.); Cryer et al. (Fn. 20), S. 434 ff.; Gaeta (Fn. 2), S. 975 (975 ff.); Werle (Fn. 6), Rn. 614, 619. A.A. Triffterer (Fn. 43), S. 571 (575 ff.) und teilweise auch Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 111. 73 Vgl. oben Fn. 71. 74 So etwa Cassese, JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.); ders. (Fn. 22), S. 302 ff.; Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68 (83 f); Gaeta (Fn. 2), S. 975 ff.; Werle (Fn. 6), Rn. 609. 75 Wie hier BVerfGE 96, 68 (82) = NJW 1998, 50 (52); Dinstein, ICLQ 15 (1966), 76 (87 f.); ders., Consular Immunity, 1966, S. 51 f.; Nahlik, RdC 1990 III, 187 (254); Rüping, in: Gössel u.a. (Hrsg.), Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 397 (S. 404 f.). Ausführlich Kreicker (Fn. 5), S. 570 ff. 76 So auch Nahlik, RdC 1990 III, 187 (254). _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 358 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ Berufung auf diplomatische Immunität im Zusammenhang mit völkerrechtlichen Verbrechen zurückgewiesen hatten – ohne allerdings deutlich zu machen, ob sie von einer völkerrechtlichen Immunitätsausnahme ausgingen.77 Einschlägige Gerichtsentscheidungen aus jüngerer Zeit gibt es – soweit ersichtlich – nicht; Entscheidungen, die auf die Staatenimmunität bezogen sind, sind nach dem Vorstehenden für eine etwaige Ausnahme von den Immunitäten des Diplomatenund Konsularrechts ohne Belang. Rückschlüsse von der Staatenimmunität auf die Immunitäten ratione materiae des Diplomaten- und Konsularrechts verbieten sich angesichts der Unterschiede zwischen beiden Exemtionen, die auch darin liegen, dass die Staatenimmunität allein dem Schutz staatlicher Souveränität dient, die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae dagegen auch den Schutz der Funktionsfähigkeit der internationalen Beziehungen und deshalb den Schutz der handelnden Akteure bezwecken.78 Auch die völkerrechtlichen Bestrafungspflichten bei Völkerstraftaten – wie sie etwa in den Genfer Abkommen normiert sind – vermögen die Exemtionsregelungen des WÜD und WÜK nicht zu verdrängen. Denn letztgenannte Normen sind, da sie anders als die Bestrafungspflichten auf einen ganz engen Personenkreis bezogen sind, leges speciales. In seinem Urteil im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen Belgien hat der IGH ausdrücklich betont, völkerrechtliche Bestrafungspflichten seien nachrangig gegenüber Immunitätsgewährleistungen.79 Hinzu kommt, dass der IGH in seinem Urteil im „Teheraner Geiselfall“ das Diplomatenrecht als „self-contained-regime“ klassifiziert hat, also als ein geschlossenes System aufeinander bezogener Rechtsregeln, das nicht durch Rückgriff auf sonstige völkerrechtliche Normen überwunden werden könne.80 Deshalb lässt sich auch nicht argumentieren, Mitglieder diplomatischer oder konsularischer Vertretungen, die völkerrechtliche Verbrechen begingen, verwirkten die ihnen bzw. ihrem Staat zukommenden Vorrechte.81 Auch der Umstand, dass die Statuten aller internationalen Strafgerichtshöfe diplomatische und konsularische Immunitäten für unbeachtlich erklären, spricht nicht für eine allgemeine, also auch in Bezug auf nationale Strafverfolgungen geltende völkergewohnheitsrechtliche Immunitätsausnahme. Denn von einer Immunitätsausnahme in Bezug auf höchsten rechtsstaatlichen Ansprüchen genügende, von den Vereinten Nationen bzw. einer großen Mehrzahl der Staaten 77 Entscheidung des Obersten Gerichts Dänemarks im Fall Best vom 17.3.1950, ILR 17, 434; Urteil der französischen Cour de Cassation im Fall Abetz vom 28.7.1950, ILR 17, 279. 78 BVerfGE 96, 68 (84 f.) = NJW 1998, 50 (52 f.): „Einem Schluss von der Staatenimmunität auf die diplomatische Immunität ratione materiae steht das personale Element jeder diplomatischen Immunität entgegen, das nicht den Entsendestaat, sondern den Diplomaten als handelndes Organ persönlich schützt.“ 79 Vgl. oben Fn. 44. 80 IGH, ICJ-Reports 1980, 3 (40). Ebenso BVerfGE 96, 68 (82 f.) = NJW 1998, 50 (52). 81 Vgl. diesbezüglich Doehring (Fn. 16), Rn. 684; Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68 (85 ff.). getragene internationale Strafgerichtshöfe kann nicht darauf geschlossen werden, dass die völkerrechtlichen Akteure mit einer Strafverfolgung Immunität genießender Personen wegen völkerrechtlicher Verbrechen durch irgendeinen einzelnen Staat ebenso einverstanden sind.82 Schließlich ergibt sich mittelbar aus Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut, dass die diplomatischen und konsularischen Exemtionen keine generelle Ausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen erfahren. Der jeweilige Empfangsstaat kann deshalb durch die diplomatischen und konsularischen Exemtionen unter Umständen an einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen gehindert sein kann; in Bezug auf Strafverfolgungen durch den Empfangsstaat gibt es für die diplomatischen und konsularischen Immunitäten keine Ausnahme bei Völkerstraftaten. c) Spezielle Immunitätsausnahme für den Internationalen Strafgerichtshof Die vorstehenden Feststellungen bedeuten aber nicht, dass auch der IStGH diplomatische und konsularische Exemtionen zu beachten hat, also Art. 27 Abs. 2 IStGH insofern, als die Irrelevanz von Immunitäten für Diplomaten und Konsularbedienstete aus Drittstaaten festgelegt wird, völkerrechtswidrig ist. Auf den ersten Blick erscheint es einfach, die Relevanz diplomatischer und konsularischer Exemtionen für den IStGH auch für Fälle zu verneinen, in denen es um Beschuldigte geht, deren Entsendestaat nicht Vertragsstaat des IStGH ist: Man könnte argumentieren, die Exemtionsregelungen des WÜD und WÜK sowie des parallelen Völkergewohnheitsrechts richteten sich lediglich an Staaten; nur Staaten – nämlich der jeweilige Empfangsstaat – würden durch die Exemtionsregelungen verpflichtet. Der IStGH ist jedoch kein staatliches, sondern ein supranationales Gericht. Einer Strafverfolgung durch den IStGH könnten daher die an Staaten adressierten Immunitätsregelungen des Diplomaten- und Konsularrechts von vornherein keine Schranke setzen.83 Doch vermag diese Argumentation nicht zu überzeugen, und zwar deshalb nicht, weil der IStGH – wie eingangs bereits ausgeführt – keine von den einzelnen Staaten losgelöste Einrichtung ist, sondern von den Vertragsstaaten auf der Basis eines völkerrechtlichen Vertrages gegründet wurde, so dass sich die Befugnisse des Gerichtshofs aus den Kompetenzen der Vertragsstaaten bzw. dem Völkergewohnheitsrecht ableiten. Grundsätzlich sind deshalb die für einzelne Staaten beachtlichen völkerrechtlichen Immunitäten auch für den IStGH maßgeblich; die Jurisdiktionskompetenz des IStGH reicht grundsätzlich nicht über diejenige der Vertragsstaaten hinaus. In dieser Feststellung liegt aber zugleich der Schlüssel für die Erkenntnis, dass die diplomatischen und konsularischen Immunitäten einer Strafverfolgung durch den IStGH auch dann nicht entgegenstehen, wenn der Entsendestaat des Beschuldigten nicht Vertragsstaat des Statuts ist. Denn wie bereits dargelegt, verpflichten die diplomatischen und konsu82 Ebenso Maierhöfer, EuGRZ 2003, 545 (552). So offenbar der Gedankengang von Fischer (Fn. 64), § 35 Rn. 44 und Gaeta (Fn. 2), S. 975 (991). 83 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 359 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ larischen Immunitäten nur den jeweiligen Empfangsstaat. Dies heißt, dass nur der jeweilige Empfangsstaat aufgrund diplomatischer oder konsularischer Exemtionen gehindert sein kann, dem IStGH eine Strafverfolgungskompetenz zu übertragen, und der IStGH seine Ahndungskompetenz nicht auf eine von diesem Staat (der selbst an einer Verfolgung des konkreten Beschuldigten gehindert ist) an ihn delegierte Strafverfolgungskompetenz stützen kann. Völkerrechtliche Verbrechen können jedoch unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit des Täters von jedem Staat nach dem Weltrechtsprinzip geahndet werden.84 Wenn aber jeder Staat jedes völkerrechtliches Verbrechen strafrechtlich ahnden darf, so haben dann, wenn der Empfangsstaat durch eine diplomatische oder konsularische Immunität an einer Strafverfolgung wegen eines bestimmten völkerrechtlichen Verbrechens gehindert ist, stets noch alle anderen Staaten eine Strafverfolgungskompetenz, die sie an den IStGH delegieren können. Da der IStGH von insgesamt 109 Staaten getragen wird, ist es unschädlich, wenn in einem konkreten Fall ein Staat – der Empfangsstaat der betreffenden Person – aufgrund einer diplomatischen oder konsularischen Immunität an einer nationalen Strafverfolgung gehindert ist. Denn in einem solchen Fall kann der IStGH seine Strafverfolgungskompetenz und die Zulässigkeit einer Ausübung seiner Gerichtsbarkeit immer noch auf die – an ihn delegierte – Strafverfolgungskompetenz aller übrigen Vertragsstaaten stützen.85 Als Ergebnis ist mithin festzustellen, dass die diplomatischen und konsularischen Immunitäten generell einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegenstehen. Dies gilt unabhängig davon, ob die beschuldigte Person Auslandsvertreter eines Mitgliedsstaates des Römischen Statuts oder aber eines Staates ist, der das Statut nicht ratifiziert hat.86 4. Exemtionen für Sonderbotschafter Staaten agieren im völkerrechtlichen Verkehr nicht nur durch ihre Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder sowie ihre ständigen diplomatischen und konsularischen Vertreter, sondern auch durch die kurzzeitige Entsendung sonstiger Funktionsträger in andere Staaten zur Erledigung spezieller Aufgaben. Im Völkerrecht spricht man von „Spezialmissionen“ 84 Vgl. oben Fn. 9. Näher hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 626 ff. Die von Wirth, CLF 12 (2001), 429 (453) vertretene These, diplomatische Immunitäten ratione personae von Diplomaten aus NichtVertragsstaaten des Römischen Statuts seien auch für den IStGH beachtlich und Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut sei insofern einschränkend zu interpretieren, geht nach dem hier Gesagten fehl. Denn auch die diplomatischen Immunitäten ratione personae verpflichten Drittstaaten nicht und hindern daher diese nicht, eine ihnen bei völkerrechtlichen Verbrechen nach dem Weltrechtsprinzip zukommende Strafverfolgungskompetenz auf den IStGH zu übertragen. 86 So auch Alebeek (Fn. 12), S. 275; Gaeta (Fn. 2), S. 990 ff.; Triffterer (Fn. 55), Art. 27 Rn. 11 ff. Generell für eine Irrelevanz diplomatischer Exemtionen für internationale Gerichte Fischer (Fn. 64), § 35 Rn. 44. oder „Sondermissionen“, die Akteure werden vielfach als „Sonderbotschafter“ tituliert.87 Die Frage, inwieweit Staatenvertreter, die zur Erledigung besonderer Aufgaben – etwa für politische Konsultationen – temporär in das Ausland entsandt werden, völkerrechtliche Exemtionen genießen, ist umstritten. Die 1969 von den Vereinten Nationen in enger Anlehnung an das WÜD ausgearbeitete Konvention über Spezialmissionen88 hat nur marginale Bedeutung erlangt; Deutschland hat die Konvention – ebenso wie die meisten anderen Staaten – nicht ratifiziert. Maßgeblich ist deshalb das Völkergewohnheitsrecht. Dessen Stand aber ist, weil es nur in sehr wenigen Fällen zu Streit über den völkerrechtlichen Status von Mitgliedern einer Spezialmission gekommen ist und vielfach zwischen den beteiligten Staaten einzelfallbezogene bilaterale Vereinbarungen getroffen werden, schwer festzustellen. Die in der Literatur vertretenen Auffassungen reichen von der Ablehnung einer völkergewohnheitsrechtlichen Exemtion89 bis hin zur Annahme umfassender Immunität ratione personae90. Zutreffend dürfte, wenn man die Gründe für die geringe Akzeptanz der Konvention über Spezialmissionen und die spärliche Staatenpraxis analysiert,91 eine vermittelnde Auffassung sein: Zum einen genießen nur hochrangige, von der Zentralregierung eines Staates zum Zwecke politischer Konsultationen entsandte „Ad-hoc-Botschafter“ nach Völkergewohnheitsrecht Befreiung von fremder Staatsgewalt, nicht jedoch subalterne Funktionsträger, die zur Klärung technischer oder organisatorischer Einzelfragen in das Ausland entsandt werden. Zum anderen ist die Exemtion hochrangiger „Ad-hoc-Botschafter“ beschränkt auf das zum Zwecke der Aufgabenerledigung unbedingt erforderliche Maß. Dies bedeutet, dass nur eine persönliche Unverletzlichkeit im Sinne einer Befreiung von fremder (strafprozessualer) Zwangsgewalt, nicht jedoch eine Immunität im Sinne eines Verfolgungshindernisses gewährt wird. Hinzu kommt, dass Adressat dieser Unverletzlichkeit allein der jeweilige Empfangsstaat des Sonderbotschafters ist. Die räumliche Reichweite dieser Exemtion entspricht also derjenigen der diplomatischen und konsularischen Immunitäten.92 Allerdings können sich auch Sonderbotschafter – wie alle staatlichen Funktionsträger – auf die allgemeine Staatenimmunität berufen. Aus der auf den jeweiligen Empfangsstaat beschränkten räumlichen Reichweite der Exemtion von Sonderbotschaftern 85 87 Vgl. OLG Düsseldorf EuGRZ 1983, 160 (161); LG Düsseldorf EuGRZ 1983, 159 (159). 88 Convention on Special Missions vom 8.12.1969, Resolution der UN-Generalversammlung 2530 (XXIV), UNTS 1400, 213 = ILM 9 (1970), 127. Ausführlich hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 778 ff. 89 Fischer (Fn. 64), § 36 Rn. 1. 90 Bröhmer, LJIL 12 (1999), 361 (367); Engel, JZ 1983, 627 (628); Doehring (Fn. 16), Rn. 492, 513 f., 673. 91 Siehe diesbezüglich Kreicker (Fn. 5), S. 800 ff. 92 Vgl. zum Exemtionsumfang Kreicker (Fn. 5), S. 820 ff. Wie hier auch Brownlie, Principles of Public International Law, 6. Aufl. 2003, S. 357; Quarch, Immunität der Sondermissionen, 1991, S. 35 f. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 360 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ folgt, dass auch diese völkerrechtliche Straffreistellung für den IStGH generell unbeachtlich ist. Art. 27 Abs. 2 IStGHStatut ist also auch in Bezug auf Sonderbotschafter von Drittstaaten völkerrechtskonform. Insofern kann auf die Ausführungen zur Unbeachtlichkeit diplomatischer und konsularischer Immunitäten für den IStGH (oben IV.3.c) verwiesen werden: Der IStGH kann seine Strafverfolgungskompetenz stets auf eine Delegation durch die Vertragsstaaten des Römischen Statuts stützen, die im konkreten Fall nicht Empfangsstaat des betreffenden Sonderbotschafters sind. V. Immunitäten für Bedienstete internationaler Organisationen 1. Allgemeines zum Immunitätsumfang Immunitäten von strafrechtlicher Verantwortlichkeit genießen – in aller Regel – auch Bedienstete internationaler Organisationen. Völkergewohnheitsrechtliche Normen haben sich insoweit aber (noch) nicht herausgebildet.93 Zudem ist der Versuch der International Law Commission (ILC), organisationsübergreifende völkervertragliche Regeln zu schaffen, ohne Erfolg geblieben.94 Daher bestimmen sich die völkerrechtlichen Immunitäten für Funktionsträger internationaler Organisationen ausschließlich nach den für die jeweilige Organisation geltenden völkerrechtlichen Verträgen. Bei einigen internationalen Organisationen sind Immunitäten bereits im Gründungsvertrag geregelt.95 Überwiegend aber finden sich Bestimmungen zur Immunität der Funktionsträger einer Organisation in einem von den Mitgliedsstaaten geschlossenen gesonderten Vertrag.96 Schon aus dem Regelungsort der Immunitäten folgt, dass die Exemtionen für Bedienstete internationaler Organisationen nur die Strafgewalt der jeweiligen Mitgliedsstaaten beschränken. Für Drittstaaten sind diese Immunitäten unbeachtlich, schließlich haben diese die betreffenden Verträge nicht ratifiziert.97 Auch wenn die Immunitäten für jede internationale Organisation speziell normiert sind, so weisen die Regelungen doch inhaltlich große Übereinstimmung auf. Üblicherweise wird den Bediensteten internationaler Organisationen (lediglich) Immunität ratione materiae, also Immunität in Bezug auf ihre dienstlichen Handlungen für die betreffende Organisation, gewährt. Strafverfolgungen wegen Privathandlungen sind damit nicht untersagt.98 Nur den Leitern internationaler Organisationen und – beschränkt auf den Zeitraum ihres tatsächlichen dienstlichen Tätigwerdens – Richtern internationaler Gerichte kommt üblicherweise eine umfassende, auch private Taten erfassende Immunität ratione personae zu.99 Während die sachliche Reichweite der Immunitäten für Bedienstete internationaler Organisationen damit hinter der für Diplomaten zurückbleibt, ist ihre räumliche Reichweite größer: Die Exemtionen für Bedienstete internationaler Organisationen schränken nicht nur die Strafgerichtsbarkeit des jeweiligen Sitzstaates der Organisation ein, sondern gelten für alle Mitgliedsstaaten in gleicher Weise.100 Denn es muss sichergestellt sein, dass kein Mitgliedsstaat durch eine Strafverfolgung von Funktionsträgern wegen dienstlicher Handlungen für die Organisation unlauteren Einfluss auf die Arbeit der Organisation ausüben kann. Die Immunitäten im Bereich internationaler Organisationen, und zwar auch die üblicherweise gewährten Immunitäten ratione materiae, gelten unabhängig von der Art der einem Bediensteten zur Last gelegten Straftat. Sie erfahren mithin selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme.101 Insofern gilt hier das in Bezug auf die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae Gesagte entsprechend. Die Mitgliedsstaaten einer internationalen Organisation sind also selbst dann an einer nationalen Strafverfolgung gehindert, wenn dem beschuldigten Bediensteten der Organisation eine im Rahmen seiner dienstlichen Tätigkeit begangene Völkerstraftat zur Last gelegt wird. 2. Geltung der Immunität gegenüber dem IStGH Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut erfasst zwar dem Wortlaut nach auch die Immunitäten von Bediensteten internationaler Organisationen, doch stellt sich auch hier die Frage, inwieweit dieser Immunitätsausschluss völkerrechtskonform und damit wirksam ist. Diese Frage kann zunächst einmal für die Immunitäten von Funktionsträgern solcher internationaler Organisationen bejaht werden, deren Mitgliedsstaaten alle zugleich auch Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. Dann wird man annehmen dürfen, dass sich alle Mitgliedsstaaten der Organisation mit ihrer Ratifikation des Römischen Statuts auch mit dem Immunitätsausschluss des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut einverstanden erklärt haben, also gewissermaßen auf die Immunität für die Bediensteten der Organisation, über die sie als Träger der Organisation gemeinsam und einvernehmlich 93 Doehring (Fn. 16), Rn. 208, 686; Hailbronner, JZ 1998, 283 (285). 94 Hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 871 ff. 95 So etwa für die Vereinten Nationen in Art. 105 UN-Charta und für den IStGH in Art. 48 IStGH-Statut. 96 Vgl. für die Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen vom 13.2.1946 (BGBl. 1980 II, S. 943) und für den IStGH das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten des Internationalen Strafgerichtshofs vom 9.9.2002 (BGBl. 2004 II, S. 1139). 97 Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 221. 98 Doehring (Fn. 16), Rn. 208, 688, 690; Kreicker (Fn. 5), S. 906 ff.; Meron, RdC 167 (1980-II), 285 (332). 99 Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, Rn. 1917, 1921. Zur Stellung der Richter internationaler Gerichte vgl. Koster, Immunität internationaler Richter, 2002, S. 128 ff., 151 ff.; Kreicker (Fn. 5), S. 947 ff. 100 IGH, ICJ-Reports 1989, 177 (195, Ziff. 51); Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 222. 101 Kreicker (Fn. 5), S. 911 f. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 361 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ disponieren dürfen, hinsichtlich der Gerichtsbarkeit des IStGH „verzichtet“ haben.102 Diese „Verzichtsargumentation“ greift aber dann nicht, wenn ein oder mehrere Mitgliedsstaaten einer Organisation nicht zugleich Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. Gleichwohl sind auch in einem solchen Fall – von einer noch zu erläuternden Ausnahme abgesehen – die Immunitäten für Bedienstete der internationalen Organisation für den IStGH unbeachtlich. Dies liegt daran, dass diese Immunitäten nur die Mitgliedsstaaten der betreffenden Organisation als Parteien des Vertrages verpflichten, in dem die Exemtionen normiert sind. Wenn man nun davon ausgeht, dass jeder Staat nach dem Weltrechtsprinzip zu einer nationalen Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen berechtigt ist,103 so darf grundsätzlich jeder Drittstaat Funktionsträger einer internationalen Organisation ungeachtet der ihnen zukommenden, aber den Drittstaat nicht bindenden Immunität wegen völkerrechtlicher Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Damit aber kann er diese ihm zukommende Strafverfolgungskompetenz an den IStGH delegieren. In dem Fall, dass nicht alle Mitgliedsstaaten einer internationalen Organisation gleichzeitig auch Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind, können zwar diese selbst aufgrund der sie verpflichtenden völkervertraglichen Immunitäten keine Verfolgungskompetenz an den IStGH delegieren. Der IStGH kann in einem solchen Fall seine Verfolgungskompetenz aber immer noch aus der nationalen Verfolgungskompetenz derjenigen seiner Mitgliedstaaten ableiten, die in Bezug auf die in Frage stehende internationale Organisation Drittstaaten sind. Da mittlerweile 109 Staaten aus allen Regionen der Welt das Römische Statut ratifiziert haben, internationale Organisationen aber regelmäßig einen sehr begrenzten Mitgliederkreis haben, dürfte in fast allen Konstellationen ein Staat „zu finden sein“, der nicht Mitgliedsstaat der Organisation ist, um dessen Funktionsträger es geht, wohl aber Vertragsstaat des Römischen Statuts. Diese Begründung für die Irrelevanz der Immunitäten von Bediensteten internationaler Organisationen für den IStGH und damit für die Völkerrechtskonformität des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut geht allerdings dann ins Leere, wenn eine internationale Organisation über einen so großen Mitgliederkreis verfügt, dass kein Drittstaat mehr „übrig bleibt“, der an die völkervertraglichen Immunitäten für die Funktionsträger dieser Organisation nicht gebunden ist, aber Mitglied des IStGH-Statuts ist und so diesem seine eigene – unbeschränkte – Strafverfolgungskompetenz übertragen kann, gleichwohl aber nicht alle Mitgliedsstaaten der Organisation auch Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. Wenn – umgekehrt gesprochen – alle Staaten, die Vertragsparteien des Römischen Statuts sind, auch Mitglieder der Organisation sind, um deren Funktionsträger es geht, diese aber zudem über Mitglieder verfügt, die das Römische Statut nicht ratifiziert haben, dann kann der IStGH seine Strafkompetenz nur aus der Strafgewalt der Mitgliedsstaaten der Organisation ableiten; diese aber haben aufgrund der für sie bindenden Immunität keine Kompetenz, den Funktionsträger zu verfolgen. Damit 102 103 A.A. aber Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430). Vgl. hierzu oben Fn. 9. darf auch der IStGH keine Strafverfolgung betreiben, sondern ist – ungeachtet des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut – zur Beachtung der Immunität verpflichtet. Eine solche Konstellation besteht hinsichtlich der Vereinten Nationen. Bis auf das Kosovo, die Republik China (Taiwan) und die Vatikanstadt sind alle Staaten der Welt Mitglieder der Vereinten Nationen und damit an die Immunitäten für die Funktionsträger der Vereinten Nationen zumindest über Art. 105 Abs. 2 UN-Charta gebunden. Die drei NichtMitglieder sind jedoch nicht Vertragsstaaten des Römischen Statuts. Diese Konstellation kann anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Die USA haben das IStGH-Statut nicht ratifiziert. Sie sind aber Mitglied der Vereinten Nationen. Als solches haben sie gegenüber allen anderen UN-Staaten einen Anspruch darauf, dass diese die den Funktionsträgern der Vereinten Nationen aufgrund von Art. 105 Abs. 2 UN-Charta zukommenden Immunitäten beachten und keine Strafverfolgung im Widerspruch zu diesen Immunitäten durchführen. Andere Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen können also nicht einfach dadurch, dass sie ohne Mitwirkung zumindest eines „Nicht-UN-Staates“ ein internationales Gericht – den IStGH – gründen und dieses mit Strafverfolgungskompetenzen ausstatten, die sie selber nicht haben, die ihnen (den USA gegenüber) obliegende Pflicht zur Gewährung von Immunitäten umgehen.104 Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut muss deshalb völkerrechtskonform dahingehend eingeschränkt werden, dass dieser Immunitätsausschluss für Funktionsträger der Vereinten Nationen nicht gilt.105 Bedienstete der Vereinten Nationen dürfen mithin, sofern die ihnen vorgeworfene Tat von einer ihnen zukommenden Immunität erfasst wird, nur dann vom IStGH verfolgt werden, wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen zuvor auf die Immunität verzichtet hat. Diese Rechtslage hat auch der Internationale Strafgerichtshof anerkannt und akzeptiert. Denn das Relationship Agreement between the International Criminal Court and the United Nations vom 4.10.2004106 verpflichtet in Art. 19 die Vereinten Nationen, einen Immunitätsverzicht zu erklären, sofern der IStGH einen Funktionsträger der Vereinten Nationen verfolgen will.107 Damit aber wird implizit zugleich die grundsätzliche Geltung der Immunität von Funktionsträgern der Vereinten Nationen auch gegenüber dem IStGH bestätigt. Art. 19 des Agreements lautet: „If the Court seeks to exercise its jurisdiction over a person who is alleged to be criminally responsible for a crime within the jurisdiction of the Court and if, in the circumstances, such person enjoys, according to the Convention on 104 Ebenso Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (870). So auch Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (869 f., 880 ff.). Vgl. ferner Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430); Kreicker (Fn. 5), S. 989 ff. 106 UN-Dokument A/58/874 (Annex). Ausführlich zu den Regelungen über die Immunitäten der Vereinten Nationen im Relationship Agreement Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (868 ff.). 107 Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430); Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (882). 105 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 362 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ the Privileges and Immunities of the United Nations and the relevant rules of international law, any privileges and immunities as are necessary for the independent exercise of his or her work for the United Nations, the United Nations undertakes to cooperate fully with the Court and to take all necessary measures to allow the Court to exercise its jurisdiction, in particular by waiving such privileges and immunities in accordance with the Convention on the Privileges and Immunities of the United Nations and the relevant rules of international law.“ Praktische Relevanz dürfte die hier erörterte Problematik wohl allenfalls für UN-(Blauhelm-)Soldaten erlangen können (vgl. hierzu unten VI.3.). VI. Exemtionen für Soldaten Besondere Beachtung in der wissenschaftlichen Diskussion hat – wegen ihrer hohen potentiellen Relevanz für den IStGH – die Frage erlangt, inwieweit Soldaten völkerrechtliche Exemtionen von der Gerichtsbarkeit des IStGH genießen. Ihr soll an dieser Stelle gesondert nachgegangen werden, und zwar auch deshalb, weil bei Soldaten danach zu differenzieren ist, ob es sich um Militärangehörige ohne Anbindung an die Vereinten Nationen (1.), um Mitglieder von nationalen Streitkräften, die durch eine UN-Sicherheitsratsresolution mandatiert worden sind (2.), oder um Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen (3.) handelt. 1. Soldaten ohne Anbindung an die Vereinten Nationen Soldaten genießen keinerlei völkerrechtliche Immunität allein aufgrund des Umstandes, dass sie Soldaten sind.108 Eine irgendwie geartete völkergewohnheitsrechtliche Immunität speziell für Militärangehörige gibt es nicht; anders als dies früher vereinzelt angenommen wurde,109 existiert auch keine gewohnheitsrechtliche Regel des Inhalts, dass Soldaten, die mit Einverständnis eines anderen Staates in diesem stationiert sind oder sich dort sonst dienstlich aufhalten, Immunität von dessen Strafgerichtsbarkeit zukommt. Soldaten können sich allerdings – wie alle anderen staatlichen Funktionsträger – auf die allgemeine Staatenimmunität berufen.110 Diese erfährt jedoch – wie ausgeführt – bei völkerrechtlichen Verbrechen eine Ausnahme und ist deshalb für den IStGH, dessen Zuständigkeit auf Völkerstraftaten beschränkt ist, irrelevant. Im Rahmen ihrer militärischen Kooperation haben viele Staaten völkerrechtliche Verträge ratifiziert, die eine (begrenzte) Immunität von Militärangehörigen eines Vertrags108 BGH NStZ 2004, 402 (402); OLG Nürnberg NJW 1975, 2151 (2152); Beling, Strafrechtliche Bedeutung der Exterritorialität, 1896, S. 135 ff.; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 20 Rn. 13; Sennekamp, NJW 1983, 2731 (2732); Witzsch, Strafgerichtsbarkeit über die Mitglieder der U.S.-Streitkräfte, 1970, S. 12. Vgl. auch Kreicker (Fn. 5), S. 1031 ff. m.w.N. 109 RGSt 52, 167 (168). Siehe auch Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 481. 110 So auch Sennekamp, NJW 1983, 2731 (2732); Wirth, CLF 12 (2001), 429 (450, 458). staates (des sogenannten „Entsendestaates“) von der Strafgerichtsbarkeit eines anderen Vertragsstaates (des sogenannten „Aufnahmestaates“) vorsehen, in dessen Hoheitsgebiet sich die Soldaten mit dessen Einverständnis dienstlich aufhalten, etwa im Rahmen gemeinsamer Übungen oder als Stationierungsstreitkräfte („Status of Forces Agreements“ – SOFA’s). So legt Art. VII Abs. 1 lit. b des NATO-Truppenstatuts111 fest, dass der Aufnahmestaat lediglich solche Straftaten der dienstlich in seinem Hoheitsgebiet befindlichen Soldaten eines anderen NATO-Staates verfolgen darf, die auf seinem Staatsgebiet begangen wurden. Umgekehrt gesprochen ergibt sich aus Art. VII Abs. 1 lit. b NATO-Truppenstatut eine umfassende Immunität für Auslandstaten.112 Diese erfährt auch bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme.113 Das bedeutet beispielsweise, dass Deutschland USamerikanische Soldaten, die im Ausland Kriegsverbrechen begangen haben, nicht nach dem VStGB zur Verantwortung ziehen darf, sofern und solange sie sich dienstlich, also in ihrer Funktion als Mitglieder der US-Truppen, in Deutschland aufhalten. Hinsichtlich Inlandstaten, also im Gebiet des jeweiligen Aufnahmestaates begangener Taten, normiert Art. VII Abs. 3 NATO-Truppenstatut keine echte Immunität, sondern legt fest, dass der Aufnahmestaat in Bezug auf Straftaten im Rahmen von Diensthandlungen sowie Straftaten, die gegen das Vermögen des Entsendestaates oder gegen die Person oder das Vermögen eines anderen Truppenmitglieds des Entsendestaates („inter-se-Taten“) gerichtet waren, nur nachrangig Strafgerichtsbarkeit ausüben darf, und zwar nur dann, wenn der Entsendestaat von der ihm erteilten Befugnis, innerhalb des Hoheitsgebiets des Aufnahmestaates strafverfolgend tätig zu werden, keinen Gebrauch macht. Hinsichtlich sonstiger Straftaten, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates verübt wurden, steht dagegen dem Aufnahmestaat das Vorrecht auf Ausübung von Strafgerichtsbarkeit zu.114 Doch auch solche völkervertraglichen Exemtionen von Soldaten auf der Basis von SOFA’s sind für den IStGH irrelevant. Soweit der Staat, zu dessen Streitkräften der betreffende Soldat gehört, Vertragsstaat des Römischen Statuts ist, ergibt sich dies bereits aus dem oben unter II. dargelegten Pauschalverzicht der Vertragsstaaten auf Immunitäten ihrer Funktionsträger, der implizit mit der Ratifikation des Römischen Statuts erklärt wurde. Hinsichtlich der NichtVertragsstaaten des IStGH-Statuts folgt die Irrelevanz völkervertraglicher Immunitäten von Soldaten für den IStGH aus dem Umstand, dass diese Immunitäten lediglich den jeweiligen Aufnahmestaat verpflichten, nicht jedoch alle anderen Staaten. Alle anderen Staaten konnten damit, soweit sie Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind, ihre – nicht durch Immunität eingeschränkte und wegen der Geltung des Universalitätsprinzips bei Völkerstraftaten auch räumlich unbe111 BGBl. 1961 II, S. 1190. Birke, Strafverfolgung nach dem NATO-Truppenstatut, 2004, S. 84; Kreicker (Fn. 5), S. 1076 ff. 113 Dies zeigt Art. 98 Abs. 2 IStGH-Statut. 114 Vgl. im Einzelnen Ambos (Fn. 18), vor § 3 Rn. 118; Kissel/Mayer (Fn. 108), § 20 Rn. 28 f.; Kreicker (Fn. 5), S. 1080 ff. m.w.N. 112 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 363 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ grenzte – (materielle und formelle) Strafgewalt an den IStGH delegieren. Insofern gilt das Gleiche wie bei den diplomatischen und konsularischen Immunitäten, die – wie oben unter IV.3.c) dargelegt – für den IStGH ebenfalls selbst dann unbeachtlich sind, wenn es um Funktionsträger von Drittstaaten geht. Soldaten, die weder mit einem Mandat der Vereinten Nationen tätig sind noch Streitkräften der Vereinten Nationen angehören, kommt also gegenüber dem IStGH keine Immunität zu, und zwar auch dann nicht, wenn sie Mitglieder der Truppe eines Nicht-Vertragsstaates des IStGH-Statuts sind. In Bezug auf solche Soldaten ist der Immunitätsausschluss des Art. 27 IStGH-Statut mithin völkerrechtskonform und rechtswirksam. 2. Mitglieder von nationalen Streitkräften mit Mandat der Vereinten Nationen Art. 41 UN-Charta sieht vor, dass der UN-Sicherheitsrat auf bewaffnete Konflikte dadurch reagieren kann, dass er einzelne Staaten oder Staatengruppen ermächtigt, mit ihren Streitkräften militärisch einzugreifen. Ein militärisches Vorgehen mit einem solchen Mandat des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta ist eine völkerrechtlich legalisierte Gewaltanwendung durch die ermächtigten Staaten; die eingesetzten Streitkräfte werden dabei nicht als UN-Truppen, sondern als nationales Militär tätig. Dies bedeutet, dass die Rechtsstellung der einzelnen Soldaten bei Einsätzen mit einem Mandat des UN-Sicherheitsrates grundsätzlich dieselbe ist wie bei einem Tätigwerden ohne Anbindung an die Vereinten Nationen.115 Gegenüber dem IStGH können sich Soldaten deshalb grundsätzlich auch dann nicht auf eine Immunität berufen, wenn es um Taten geht, die sie als Angehörige der Streitkräfte eines Staates verübt haben, der auf der Basis einer Sicherheitsratsresolution nach Art. 41 UN-Charta militärisch tätig geworden ist.116 Allerdings hat der UN-Sicherheitsrat in jüngerer Vergangenheit wiederholt in Resolutionen nach Kapitel VII UNCharta unmittelbar Immunitäten festgelegt, indem er anordnete, dass Soldaten, die Mitglieder von den Vereinten Nationen autorisierter Streitkräfte bzw. von UN-Streitkräften sind, in Bezug auf Taten, die in einem Zusammenhang mit dem Militäreinsatz stehen, ausschließlich der Gerichtsbarkeit ihres 115 Kreicker (Fn. 5), S. 1132 f. Teilweise – so etwa in Afghanistan – erfolgt ein von den Vereinten Nationen mandatierter Einsatz nationaler Streitkräfte mit Einverständnis des betroffenen Staates. Dann besteht die Möglichkeit, in einem Vertrag zwischen den Staaten, die Truppen stellen, und dem Aufenthaltsstaat den Status und auch Immunitäten der einzelnen Soldaten zu regeln. So wurde für die ISAF-Truppen in Afghanistan am 4.1.2002 ein Military Technical Agreement geschlossen (abgedruckt in ILM 42 [2002], 1032), das vollständige Immunität der Soldaten von der afghanischen Strafgerichtsbarkeit vorsieht; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 1134 ff. Diese Immunität ist aber für den IStGH unbeachtlich, da sie nur den Aufenthaltsstaat verpflichtet. 116 Kreicker (Fn. 5), S. 1144 f. jeweiligen Entsendestaates unterworfen sind.117 Dies geschah auf Drängen namentlich der USA, die sicherstellen wollten, dass ihre Soldaten nicht vom IStGH oder von anderen Staaten wegen Taten im Zusammenhang mit ihrem Einsatz zur Rechenschaft gezogen werden können.118 Eine solche – völkerrechtspolitisch verfehlte119 – Immunitätsregelung ist für alle UN-Staaten über Art. 25 UN-Charta verbindlich. Damit aber schränkt sie auch die Gerichtsbarkeit des IStGH ein, da sämtliche Vertragsstaaten des Römischen Statuts auch Mitglieder der Vereinten Nationen sind, damit gemäß Art. 25 UN-Charta an die Immunitätsregelung gebunden sind und deshalb keine Kompetenz haben, eine weitergehende, also von der Immunität unbeschränkte Strafverfolgungszuständigkeit an den IStGH zu delegieren. Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut ist also insofern unanwendbar, als eine Immunität unmittelbar in einer Resolution des UN-Sicherheitsrates auf der Basis von Kapitel VII UNCharta verankert ist. Dieser Feststellung steht auch Art. 16 IStGH-Statut nicht entgegen. Zwar kann der UNSicherheitsrat danach eine Strafverfolgung durch den IStGH „lediglich“ für maximal ein Jahr untersagen.120 Doch vermag eine Regelung im IStGH-Statut – einem „einfachen“ völkerrechtlichen Vertrag – nicht die (weitergehende) Kompetenz des UN-Sicherheitsrates nach der vorrangigen UN-Charta zu beschränken.121 3. Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen verfügen bekanntlich über keine eigenen ständigen Streitkräfte, da Abkommen im Sinne des Art. 43 UN-Charta nie zustande gekommen sind. Allerdings hat schon bald nach Gründung der Vereinten Nationen eine so in der UN-Charta nicht vorgesehene Art des Militäreinsatzes im Rahmen der Vereinten Nationen internationale Anerkennung erfahren, und zwar der Einsatz von „UNPeacekeeping-Forces“ („UN-Friedenstruppen“, „Blauhelmtruppen“). Dabei handelt es sich um militärische Einheiten, die sich aus Kontingenten einzelner Staaten zusammensetzen, 117 Vgl. Resolution 1497 (2003) vom 1.8.2003 (Liberia); Resolution 1593 (2005) vom 31.3.2005 (Sudan/Darfur). Siehe hierzu auch Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (594 ff.); Kreicker (Fn. 5), S. 1137 ff., 1145 f.; Zappalà, JICJ 1 (2003), 671 (672 ff.). 118 Diese Stoßrichtung zeigt sich daran, dass die Resolutionen die Immunität explizit auf Soldaten von Staaten beschränken, die keine Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. 119 Zu Recht kritisch Zappalà, JICJ 1 (2003), 671 (672 ff.). 120 Vgl. zu Art. 16 IStGH-Statut und der zu dieser Norm ergangenen Resolution 1422 (2002) des UN-Sicherheitsrats vom 12.7.2002 (abgedruckt in EuGRZ 2002, 664) Herbst, EuGRZ 2002, 581 ff.; Kreicker (Fn. 5), S. 1151 ff. m.w.N. in Fn. 460; Kreß, BdiP 2002, 1087 ff. 121 Zutreffend weist Lavalle, CLF 14 (2003), 195 (205) darauf hin, dass der IStGH an alle ihn betreffenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta gebunden ist, unabhängig davon, ob diese mit dem Römischen Statut, namentlich mit dessen Art. 16, vereinbar sind oder nicht. Siehe hierzu auch Kreicker (Fn. 5), S. 1155 ff. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 364 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ aber unter der (militärischen) Führung der Vereinten Nationen stehen. Auch wenn die einzelnen Soldaten weiterhin Angehörige der Streitkräfte ihres Staates bleiben, so sind sie doch einer einheitlichen, letztlich auf den UN-Sicherheitsrat zurückzuführenden Befehlsgewalt der Vereinten Nationen unterworfen. Sie sind daher funktional Organe der Vereinten Nationen, was auch an ihrer besonderen Kennzeichnung durch blaue Helme und durch die Verwendung der UNSymbole deutlich wird.122 In der Regel werden solche UN-Friedenstruppen mit Einverständnis der Konfliktparteien und betroffenen Staaten eingesetzt. In diesen Fällen werden typischerweise von den Vereinten Nationen mit dem Staat oder den Staaten, in dem bzw. denen die Blauhelmsoldaten tätig werden, Verträge geschlossen, die Einzelheiten des Truppeneinsatzes regeln. Diese Statusabkommen mit dem Aufenthaltsstaat sehen vor, dass den einzelnen Blauhelmsoldaten vollständige Immunität ratione personae von der örtlichen Strafgerichtsbarkeit zukommt.123 Da solche Verträge allein den jeweiligen Aufenthaltsstaat zur Immunitätsgewährung verpflichten, sind sie jedoch für den IStGH ohne Relevanz. Insofern gilt das Gleiche wie für die Immunitäten, die in SOFA’s wie dem NATOTruppenstatut normiert sind. Da UN-Friedenstruppen funktional Organe der Vereinten Nationen sind, genießen Blauhelmsoldaten allerdings unabhängig von vertraglichen Vereinbarungen mit dem Aufenthaltsstaat (auch) Immunitäten als Funktionsträger der Vereinten Nationen. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn – etwa bei einem Einsatz im Gebiet eines „failed state“ – der Abschluss eines Vertrages mit dem betroffenen Staat nicht möglich ist. Für UN-Blauhelmsoldaten ist das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen vom 13.2.1946124 einschlägig; sie werden als Experts on Mission im Sinne des Art. VI des Übereinkommens klassifiziert und genießen deshalb Immunität ratione materiae für sämtliche Handlungen in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit.125 Diese Immunität, die auch bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme erfährt, beschränkt nicht nur die Strafgewalt des jeweiligen Aufenthaltsstaates, sondern die aller UN-Staaten. Damit aber ist sie – wie bereits oben unter V.2. dargelegt – auch für den IStGH bindend. Wie schon ausgeführt, muss Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut völkerrechtskonform dahingehend eingeschränkt werden, dass dieser Immunitätsausschluss für Funktionsträger der Vereinten Nationen nicht gilt; diese dürfen vom IStGH – wie sich auch aus Art. 19 des Relationship Agreement between the International Criminal Court and the United Nations vom 4.10.2004 ergibt126 – nur nach einem vorherigen Immunitätsverzicht durch den UN-Generalsekretär wegen völkerrechtlicher Verbrechen verfolgt werden. Mithin dürfen auch Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen (UNBlauhelmsoldaten) für völkerrechtliche Verbrechen (etwa Kriegsverbrechen), die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als UNSoldaten verübt haben, vom IStGH nur bei Vorliegen eines Immunitätsverzichts durch den UN-Generalsekretär verfolgt werden.127 VII. Relevanz von Exemtionen bei Rechtshilfemaßnahmen Da der IStGH über keine eigenen Vollzugsorgane verfügt, ist er – etwa bei der Vollstreckung eines Haftbefehls – auf eine Unterstützung durch die Staaten angewiesen. Ohne eine Kooperation der Staaten liefe die Gerichtsbarkeit des IStGH faktisch leer. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit die einzelnen Staaten durch die für sie (im Falle einer nationalen Strafverfolgung) selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen relevanten Immunitäten – etwa durch die Immunität für amtierende Staatsoberhäupter oder die Immunität von Diplomaten – an einer Zusammenarbeit mit dem IStGH gehindert sind. Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut ist insofern nicht einschlägig; diese Norm betrifft allein die Ausübung von Strafgerichtsbarkeit durch den IStGH. Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten sind jedoch, auch wenn sie für den IStGH ergriffen werden, keine Maßnahmen in Ausübung von Strafgerichtsbarkeit des IStGH, sondern völkerrechtlich als nationale Hoheitsakte des betreffenden Staates einzustufen. Grundsätzlich gilt, dass völkerrechtliche Immunitäten, die einen Staat an einer eigenen nationalen Strafverfolgung hindern, diesem Staat auch untersagen, Rechtshilfemaßnahmen für eine Strafverfolgung durch dritte Staaten oder internationale Gerichte zu ergreifen.128 Denn dem Zweck der Immunitäten laufen Rechtshilfemaßnahmen – etwa eine Überstellung an einen anderen Staat zum Zwecke der dortigen Strafverfolgung – ebenso zuwider wie Strafverfolgungen durch Gerichte des betreffenden Staates. Insofern ist als Grundsatz festzuhalten, dass Immunitäten den Staaten in dem Umfang, in dem sie einer nationalen Strafverfolgung entgegenstehen, auch untersagen, Rechtshilfemaßnahmen für den IStGH zu ergreifen.129 126 122 Vgl. Bothe/Dörschel, in: Fleck (Hrsg.), Handbook of the Law of Visiting Forces, 2001, S. 490, 496; Hermsdörfer, NZWehrr 1997, 100 (104 f.); Schotten, HuV-I 1997, 222 (224 f.). 123 Bothe/Dörschel (Fn. 122), S. 492 ff. Der UN-Generalsekretär hat 1990 ein entsprechendes Musterabkommen vorgelegt (UN-Dokument A/45/594). Vgl. hierzu Hermsdörfer, NZWehrr 1997, 100 (107 f.); Schotten, HuV-I 1997, 222 (226). 124 Vgl. oben Fn. 96. 125 Gerster/Rotenberg, in: Simma (Hrsg.), Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 105 Rn. 29 f.; Hermsdörfer, NZWehrr 1997, 100 (105 f.); Kreicker (Fn. 5), S. 1127 ff.; Schotten, HuV-I 1997, 222 (226 f.). Vgl. oben Fn. 106 mit dazugehörigem Text. So auch Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (880 f.). A.A., jedoch ohne substantielle Begründung, Stahn, EJIL 14 (2003), 85 (94 f.). 128 Kissel/Mayer (Fn. 108), § 21 Rn. 15. 129 Akande, JICJ 1 (2003), 618 (642); Ambos (Fn. 6), § 8 Rn. 66; Kreicker (Fn. 5), S. 1374 ff., insbesondere S. 1386 ff. A.A. Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 14, 23 mit dem Argument, die für den IStGH geltenden Immunitätsausnahmen – etwa von der Immunität der Staatsoberhäupter – gälten auch, soweit es um Unterstützungsmaßnahmen einzelner Staaten für den IStGH gehe. Rückhalt in der Völkerrechtspraxis oder im IStGH-Statut findet diese These jedoch – bislang – nicht. 127 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 365 Helmut Kreicker _____________________________________________________________________________________ Diese Rechtslage wird auch vom IStGH-Statut anerkannt. Ihr trägt Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut Rechnung, der lautet: „Der Gerichtshof darf kein Überstellungs- oder Rechtshilfeersuchen stellen, das vom ersuchten Staat verlangen würde, in Bezug auf die Staatenimmunität oder die diplomatische Immunität einer Person oder des Eigentums eines Drittstaats entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln, sofern der Gerichtshof nicht zuvor die Zusammenarbeit des Drittstaats im Hinblick auf den Verzicht auf Immunität erreichen kann.“ Diese – unglücklich formulierte – Norm akzeptiert die Verpflichtung der Staaten, keine Rechtshilfemaßnahmen für den IStGH zu ergreifen, sofern die betreffende Person gegenüber der nationalen Gerichtsbarkeit völkerrechtliche Immunität genießt. Dem IStGH wird aufgegeben, ein Rechtshilfeersuchen, dem eine Immunität entgegensteht, nur dann zu stellen, wenn zuvor – vom IStGH – ein Immunitätsverzicht des immunitätsberechtigten Staates herbeigeführt werden konnte.130 Die Vorschrift gilt ungeachtet ihres Wortlauts für sämtliche völkerrechtlichen Immunitäten.131 Obwohl völkerrechtliche Immunitäten mit Ausnahme der Immunitäten für Funktionsträger der Vereinten Nationen für den IStGH selbst irrelevant sind, vermögen sie mithin unter Umständen faktisch eine Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen durch den IStGH zu verhindern, weil sie einzelnen Staaten erforderliche Unterstützungsmaßnahmen untersagen. Allerdings ist Folgendes zu bedenken: Sofern der UNSicherheitsrat durch eine Resolution auf der Basis von Kapitel VII UN-Charta i.V.m. Art. 13 lit. b IStGH-Statut ein Strafverfahren vor dem IStGH initiiert – wie dies mit der bereits erwähnten Resolution 1593 (2005) hinsichtlich des Geschehens im sudanesischen Darfur und damit im Fall des sudanesischen Staatspräsidenten al Bashir geschehen ist –, wird damit vom UN-Sicherheitsrat zumindest implizit zum Ausdruck gebracht, dass eine Strafverfolgung stattfinden und nicht durch völkerrechtliche Immunitäten gehindert sein soll. Dies bedeutet, dass eine derartige Sicherheitsratsresolution nicht nur – wie oben unter III. dargelegt – aufgrund ihrer Bindungskraft nach Art. 25 UN-Charta mit Rechtswirkung für den immunitätsberechtigten Staat sämtliche völkerrechtlichen Immunitäten insofern implizit für unwirksam erklärt, als 130 Akande, JICJ 1 (2003), 618 (640 f.); Ambos (Fn. 6), § 8 Rn. 66; Gaeta (Fn. 2), S. 992 ff.; Meißner (Fn. 6), S. 120 ff. Bedeutsam ist, dass die Entscheidungskompetenz darüber, ob im Einzelfall eine völkerrechtliche Immunität der Erledigung eines Rechtshilfeersuchens entgegensteht, dem IStGH, nicht aber dem ersuchten Staat zukommt; vgl. Kreß, in: Grützner/Pötz/ders., Internationaler Rechtshilfeverkehr, 56. Lfg. 2002, Vor III 26, Rn. 242; Meißner, HuV-I 2002, 35 (35 ff.). Ein vom IStGH um Rechtshilfe – etwa um Vollstreckung eines Haftbefehls – ersuchter Staat darf mithin, ungeachtet seiner etwaigen völkerrechtlichen Verantwortlichkeit dem immunitätsberechtigten Staat gegenüber, ein Ersuchen des IStGH nicht unter Hinweis auf eine (vermeintliche) Immunität zurückweisen. Dem trägt für Deutschland § 21 GVG Rechnung. 131 Ambos (Fn. 6), § 8 Rn. 66. es um die Strafgerichtsbarkeit des IStGH selbst geht, sondern auch insofern, als es Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten – auch Nicht-Vertragsstaaten – für den IStGH betrifft.132 Bei einer Verfahrensinitiierung durch den UN-Sicherheitsrat nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut stehen mithin Immunitäten etwaigen Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten nicht entgegen.133 Aus diesem Grunde durfte der IStGH im Fall al Bashir die Staaten ohne Rücksicht auf die einer nationalen Strafverfolgung entgegenstehende Immunität al Bashirs als Staatsoberhaupt ersuchen, diesen zu verhaften und an den Gerichtshof zu überstellen;134 die Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind verpflichtet, dem Ersuchen des IStGH um Vollstreckung des Haftbefehls vom 4.3.2009 nachzukommen. Zudem stellt sich die Frage, ob eventuell die Immunitäten, die von den Staaten zu Gunsten von Vertragsstaaten des Römischen Statuts zu gewähren sind, Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten für den IStGH keine Schranke setzen, und zwar deshalb nicht, weil die Vertragsstaaten durch Ratifizierung des Römischen Statuts nicht nur gegenüber dem IStGH auf ihnen zustehende Immunitäten verzichtet haben (vgl. hierzu oben II.), sondern auch in Bezug auf Rechtshilfemaßnahmen anderer Staaten für den IStGH. Ein solcher Verzicht wäre ohne weiteres möglich und statthaft, müsste sich aber zumindest mittelbar aus dem Römischen Statut ergeben. 132 Dies gilt in Bezug auf die Darfur-Resolution 1593 (2005) und den Haftbefehl gegen al Bashir ungeachtet des Umstandes, dass die Darfur-Resolution des UN-Sicherheitsrats „lediglich“ den Sudan zu einer Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet, an die anderen Staaten dagegen nur appelliert, mit dem IStGH, etwa durch eine Verhaftung al Bashirs, zu kooperieren (vgl. unten Fn. 134), und zwar deshalb, weil die Resolution gerade den Sudan in die Pflicht nimmt und es im Fall al Bashir um eine dem Sudan zustehende Immunität geht. A.A. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (140 f.). 133 Gaeta (Fn. 2), S. 989; Kreicker, HuV-I 2008, 157 (163); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 24. Vgl. auch Alebeek (Fn. 12), S. 280. A.A. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (140 f.). Eine Ausnahme von der hier vertretenen Wirkkraft von UN-Sicherheitsratsresolutionen, die aber praktisch kaum relevant werden dürfte, besteht in Bezug auf Immunitäten, die zu Gunsten von Staaten zu gewähren sind, die nicht Mitglieder der Vereinten Nationen sind. 134 Vgl. Request to all States Parties to the Rome Statute for Arrest and Surrender of Omar al Bashir vom 6.3.2009, ICC02/05-01/09-7. Weitere Verhaftungs- und Überstellungsersuchen ergingen an den Sudan selbst (ICC-02/05-01/09-5) und an die UN-Staaten, die nicht Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind (ICC-02/05-01/09-8). Letztere sind allerdings nicht verpflichtet, dem Ersuchen nachzukommen, da sie nicht an das Römische Statut gebunden sind und die Sicherheitsratsresolution 1593 (2005) lediglich den Sudan zu einer Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet, die anderen Staaten hingegen nur – unverbindlich – hierzu auffordert; vgl. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (140); Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (592 f.). _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 366 Immunität und IStGH _____________________________________________________________________________________ Anders als zum Teil in der Literatur argumentiert wurde,135 lässt sich ein solcher Verzicht aber nicht damit begründen, Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut erkläre lediglich die Immunitäten von „Drittstaaten“ für beachtlich. Denn als Drittstaat wird in Teil 9 des Statuts jeder Staat bezeichnet, der im konkreten Fall nicht Adressat eines Rechtshilfeersuchens des IStGH ist.136 Weiter wird in der Literatur argumentiert, der hier diskutierte Verzicht der Vertragsstaaten auf ihnen zukommende Immunitäten ergebe sich aus Art. 27 Abs. 2 IStGHStatut.137 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut – wie schon betont – seinem klaren Wortlaut nach nur die Gerichtsbarkeit des IStGH selbst betrifft. Auch wenn dies kriminalpolitisch äußerst unbefriedigend ist, so muss doch konstatiert werden, dass dem Römischen Statut ein Immunitätsverzicht der Vertragsstaaten hinsichtlich Rechtshilfemaßnahmen anderer Staaten nicht entnommen werden kann.138 Von den Staaten bei völkerrechtlichen Verbrechen zu beachtende Immunitäten stehen mithin Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten auch dann entgegen, wenn es um die Immunität von Funktionsträgern von Vertragsstaaten des Römischen Statuts geht. Es wäre wünschenswert, wenn im Rahmen einer zukünftigen Revision des Statuts dessen Art. 98 nicht nur sprachlich neu gefasst, sondern auch inhaltlich durch Festschreibung eines Immunitätsverzichts in Bezug auf Rechtshilfemaßnahmen novelliert würde. VIII. Fazit Lediglich die Exemtionen für Funktionsträger der Vereinten Nationen, namentlich für UN-Blauhelmsoldaten, und solche Immunitäten, die explizit in Resolutionen des UNSicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta festgelegt sind, vermögen die Gerichtsbarkeit des IStGH zu beschränken; insofern ist der Immunitätsausschluss des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut unwirksam. Alle anderen völkerrechtlichen Immunitäten dagegen stehen einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegen. Dies gilt selbst für die Exemtionen, die – wie etwa die diplomatischen und konsularischen Exemtionen und die Immunität für amtierende Staatsoberhäupter – in Bezug auf nationale Strafverfahren auch bei völkerrechtlichen Verbrechen ein Strafverfolgungshindernis darstellen. Allerdings können solche Immunitäten insofern für den IStGH mittelbar von Relevanz sein, als sie unter Umständen einzelnen Staaten untersagen, Rechtshilfemaßnahmen für den Gerichtshof zu ergreifen, etwa einen Beschuldigten an den IStGH zu überstellen. 135 Siehe hierzu Gaeta (Fn. 2), S. 993 f.; Paulus, EJIL 14 (2003), 843 (857); Vierucci, JICJ 2 (2004), 275 (281). 136 Wie hier Kreß (Fn. 130), Vor III 26, Rn. 241; Meißner (Fn. 6), S. 123. 137 Akande, AJIL 98 (2004), 407 (422 ff., 432 f.); Ambos (Fn. 6), § 8 Rn. 66; Cryer et al. (Fn. 20), S. 440 f.; Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 13 f.; Meißner (Fn. 6), S. 123 f., 213; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (452, 456). 138 Kreicker (Fn. 5), S. 1391 ff. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 367 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas Una crítica a la utilización excesiva del derecho penal en procesos de transición: no peace without justice o bien no peace with justice De Prof. Dr. Ezequiel Malarino, Buenos Aires, Argentina This paper presents briefly the two main topics in which Latin American practice has particularly enriched the discussions on transitional justice. On the one hand, the author refers to the right to truth and to the institutional mechanisms implemented by national or international instances to exercise this right. On the other hand, he examines the tension between justice and peace; a tension always existing in the transitional justice processes. The author criticizes the prohibition of an amnesty for serious crimes established by the Interamerican Court for Human Rights in the Barrios Altos case and followed by many tribunals in Latin-American countries. He makes the case for the use, in certain and clearly defined cases, of an amnesty to obtain or maintain the peace. He considers the interest of obtaining and maintaining the peace more important than an interest to punish the crimes, as a peace situation constitutes the indispensable condition to develop any elementary form of social coexistence, being at the same time an essential element to the very rule of law. El trabajo presenta, esquemáticamente, los dos aspectos en los cuales la experiencia latinoamericana ha particularmente enriquecido las discusiones sobre justicia de transición. El autor se refiere, por un lado, al derecho a la verdad y a los mecanismos institucionales para ejercerlo y, por el otro, a la cuestión del rol del derecho penal como herramienta de superación del pasado, esto es, a la cuestión de la tensión, siempre presente en los procesos de transición, entre justicia y paz. Especialmente sobre esta última cuestión el autor efectúa algunas consideraciones más profundas. El autor critica la doctrina de los límites absolutos a la facultad de amnistiar con base en la gravedad de los crímenes establecida por la CorteIDH en el caso Barrios Altos y seguida por varios tribunales de países latinoamericanos y rescata la función que, en ciertas ocasiones, puede cumplir una amnistía conciliadora para obtener o mantener la paz, bien que considera superior a la punición de los crímenes en cuanto constituye la condición indispensable para el desarrollo de cualquier forma elemental de convivencia social y por ello también para la existencia misma de un Estado de derecho. protección de ciertos valores occidentales y cristianos fueron los motivos usualmente alegados por las autoridades estatales -generalmente, aunque no exclusivamente, dictaduras militares- para justificar su participación en tales episodios. Guiados ideológicamente por la doctrina de la seguridad nacional, varios Estados de América Latina dieron inicio así a una lucha contra la subversión que degeneró en cruentas y sistemáticas violaciones de los derechos humanos: detenciones arbitrarias, torturas, asesinatos extrajudiciales, desaparición de personas fueron moneda corriente del actuar estatal y signos evidentes de una política de lucha frontal contra el opositor político. Fue especialmente dicha criminalidad de estado la que marcó el pasado reciente de gran parte de los países de la región. Luego de la terminación del conflicto (restablecimiento de la democracia, finalización de la guerra) o, a veces, ya en medio de la situación de conflicto los estados de América Latina han puesto en práctica diversos mecanismos o políticas para superar, elaborar o hacer frente a los complejos escenarios de violaciones sistemáticas a los derechos humanos que habían vivido; muchos de esos mecanismos continúan hoy siendo aplicados. Diferentes estudios sobre la justicia de transición en América Latina confirman una observación ya clásica: más allá de ciertas coincidencias, cada experiencia de transición es diferente de las demás.1 Ello se debe a que diversos factores, tales como la magnitud y naturaleza del conflicto, la conformación social y cultural de la sociedad y especialmente la relación de fuerzas entre facciones políticas, sociales y/o militares antagonistas existente en un momento dado, condicionan la elección de los mecanismos concretos de un proceso de transición. De estos factores dependerá qué medidas podrá poner en práctica un Estado, qué características concretas podrán tener tales medidas y en qué momento podrán ser adoptadas. Si el régimen o los sectores sociales o políticos que han estado involucrados en las violaciones de los derechos humanos conservan una amplia cuota del poder político o militar, entonces la elaboración del conflicto a través del derecho penal será problemática o incluso imposible; en estos casos, el precio de la paz será a 1 I. En las últimas décadas del siglo pasado, la mayoría de los países latinoamericanos han sido el escenario de sangrientos enfrentamientos entre diversos sectores políticos y sociales; en algunos casos, Colombia es el ejemplo, esta situación de conflicto perdura hasta nuestros días. Los conflictos tuvieron como protagonistas tanto a grupos al margen de la ley (agrupaciones guerrilleras de diverso tipo, escuadrones de la muerte, grupos de auto-defensa o paramilitares), como al mismo Estado. El mantenimiento del orden, la defensa de la seguridad nacional y, a veces, la Cfr. los diferentes trabajos contenidos en Kai Ambos/Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (editores), “Justicia de transición. Con informes de América Latina, Alemania, Italia y España”, Fundación Konrad Adenauer, Montevideo, 2009 y también Kai Ambos, El marco jurídico de la transición, traducción de Ezequiel Malarino, Temis, Bogotá, 2008, p. 22 y la bibliografía allí citada (en nota 46); vers. actualizada inglesa en K. Ambos/J. Large/M. Wierda (eds.), Building a Future on Peace and Justice. Studies on Transitional Justice, Peace and Development. The Nuremberg Declaration on Peace and Justice, Springer, Berlin 2009, pp. 19 ss. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 368 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas _____________________________________________________________________________________ menudo la renuncia a la persecución penal. Si, en cambio, los sectores o grupos que han producido las violaciones a los derechos humanos han perdido completamente toda cuota de poder, entonces quien diseñe la política de transición (generalmente, el nuevo gobierno) tendrá un margen mucho mayor para elegir qué medidas pondrá en práctica para afrontar el pasado, incluyendo naturalmente la persecución penal de los autores de delitos.2 Esta sujeción de la política de transición a la realidad política concreta – también al contexto social y cultural – no sólo hace que el repertorio de las medidas utilizadas y la configuración concreta de ellas varíe en cada experiencia de transición y también en cada momento o etapa que atraviesa un proceso de transición, sino que dificulta también la obtención de conclusiones generales confiables sobre la transición en un sector geopolítico tan vasto y disímil como América latina. Tales conclusiones globales sólo pueden obtenerse al costo de enormes simplificaciones, lo que, en definitiva, pone en duda su utilidad; de otro modo: es posible extraer conclusiones globales a partir de generalizaciones de los diferentes procesos de transición, pero tales conclusiones, al prescindir necesariamente de muchos datos de la realidad concreta (factores particulares que incidieron, en cada experiencia, en la adopción de una medida determinada), no darán más que una imagen superficial y, en ciertos casos, distorsionada del problema. La correcta valoración de una medida determinada deberá tener en cuenta las circunstancias particulares y el contexto global en que ella fue adoptada y ello sólo es posible en el marco de un análisis pormenorizado de un proceso de transición concreto. Por lo dicho, no describiré aquí de manera general cómo ha sido la transición en América Latina, porque tal grado de generalización no aportaría ningún provecho a la discusión sobre justicia de transición, ni tampoco expondré de manera resumida cómo ha sido cada una de las experiencias particulares en la región, pues con ello no haría más que repetir información expuesta con profundidad en 2 Baste aquí con recordar algunos claros ejemplos de la experiencia latinoamericana: En chile, durante los primeros años de democracia fue imposible siquiera pensar en la responsabilidad penal de los antiguos gobernantes; tal era el poder del viejo régimen que el antiguo dictador conservó por varios años el mando supremo de las fuerzas armadas y un cargo político de importancia (senador vitalicio) y los sectores que habían apoyado su dictadura conservaron un amplísimo poder político en la legislatura. Sólo en épocas recientes, cuando esa cuota de poder de los antiguos gobernantes de facto comenzó a resquebrajarse, han iniciado a tener éxito en amplia medida los cuestionamientos judiciales del decreto-ley 2.198 de auto-amnistía. La transición argentina muestra otro clarísimo ejemplo de las vicisitudes que rodearon a la persecución penal debido a la diferente conformación de las relaciones de poder en cada momento histórico: se pasó de una etapa de persecución penal (juicios a los ex comandantes, etc.) a una de impunidad (Leyes de Punto Final y Obediencia debida; indultos) para retornar luego a la persecución penal (nulidad de amnistías e indultos). innumerables trabajos ya publicados. Aquí tan sólo enunciaré brevemente cuáles son los principales aportes que la experiencia latinoamericana ha hecho a la discusión sobre justicia de transición y analizaré luego con más detalle alguno de estos aspectos. Creo que en dos grandes temas la experiencia latinoamericana ha particularmente enriquecido las discusiones sobre justicia de transición. Por un lado, en lo que se refiere a la verdad como reparación a las víctimas y como base para la reconciliación y la consolidación de la nueva sociedad. Por el otro, en lo que atañe al rol del derecho penal como herramienta de superación del pasado, esto es, a la cuestión de la tensión, siempre presente en los procesos de transición, entre justicia y paz, que se refleja en la contraposición entre el reclamo por la persecución penal de los crímenes y la necesidad en ciertos casos de conceder amnistías. II. Es indudable que la experiencia latinoamericana ha aportado mucho a la discusión sobre el rol de la verdad en los procesos de transición; ella ha contribuido tanto a la consolidación de un derecho a la verdad, como a la de los mecanismos institucionales para poder ejercerlo. El derecho a la verdad, enunciado ya en los arts. 32 y 33 del Protocolo Adicional I de 1977 a los Convenios de Ginebra de 1949,3 se ha consolidado y desarrollado principalmente en la jurisprudencia de los órganos del sistema interamericano de protección de los derechos humanos y de ahí ha pasado a la jurisprudencia de los Estados latinoamericanos. Ya en sus primeras decisiones la Corte Interamericana de Derechos humanos (CorteIDH) se había referido al derecho que asiste a los familiares de las víctimas a conocer lo sucedido, específicamente a saber cuál es el destino de la persona desaparecida y, en su caso, dónde se encuentran los restos.4 En decisiones posteriores, la CorteIDH reconoció explícitamente el derecho a la verdad como un derecho de la víctima y a la verdad como un componente necesario de la reparación. Básicamente, la CorteIDH entiende el derecho a la verdad como el derecho al esclarecimiento de los hechos violatorios y de las responsabilidades correspondientes5; especialmente en las 3 El art. 32 prevé “el derecho que asiste a las familias de conocer la suerte de sus miembros”. El art. 33 obliga a los Estados partes a buscar “las personas cuya desaparición haya señalado una parte adversa” (apartado 1). 4 Cfr., entre otros, CorteIDH, Velásquez Rodríguez contra Guatemala, sentencia de 29.7.1988, serie C No. 4 , parágrafo 181; CorteIDH, Godínez Cruz contra Guatemala, sentencia de 20.1.1989, serie C No.5, parágrafo 191. 5 Cfr., CorteIDH, Bámaca Velásquez contra Guatemala, sentencia del 25.11.2000, serie C No. 70 parágrafo 201; CorteIDH, Barrios Altos contra Perú, sentencia del 14.3.2001, serie C No. 75 parágrafo 48; CorteIDH, Carpio Nicolle y otros contra Guatemala, sentencia de 22.11.2004, serie C No. 117 parágrafo 128; CorteIDH, Comunidad Moiwana contra Suriname, sentencia de 15.6.2005, serie C No. 124 parágrafos 203 s; CorteIDH, Masacre de Mapiripán contra Colombia, sentencia de 15.9.2005, serie C No. 134, parágrafo 297; CorteIDH, Gómez-Palomino contra Perú, _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 369 Ezequiel Malarino _____________________________________________________________________________________ decisiones más recientes se advierte una estrecha vinculación entre este derecho y el derecho a la justicia de las víctimas, en el sentido de que habría una “obligación del Estado de lograr la verdad a través de procesos judiciales”6. La Comisión Interamericana de Derechos humanos (ComIDH), por su parte, ha reconocido el derecho a la verdad como un derecho individual de la víctima, pero también como un derecho colectivo de la sociedad. En palabras de la ComIDH el derecho a la verdad es un “derecho de carácter colectivo que permite a la sociedad tener acceso a información esencial para el desarrollo de los sistemas democráticos y a la vez un derecho particular para los familiares de las víctimas, que permite una forma de reparación, en particular, en los casos de aplicación de leyes de amnistía.”7 El derecho a la verdad también ha sido reconocido en diversas decisiones de tribunales de países latinoamericanos.8 La experiencia latinoamericana proporciona también varios ejemplos de mecanismos para ejercitar este derecho a la verdad. Ante todo, América Latina ha tenido una larga sentencia de 22.11.2005, serie C No. 136 parágrafos 76 s; CorteIDH, Blanco-Romero et al contra Venezuela, sentencia de 28.11.2005, serie C No. 138 parágrafos 95 s; CorteIDH, Masacre de Pueblo Bello contra Colombia, sentencia de 31.1.2006, serie C No. 140 parágrafos 219, 266; CorteIDH, Baldeón-García contra Perú, sentencia de 6.4.2006, serie C No. 147 parágrafo 196; CorteIDH, Masacre de Ituango contra Colombia, sentencia de 1.7.2006, serie C parágrafo 399; CorteIDH, Ximenes-Lopes contra Brasil, sentencia de 4.7.2006, serie C No. 149 parágrafo 245; CorteIDH, Servellón-García et al. contra Honduras, sentencia de 21.9.2006, serie C No. 152, parágrafo 193; CorteIDH, Almonacid-Arellano et al.contra Chile, sentencia de 26.9.2006, serie C No. 154, parágrafos 148 s; CorteIDH, Penal Miguel Castro-Castro contra Perú, sentencia de 25.11.2006, serie C No. 160, parágrafo 440. 6 Cfr. CorteIDH, Almonacid-Arellano et al.contra Chile, sentencia de 26.9.2006, serie C No. 154, parágrafo 150. 7 Cfr., entre muchos otros, el Informe 136/99 de 22.12.1999 en el caso Ignacio Ellacuría et al., parágrafo 224. 8 Véase especialmente la sentencia de la Corte Constitucional peruana en el caso Villegas Namuche del 9.12.2004, Expediente 2488-2002-HC/TC, en donde se reconoció una dimensión individual y otra colectiva del derecho a la verdad (parágrafo 9). Cfr. también las sentencias de la Corte Suprema argentina en los casos Urteaga del 15.10.1998 (derecho a la verdad por medio de la acción de habeas data) y Hagelin del 8.9.2003 (derecho a la verdad en el proceso penal). Ver también las sentencias de la Corte Constitucional colombiana C-578/02 de 30.7.2002 y C-580/02 de 31.7.2002 y también T-249/03 del 21.3.2003. Sobre algunas de estas decisiones hay un pequeño resumen en Ezequiel Malarino, “Jurisprudencia latinoamericana sobre derecho penal internacional. Conclusiones y consideraciones críticas”, en Kai Ambos/Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (eds.), Jurisprudencia latinoamericana sobre derecho penal internacional. Con un informe adicional sobre la jurisprudencia italiana, KAS, Montevideo, febrero 2008, pp. 421/448. experiencia en cuanto a comisiones de la verdad. Inició este camino la “Comisión Nacional de Investigación de Desaparecidos Forzados” establecida en Bolivia en 1982 que, si bien fue disuelta antes de emitir su informe, sirvió de antecedente para la creación de organismos similares en otros países de la región. La comisión que adquirió mayor notoriedad en y fuera de Latinoamérica fue seguramente la “Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas” (CONADEP), creada en Argentina a finales de 1983 con el objetivo específico de averiguar el destino de las personas desaparecidas. Esta Comisión ganó notoriedad por ser la primera en la región que culminó su tarea con la emisión de un informe, cuyo título hoy se ha convertido en un lema más allá de las fronteras argentinas y latinoamericanas: Nunca más. A partir de allí casi todos los países han contado con instituciones oficiales similares encargadas de la búsqueda de la verdad, aunque con ciertas diferencias en cuanto a la naturaleza, composición, funciones y atribuciones.9 Además de las comisiones de la verdad, la experiencia latinoamericana nos proporciona otros ejemplos de mecanismos o instancias para ejercer este derecho, que aquí me limitaré tan sólo a enunciar. Así, el derecho a la verdad ha sido exigido en el curso de un procedimiento penal normal10, a través de instrumentos encaminados a obtener información del Estado como la acción de habeas data11 o bien a través de los llamados juicios de la verdad, esto es, procedimientos ante tribunales penales con la única finalidad de investigar los hechos y sin aplicación de sanciones penales. Estos juicios tuvieron lugar en Argentina y fueron la consecuencia de un acuerdo de solución amistosa entre la ComIDH y el Estado argentino – plasmado en el Informe 21/00 de la ComIDH12 –; este acuerdo tuvo lugar en un momento en que la persecución penal estaba impedida por las llamadas leyes de amnistía. III. El segundo punto en el que la experiencia latinoamericana ha aportado a la discusión sobre justicia de transición se refiere, como he anticipado, al rol del derecho penal como herramienta de superación del pasado. Las 9 Sobre las diferentes comisiones de la verdad véase cada uno de los informes nacionales contenidos en Kai Ambos/ Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (supra nota 1). Es preciso destacar, aquí, que muchas de esas comisiones han tenido un rol importante en la reparación de las víctimas. 10 Esto ha sido señalado en varias decisiones nacionales y también por la CorteIDH en su decisión en el caso Almonacid-Arellano (ver la cita arriba en la nota 6). Para una convincente crítica del proceso penal como lugar adecuado para averiguar la verdad y en general para una crítica al llamado “derecho a la verdad”, cfr. Daniel Pastor, “¿Procesos penales sólo para conocer la verdad? La experiencia argentina”, en Eiroa, Pablo y Otero, Juan Manuel (compiladores), Memoria y derecho penal, Fabián Di Plácido, Buenos Aires, 2008, pp. 325 ss. 11 Éste fue el medio que la Corte Suprema argentina un primer momento había reconocido para hacer valer el derecho a la verdad (caso Urteaga, sentencia del 15.10.1998). 12 ComIDH, Informe n 21/00, caso 12.059, Carmen Aguiar de Lapacó, Argentina, 29.2.2000. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 370 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas _____________________________________________________________________________________ reflexiones sobre cómo encarar la tensión entre justicia y paz y, en particular, cómo resolver la contraposición entre un derecho a la justicia concebido cada vez más de manera absoluta y la necesidad en ciertos casos de prescindir de la persecución penal (amnistías, etc.) o de garantizar reducciones considerables de pena (derecho penal premial) han rodeado todas las experiencias de transición latinoamericanas y en los últimos tiempos han adquirido un particular fervor. Dos acontecimientos importantes han llevado a primer plano este tipo de discusiones. El primero es la aparición el 14.3.2001 de la sentencia de la CorteIDH en el caso Barrios Altos contra Perú que declaró sin efectos jurídicos a dos leyes de amnistía peruanas, sentando la doctrina de los límites absolutos a la facultad de amnistiar en virtud de la gravedad del crimen.13 Aunque algunos tribunales nacionales latinoamericanos ya se habían ocupado de la cuestión de la validez de las leyes de amnistía referidas a crímenes internacionales o a crímenes graves,14 fue a partir de la decisión del tribunal interamericano que la tesis de la prohibición absoluta de amnistiar ciertos crímenes graves se abrió paso en la jurisprudencia de algunos países.15 El segundo acontecimiento importante que revitalizó la discusión sobre la tensión entre justicia y paz en los procesos de transición fue la entrada en vigor de la Ley 975 de 2005 en Colombia. Esta ley introdujo una solución de derecho penal atenuado, que premia con una reducción considerable de pena a los implicados en violaciones de derechos humanos a cambio de colaboración en la reconstrucción de los hechos, reparación a las víctimas, desarme y desmovilización. La “doctrina Barrios Altos” y la “Ley 975” han respondido de manera diversa la cuestión de cómo solucionar la tensión entre justicia y paz. La primera prioriza el derecho a la justicia y con ello sitúa al derecho penal como herramienta insustituible de la transición; la segunda, acepta renunciar parcialmente al derecho penal. Especialmente sobre estas cuestiones, centrales en todo proceso de transición, quiero efectuar algunas consideraciones un poco más detalladas. A ello dedicaré las páginas siguientes. IV. La fuerte dependencia de la transición de la realidad política, de la que hablamos al comienzo de este trabajo, 13 Cfr. Barrios Altos contra Perú, sentencia del 14.3.2001, serie C No. 75 parágrafos 41 ss. Esta jurisprudencia ha sido reiterada por la CorteIDH en numerosas ocasiones, cfr. tan sólo Almonacid-Arellano et al. contra Chile, sentencia de 26.9.2006, serie C No. 154, parágrafos 119 s. 14 Cfr. el auto de apertura de instrucción de 18.4.1995 emitido por la jueza Antonia Saquicuray a cargo del 16 Juzgado Penal de Lima; la decisión del 6.3.2001 del juez Gabriel Cavallo a cargo del Juzgado en lo Criminal y Correccional Federal n°4, secretaria 7 de Buenos Aires en el caso Simón y la decisión de la Corte de Apelaciones de Santiago de 30.9.1994 en el caso Uribe Tambley y van Jurick Altamirano (imputado Romo Mena). 15 Cfr. entre muchas otras la sentencia de la Corte Suprema argentina del 14.6.2005 en el caso Simón y la decisión del Tribunal Constitucional peruano del 29.11.2005 en el caso Barrios Altos. permite una observación que es la causa de la afirmación inicial de que cada experiencia de transición es diferente de las demás: una transición se hace más como se puede que como se quiere. En otras palabras, un proceso de transición trata de atender a las necesidades en el marco de las posibilidades. Y esto es así, porque un proceso de transición, si quiere lograr su objetivo y tener éxito, no debe arriesgar lo que ha ganado (transición post-conflicto) o ganaría (transición durante el conflicto) con la salida del régimen autoritario (transición a la democracia) o la finalización de la guerra (transición a la paz). En efecto, si el fin primario de la transición es superar la situación de conflicto, esto es, pasar del autoritarismo a la democracia o bien de la guerra a la paz, entonces las posibilidades de acción de la política de transición deberán estar siempre limitadas a las medidas que no pongan en riesgo ese objetivo. De ahí que toda medida que ponga en peligro ese objetivo – básicamente, que ponga en riesgo la paz nuevamente conquistada o que busca conquistarse – deba considerarse fuera del marco de una verdadera política de transición.16 Ésta debe ser una regla de oro de todo proceso de transición. Con esto ya se dice mucho acerca de cómo deberían decidirse los conflictos entre “justicia y paz” en el marco de una transición que realmente quiera ser tal. Puedo resumir la idea con la siguiente fórmula: tanta justicia como paz lo permita, o bien, sólo puede haber persecución penal si ello no pone en juego la paz, finalidad básica de la transición y, aún más, condición indispensable para el desarrollo de cualquier forma elemental de convivencia social y por ello también para la misma existencia de un Estado de derecho. De ahí que en la clásica disputa existente en el ámbito de la justicia de transición entre “retribucionistas” (que miran hacia atrás) y “pragmatistas” (que miran hacia delante), o bien entre un modo “idealista” (todo quien cometió un delito debe ser castigado) y otro “político” (habrá castigo sólo si con ello no se compromete la transición) de encarar el problema,17 me ubique del lado de los últimos. Prefiero la paz a la pena y al derecho penal. Seguramente el calificativo de “político” – utilizado, a veces, desde el lado de sus contrincantes de manera peyorativa – no suene al oído del jurista tan bien como el de “idealista”, pues, una vez que un delito se ha cometido, los juristas queremos ver a la política lejos del derecho penal. Sin embargo, esta pretensión, compartible en las situaciones de normalidad, deja de ser convincente en 16 Ya lingüísticamente transición significa “acción y efecto de pasar de un modo de ser o estar a otro distinto” (Diccionario de la Real Academia Española, 22ª edición, voz: “transición”, primera acepción). La política que obstaculiza este “pasar” no busca primariamente, entonces, la transición a la paz o a la democracia, sino, más bien, otros objetivos. 17 Esta misma contraposición a veces es presentada como “pragmatismo” versus “fundamentalismo” (cfr. Iván Orozco Abad, “Sobre el castigo y el perdón”, en Jon Elster et al, Seminario Internacional Justicia transicional en la resolución de conflictos y secuestro. Memorias, Vicepresidencia de la República; Universidad Nacional de Colombia, Bogotá, 2007, p. 97. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 371 Ezequiel Malarino _____________________________________________________________________________________ situaciones límite en las cuales la punición – o su intentopondría en riesgo la paz – y con ello la vida de los ciudadanos- y es por ello que el derecho ha ideado ciertos institutos, como las amnistías, para estas situaciones excepcionales. Para evitar cualquier tipo de confusión, en esto debemos ser bien claros: de lo que se trata es de la alternativa entre el bien paz y el bien punición, cuando no se pueden conseguir ambos a la vez. Cuando, en cambio, es posible el castigo del culpable sin comprometer la paz, entonces no hay conflicto entre “justicia y paz” y quien cometió un hecho punible debe ser castigado. Con riesgo para la paz, por otra parte, no me refiero a un individuo rebelde o grupo de individuos que amenazan con producir lesiones a bienes jurídicos si se quiere iniciar contra ellos una acción penal, sino a situaciones en las que está en juego la convivencia pacífica de la sociedad en un sentido amplio, situaciones que importan el riesgo a una guerra abierta o el retorno de un Estado criminal. Por eso, en este contexto lo que se menciona como idealismo no es otra cosa que un idealismo por la pena al costo de la paz. Un idealismo así ya no suena tan convincente y a él puede oponerse otro mucho más defendible: un idealismo por la paz al costo de la punición.18 Vistas las cosas de este modo, sólo un pan-penalismo desenfrenado e hipócrita puede crear y creer en un eslogan, refutado por la experiencia, que dice no peace without justice. ¿O es que en España, Italia y muchos otros países que cerraron las puertas a la justicia penal luego de crímenes estatales gravísimos no reina la paz y no se respira democracia? O bien ¿es que el déficit de democraticidad que en ellos pudiera haber, si es que lo hay, se debe a esta ausencia de punición? ¿Es que la ejecución por ahorcamiento de Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, von Ribbentrop, Streicher y otros tantos más contribuyó a la democracia alemana de modo que habría que esperar que el ahorcamiento de Hussein contribuya a la paz y a la democracia en Irak? ¿Fue efectivamente el castigo de los jerarcas nazis y nipones lo que llevó la democracia a esos países? ¿o lo fue más bien el colapso de esos estados criminales, la vergüenza colectiva por lo sucedido y el enorme bienestar económico que esos países, no sin notable ayuda externa, lograron a partir de esa época? La consolidación de la paz y de la democracia tiene mucho menos que ver con el derecho penal de lo que 18 Por ello, no debemos dejarnos confundir por las etiquetas. Los calificativos con los que se mencionan las posiciones contrapuestas analizadas, por sí solos, no dicen mucho. Podrán sonar mal o bien, peor o mejor, ser más o menos persuasivos, pero en definitiva son conceptos vacíos. Esto lo demuestra el hecho de que la misma posición es señalada a veces como “idealista” – con una clara connotación positive – y otras como “fundamentalista” – con connotación negative – (ver la distinción de Orozco Abad en la nota anterior). Lo que hay que tener siempre en claro para no caer en un engaño de etiquetas es a qué se refiere el idealismo o el fundamentalismo o que valor está detrás de la visión pragmatista o política. El resto es pura retórica. habitualmente se cree. Es ingenuo ver en el derecho penal un “sanalotodo”19 de los problemas sociales. La consecución de la paz, la reconciliación social y la democracia deben buscarse principalmente con otros medios. Son, más bien, ciertas condiciones económicas, sociales y culturales lo que hace que estos valores sean deseados, aceptados y respetados. El derecho penal sólo contribuye en una medida mínima – y sólo ante el fracaso de otras medidas prioritarias – a garantizar la paz social a través de predisponer una reacción ante la lesión de valores elementales de convivencia; y, en este sentido, sólo de manera secundaria contribuye a la obtención de esos fines. En otras palabras, el derecho penal coadyuva a la conservación de la paz, de la convivencia social pacífica, pero él es tan sólo un instrumento subsidiario y de segundo orden para el logro de este objetivo. Pero aun quien le asigne a la pena una función principalísima en la obtención de este objetivo, no debería confiar más en sus bondades cuando su aplicación, en lugar de asegurar la vida social pacífica, la pone en juego y con ello pone en juego la razón primaria del derecho penal. Por ello, es posible sostener que siempre que la utilización del derecho penal frustre la finalidad básica que él está llamado a cumplir, entonces ya no está justificado.20 ¿Sigue teniendo sentido el recurso al derecho penal cuando contribuye a una quiebra de la paz en lugar de a su conservación o consolidación? Muchas veces, mal que nos pese, valdrá el eslogan opuesto al antes mencionado: no peace with justice. Sin embargo, existe un argumento bastante usual a favor de no ceder tan sólo un ápice en exigencias de justicia. Se dice que el castigo ineludible de los responsables de los crímenes actuales tendría un efecto disuasivo sobre futuros dictadores: al saber éstos lo que les espera, se abstendrían de comportamientos criminales.21 Pero este argumento presenta serios problemas. En un plano estrictamente moral no parece convincente arriesgar la vida e incolumidad física de los habitantes de una región para advertir a futuros y eventuales dictadores lo que les sucederá si emprenden el camino del delito. Esto equivaldría a proteger a personas frente daños futuros eventuales al costo de exponer a otras a daños actuales ciertos. Pero además, como todo argumento basado en la disuasión, tiene el problema de que es difícil conocer con certeza en qué medida la condena de delincuentes 19 La frase es de Daniel R. Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos del Estatuto de Roma, Atelier, Barcelona, 2006, p. 75. 20 Ezequiel Malarino, “Il volto repressivo della recente giurisprudenza argentina sulle gravi violazioni dei diritti umani. Un'analisi della sentenza della Corte Suprema della Nazione del 14 giugno 2005 nel caso Simón”, en Gabriele Fornasari y Emanuela Fronza (dir.), Il superamento del passato e il superamento del presente: l'esperienza argentina e colombiana a confronto (en curso de publicación), § 2, punto XV. 21 Cfr. Ambos, marco jurídico, supra notal, p. 36 y la bibliografía allí citada (en nota 80). También, pero desde un punto de vista crítico, James Fearon, “Comentarios acerca del problema del antes y el después en la justicia transicional”, en Jon Elster et al, supra nota 17, p. 136. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 372 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas _____________________________________________________________________________________ ayudará a frenar a otros del delito. Creer que un dictador no dará un golpe de Estado o no luchará contra los opositores políticos a los cuales normalmente considera como los causantes de los males de la tierra por la existencia de un deber de perseguir y sancionar absoluto, es confiar demasiado en los efectos disuasivos de la pena.22 Es una visión muy optimista – y simplista – creer que quien lleva las riendas de una dictadura criminal – especialmente en el momento de apogeo- se dejará amedrentar por una posible pena futura. Pero si este dictador ya ha cometido los crímenes, la imposibilidad de pactar una salida del poder sin consecuencias penales para él y su grupo, lo llevará normalmente a derramar hasta la última gota de sangre para no ceder ese poder que le asegura la libertad. Un deber de punición a ultranza puede provocar en muchas ocasiones, como correctamente fue advertido, el efecto contrario al buscado.23 La fórmula antes señalada de tanta justicia como paz lo permita tiene en cuenta que en determinadas situaciones es preferible renunciar al derecho penal en pos del interés superior de la paz. Por ello, la finalidad esencial y primaria del proceso de transición es la de obtener y conservar la paz (poner fin a una guerra o a un estado criminal; evitar la reanudación de la guerra o el retorno del estado criminal). Esta paz, definida negativamente como situación de “no guerra” o de “no violaciones sistemáticas a los derechos humanos”, es el primer pilar que debe construir un proceso de transición y debe ser un pilar lo más resistente posible – aunque en un comienzo por lo general será débil y precario-, pues de él dependerá toda la suerte de la transición. Los restantes objetivos del proceso de transición son secundarios respecto de la obtención de la paz, en el sentido de que sólo pueden lograrse si ésta está garantizada. La reconciliación social, a través de la reanudación de las relaciones y consolidación de los vínculos entre los sectores sociales en conflicto y del cierre de las heridas sociales, es otro objetivo 22 Ver la objeción usual en contra de prevención general negativa tan sólo en Günter Stratenwerth, Derecho Penal, parte general I, El hecho punible, 4ta edición, traducción de Manuel Cancio Melia y Marcelo A. Sancinetti, Hammurabi, 2005, p. 42. 23 Friedrich Dencker, “Crímenes de lesa humanidad y derecho penal internacional. Observaciones críticas”, en Estudios sobre Justicia Penal, Homenaje al Profesor Julio B. J. Maier, Editores del Puerto, Buenos Aires, 2005, p. 636 s. Por tal razón, si la Corte Penal Internacional (CPI) no respetara una amnistía que ha sido el fruto de las negociaciones de las partes para poner fin a un conflicto sangriento, ello probablemente traería más perjuicios que beneficios para la comunidad internacional, pues los dictadores ya no confiarán más en que la palabra dada en una mesa de negociaciones será respetada y preferirán luchar hasta el fin que sentarse a negociar. Indudablemente, una posición de este tipo por parte de la CPI desconocería que el objetivo básico de la comunidad internacional es la mantención de la paz, tal como lo expresa el preámbulo y el art. 1 de la Carta de la Organización de Naciones Unidas. importantísimo de un proceso de transición, pero este objetivo sólo puede ser logrado en una sociedad que vive en paz. Lo mismo debe predicarse de la consolidación de las instituciones democráticas y de la vigencia plena de un Estado de derecho. De este modo, en la afirmación bastante recurrente en el contexto de la justicia de transición de que hay situaciones en las que “la persecución penal puede prometer más para facilitar la reconciliación y la construcción nacional y hasta puede ser un prerequisito para la verdadera reconciliación”24 debería estar presupuesto que esa persecución penal no daña la paz, pues sin ella no es posible ningún tipo de reconciliación. Es cierto que una paz sostenible sólo es posible si hay reconciliación, pero también lo es que sólo puede haber reconciliación si hay paz, al menos, paz entendida como ausencia de agresión. Esto pone en claro que el primer objetivo que debe buscar un proceso de transición, como ya he señalado, es la consecución de una situación de paz, para luego, a partir de allí, buscar la reconciliación social y lograr de ese modo que esa paz en principio precaria se vuelva duradera. Es precisamente sobre esta situación de paz que podrán asentarse todas las restantes medidas del proceso de transición y sólo sobre ella podrá comenzar a construirse, como ya he anticipado, un Estado de derecho. Estos son los motivos por los cuales estimo, en contra de una opinión muy difundida, que no puede haber un equilibrio o compromiso entre justicia y paz. Sostener que en un proceso de transición es “crucial encontrar el justo equilibrio entre los valores contrapuestos de paz y justicia”25 significa, por un lado, reconocer que las pretensiones de justicia puedan ceder a las de paz (para obtenerla o conservarla), pero, por el otro, también que las pretensiones de paz puedan hacerlo en nombre de la justicia. En la idea del equilibrio, el compromiso, la transacción o la ponderación entre justicia y paz está implícito, lógicamente, una posibilidad de renuncia a la paz. Tal idea acepta entonces que en determinadas situaciones pueda ser preferible la sanción de los responsables de delitos a la evitación de una situación de guerra o del retorno de un estado criminal. Y esto es algo que ningún estado de derecho debería permitir; aún más: es algo que ningún estado de derecho podría permitir si no quiere poner en juego la base sobre la cual asienta su existencia. Por ello, el fin de un proceso de transición no debe ser la búsqueda de un equilibrio entre justicia y paz. Entre estos dos 24 Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 16 s. (notas omitidas), con cita de la opinión en el mismo sentido de Darryl Robinson, Serving the interests of justice: amnesties, truth commissions and the International Criminal Court, (2003) 14 EJIL 481, p. 489; Héctor Olásolo, The prosecutor of the ICC before the initiation of investigations: A quasi-judicial or a political body?, (2003) 3 ICLR 87, p. 139 y Rodrigo Uprimny y María Paula Saffon, “Justicia transicional y justicia restaurativa: tensiones y complementariedades”, en A. Rettberg (ed.), Entre el perdón y el paredón. Preguntas y dilemas de la Justicia Transicional (Ediciones Uniandes, Bogotá 2005), pp. 211, 224, 229. 25 Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 22 s. y pp. 75 ss. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 373 Ezequiel Malarino _____________________________________________________________________________________ valores no debería haber una negociación (trade off) en el sentido de que se debe renunciar parcialmente a cada uno de ellos para encontrar el justo medio. Esta imagen mercantilista, usual en las discusiones de justicia de transición, es extremadamente peligrosa, pues acepta quiebras de la paz para lograr la punición; para ponerlo de modo brutal: justifica muertes para obtener castigo. Es indudable que un proceso de transición presupone una tensión entre justicia y paz, pero la solución de esta tensión no puede resolverse por medio de una ponderación. La paz es siempre un interés prioritario frente a la persecución y punición de hechos ilícitos, pues la conservación de una situación de paz es la finalidad básica de cualquier forma de asociación política entre ciudadanos y el presupuesto de la convivencia entre seres humanos. Lo que sí, en cambio, deben evaluar las autoridades estatales con la mayor prudencia es si efectivamente la realización de juicios penales contra los responsables de hechos ilícitos pondría en riesgo la paz o si, dado el caso, la paz podría garantizarse sin una renuncia total a la persecución penal. Brevemente: lo único que se puede transar y negociar es la justicia. La situación ideal será entonces “paz y justicia”; la situación menos conveniente, en cambio, “paz sin justicia”; entre estos polos podrán darse diversas combinaciones de “paz y algo de justicia” (derecho penal de premios, derecho penal selectivo, exenciones de responsabilidad parciales, etc.). Para la protección del bien supremo de la paz, los ordenamientos jurídicos disponen de instrumentos que permiten, en situaciones especiales y extremas, renunciar a la pena o al proceso penal. La amnistía es el caso paradigmático de este tipo de instrumentos. Ella opera, básicamente, en situaciones límite de anormalidad en donde la propia supervivencia del Estado de derecho está comprometida y por ello, bien puede ser concebida como una cláusula de supervivencia del Estado.26 Aunque es un instrumento que 26 En situaciones normales el Estado debe perseguir los delitos y por ello sí podrían existir reglas que excluyan de la amnistía a delitos comunes tales como el homicidio, el robo, etc., porque ellos no representan riesgo alguno para la paz social en el sentido amplio al que se ha hecho referencia arriba en el texto. Un Estado no perece porque existan ladrones o asesinos. Si no están dadas las condiciones excepcionales para el dictado de una amnistía, entonces el Estado no tiene ninguna necesidad de ceder en la persecución de los delitos. Es claro que me estoy refiriendo únicamente a una amnistía finalizada a la obtención o conservación de la paz. No me ocuparé aquí de amnistías concedidas para el logro de otros fines, como, por ejemplo, las amnistías previstas para descargar la administración de justicia o bien aquellas concedidas por razones económicas, como fue la llamada “amnistía impositiva” alemana del 1.6.1933 a favor del evasor que contribuía económicamente – con un monto al menos igual a la mitad del importe evadido – a un fondo destinado a luchar contra la desocupación o bien la “amnistía por delitos monetarios o de divisas” del 15.12.1936 concedida al infractor de normas penales sobre divisas bajo la condición de que repatriara valores conservados en el exterior o depositara en pone en evidencia que el Estado no puede hacer lo que debe hacer o puede hacerlo sólo con costos altísimos, la amnistía es una herramienta valiosísima para un Estado de derecho, pues protege la condición sin la cual éste no sería posible. En los últimos tiempos, sin embargo, son cada vez más las voces a favor de establecer límites a la posibilidad de amnistiar crímenes graves y en general a favor de establecer reglas jurídicas estrictas para la transición que limiten la discreción de los negociadores.27 En mi opinión, este objetivo no tiene grandes posibilidades de éxito y, en ciertos casos, puede ser incluso contraproducente. Por más bien intencionado que sea el tratar de establecer reglas jurídicas preestablecidas, incluso estándares internacionales, acerca de cómo debe ser una transición o bien qué medidas puedan emplearse y con qué presupuestos, condiciones o requisitos, en definitiva tales reglas serán seguidas sólo allí donde la relación de fuerzas entre el viejo sistema y el nuevo, entre quienes serán objeto de las medidas la transición y quienes las diseñan, lo permita. Establecer que una amnistía sólo será válida si se otorga a la sudafricana en el marco de una comisión de la verdad que analice caso por caso la petición de amnistía y evalúe la colaboración de la persona a la reconstrucción de los hechos, puede ser, a lo más, una propuesta interesante, pero nada asegura que tenga posibilidades de éxito en el caso concreto. Menos posibilidades de ser implementada en una situación de conflicto tendrá una regla que establezca límites absolutos e infranqueables a la facultad de amnistiar crímenes graves, como la afirmada por la CorteIDH en el caso Barrios Altos y saludada desde varios sectores. La afirmación de un deber de investigar a ultranza y una prohibición absoluta de amnistías puede no ocasionar problemas políticos – jurídicos muchas veces sí, cuando esta afirmación es hecha para justificar la quiebra de principios constitucionales superiores – en situaciones donde el conflicto quedó atrás y quienes cometieron crímenes gravísimos perdieron el poder. Pero, ¿quién estaría dispuesto a afirmar que deba aplicarse a rajatabla la doctrina Barrios Altos cuando militares golpistas que poseen el control sobre las fuerzas armadas están apuntando sus tanques a los centros urbanos y están dispuestos a avanzar hasta derrocar el gobierno constitucional e incluso abrir fuego contra la población civil si no consiguen garantías de impunidad por crímenes pasados? En una situación así sólo un mártir principista (porque no cede al principio retribucionista de ‘a cada cual lo que se merece’) e irresponsable (porque haciendo ello pone en riesgo a la sociedad) seguirá estos “estándares internacionales” preestablecidos. En la situación concreta tales estándares no el Banco del Imperio valores escondidos – en negro – en territorio alemán. Sobre este tipo de amnistías y otros más, puede verse un resumen en Klaus Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie, 1984, pp. 11 ss. 27 Cfr. el Informe del Secretario general de la ONU sobre The rule of law and transitional justice in conflict and postconflict societies. Report of the Secretary-General, S/2004/616, 23.8.2004, par. 9 ss. Este objetivo es perseguido por Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 25 s. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 374 Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas _____________________________________________________________________________________ serán cumplidos (porque nadie, por fortuna, querrá asumir el rol del mártir principista) o serán contraproducentes (porque el mártir existió y puso en riesgo a la sociedad o porque el dictador alargó su dictadura por temor a dicho mártir principista o a la comunidad internacional – por ejemplo, si la CPI se vuelca hacia el idealismo retribucionista-). Tales límites absolutos al dictado de amnistías sólo tendrán éxito – con éxito me refiero sólo a que no comprometen la paz- si son utilizados de manera atemporal, esto es, si se los aplica, como en la sentencia de 14 de junio de 2005 en el caso Simón de la Corte Suprema argentina, para anular una amnistía en un momento en que la situación crítica de conflicto ya no existe. Aquí el problema no es político (no hay ya riesgo de una reanudación de la guerra o de una vuelta del Estado criminal), sino en muchas ocasiones jurídico, pues el derribamiento de amnistías puede implicar como costo la lesión de principios básicos del orden constitucional.28 Pero durante la situación de conflicto, tales límites o bien serán inútiles (porque no serán respetados) o bien contraproducentes (porque el dictador tratará de hacer todo lo posible para no dejar el poder o bien para recuperarlo apenas note que el nuevo gobierno pretende iniciar un procedimiento penal). Sólo las circunstancias de cada caso concreto y las relaciones de poder que existen en una sociedad en un momento histórico dado podrán determinar si se debe renunciar a la justicia, a cuánto de justicia y bajo qué condiciones para conservar la paz. Por ello, en ciertas ocasiones extremas puede estar justificada una amnistía total por crímenes graves; en otras, en cambio, el nuevo sistema será lo suficientemente fuerte como para poder llevar a cabo, sin poner en riesgo la convivencia pacífica, juicios penales contra el grupo de los líderes; en este caso, bastará entonces con una amnistía parcial que abarque sólo a los subordinados. En ciertas ocasiones, las amnistías podrán estar condicionadas al cumplimiento de prestaciones por parte de los autores y en otras no podrán estarlo. En otros casos, una amnistía puede no ser necesaria para evitar un retorno a -o salir de- la guerra o un estado criminal y la paz ya puede ser garantizada con medidas menos drásticas, como, por ejemplo, un derecho penal atenuado, en donde la contribución al proceso de paz (en forma de aportes a la reconstrucción de la verdad, desarme y desmovilización, reparación a la víctima, etc.) sea premiada con descuentos de pena.29 Finalmente, también habrá casos en los que la persecución de los 28 Éste es un problema diferente que aquí no será abordado. Sólo quiero poner en evidencia que esta situación causa un sinsabor implacable: cuando las condiciones políticas para la persecución y sanción de los responsables de crímenes gravísimos no están dadas, las jurídicas normalmente sí lo están. Cuando, en cambio, están dadas las condiciones políticas, las jurídicas ya no lo están. El caso argentino proporciona un ejemplo clarísimo; al respecto cfr. Malarino, supra nota 20, passim. 29 No voy a referirme aquí a los problemas jurídicos que puede conllevar un derecho penal de premios, pues esto excedería en mucho el marco de este trabajo. responsables puede ser llevada a cabo sin comprometer la paz y en este supuesto ninguna merma en persecución penal debería estar autorizada. La elección entre una u otra solución dependerá de las circunstancias del caso concreto. Aquí, el nuevo estado o quienes diseñen la política de la transición deberían guiarse y tratar de cumplir de la mejor manera posible la fórmula antes expresada: tanta justicia como paz lo permita. Muchas veces será muy difícil determinar si pueden llevarse a cabo medidas menos drásticas sin arriesgar el proceso de transición. Ésta es una dificultad propia del proceso de transición; es un riesgo que sólo puede minimizarse con un adecuado análisis de la situación política, pero no excluirse. En todo caso, una renuncia a la punición, por grande que sea, es un costo que una sociedad puede afrontar. Lo que un Estado no puede arriesgar es la pérdida de la paz, pues ésta es una condición indispensable para el desarrollo de cualquier forma elemental de convivencia social y por ello también para la existencia de un Estado de derecho. Pérdida de la paz significa guerra, sea abierta o encubierta, y guerra significa muerte. La obtención, conservación y protección de la paz es una función primordial de un estado moderno, pues el deber primario de una sociedad es defender la vida e incolumidad de la población. Sin ella, además, las demás funciones estatales perderían mucho de su sentido o serían de imposible realización. Es por ello que no puede existir una ponderación entre justicia y paz, de modo que según el caso concreto se pudiera priorizar uno u otro bien. La paz es siempre un interés prioritario frente a la persecución y punición de hechos ilícitos, de modo que una ponderación entre estos bienes está excluida. La única evaluación permitida es si es necesario renunciar al castigo para conservar la paz y, en su caso, en qué medida lo es. La decisión final sobre una renuncia al castigo, total o parcial, si es que ella es necesaria, debería estar confiada, como normalmente lo está, al órgano estatal que más directamente representa la soberanía popular: el parlamento. Soy conciente de que en este trabajo he defendido una tesis muy impopular para los tiempos que corren en los que la idea de retribuir cueste lo que cueste ha ganado terreno y enceguecido a muchos defensores de los derechos humanos. Las corrientes modernas que anatematizan la amnistía, imponiéndole límites absolutos precisamente en el ámbito central de aplicación30, desconocen los beneficios que este instrumento aporta.31 Estas modernas corrientes que enarbolan la bandara de los derechos humanos olvidan que sancionar sin excepciones podría implicar en ciertos casos “el sufrimiento, la miseria y la muerte de muchos seres humanos”.32 30 Ver este argumento en relación con la declaración de invalidez de las leyes argentinas en Malarino, supra nota 20, § 15. 31 Me refiero, obviamente y como ya quedó claro de la exposición, únicamente a la amnistías conciliadoras y no a las auto-amnistías. Véase algunas de las razones de la prohibición de auto-amnistías en Marxen, supra nota 26, pp. 38 ss. 32 Dencker, supra nota 23, p. 637. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 375 Dehne-Niemann BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Zu den Voraussetzungen des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nach Vollendung einer Raubtat Schwere Misshandlungen nach Vollendung einer Raubtat können den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nur dann erfüllen, wenn sie weiterhin von Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht getragen sind, insbesondere der Beutesicherung oder der Erlangung weiterer Beute dienen (im Anschluss an BGHSt 20, 194; BGH NJW 2008, 3651, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt). (Amtlicher Leitsatz) StGB § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 (LG Berlin) Aus den Gründen: Rn. 2: 1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen: Rn. 3: a) Die Angeklagten hatten sich am Abend vor der Tat in der Wohnung des Angeklagten R. getroffen und dort gemeinsam mit zwei Mädchen alkoholische Getränke konsumiert. Um Nachschub zu besorgen, begaben sie sich zu einem „Spätkauf“. Da ihr Geld nicht ausreichte, machte letztlich der Angeklagte Z. den Vorschlag, jemanden „abzuziehen“. Diesem Vorhaben schloss sich der Angeklagte Se. ohne Zögern an, während sich der Angeklagte R. zunächst nicht beteiligen wollte und mit den Mädchen in einigem Abstand hinter den beiden herlief. Auf der Straße begegneten die Angeklagten den Geschädigten Si. und Kö. In Ausführung ihres Planes beraubten Z. und Se. zunächst den Zeugen Si. Unter Einsatz von Faustschlägen und Tritten nahmen sie ihm eine Schachtel Zigaretten weg. Rn. 4: Während dieser Tat hatte sich der Zeuge Kö. ängstlich entfernt. Der Angeklagte verfolgte ihn und versperrte ihm mit ausgestreckten Armen den Weg. Die beiden anderen Angeklagten kamen hinzu und bauten sich, ihren Tatplan wieder aufgreifend, vor dem Zeugen auf. Sie schubsten ihn und verlangten Geld von ihm, verbunden mit der Drohung, ihn im Falle der Weigerung „abzustechen“. Nachdem der inzwischen „panische“ Zeuge sich auf ihr Geheiß auf die Eingangsstufen eines Hauses gesetzt und dem Angeklagten Se. seine Geldbörse ausgehändigt hatte, trat dieser zur Seite, um sie zu durchsuchen. Als der Geschädigte nun aufstehen und sich entfernen wollte, hinderten R. und Z. ihn daran. Sie versetzten ihm so heftige Tritte, dass er zu Boden ging. Beide Angeklagte traten mehrfach gegen den Kopf des Zeugen. Nachdem der Angeklagte Se. der Geldbörse des Kö. einen Fünf-Euro-Schein entnommen hatte, beteiligte er sich ebenfalls an den Misshandlungen und trat wiederholt ins Gesicht des am Boden Liegenden. Die Angeklagten ließen den Geschädigten schließlich bewusstlos zurück. Rn. 5: b) Das Landgericht hat die Tat gegen den Zeugen Kö. als (besonders) schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 4, §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a, § 25 Abs. 2, § 52 StGB) gewertet. Der Umstand, dass die körperlichen Misshandlungen erst nach Herausgabe der Geldbörse erfolgten, stehe der Annahme des Qualifikationsmerkmals des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nicht entgegen. Denn anders als bei den Zwangsmitteln des Grundtatbestandes bedürfe es insoweit keiner finalkausalen Verknüpfung. Vielmehr reiche nach dem Gesetzeswortlaut eine Misshandlung „bei der Tat“, d.h. zu irgendeinem Zeitpunkt während des Tathergangs aus. Rn. 6: 2. Diese Begründung ist unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten zu beanstanden. Rn. 7: a) Zwar trifft es im Ansatz zu, dass eine Verwirklichung des Qualifikationstatbestandes des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB auch noch in der Phase zwischen Vollendung und Beendigung der Raubtat möglich ist (Fischer, StGB 56. Aufl. § 250 Rdn. 26). Dies hat der Bundesgerichtshof für den ähnlichen Fall des Verwendens einer Waffe „bei der Tat“ im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 342; BGH NJW 2008, 3651, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) im Einklang mit seiner Rechtsprechung zu § 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. (vgl. BGHSt 20, 194, 197) mehrfach bejaht. Danach genügt es zur Anwendung des § 250 StGB, dass die Waffe dem Täter zu irgendeinem Zeitpunkt des Tathergangs zur Verfügung steht. Unter Tathergang ist dabei nicht nur die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale bis zur Vollendung des Raubes zu verstehen, sondern das gesamte Geschehen bis zu dessen tatsächlicher Beendigung. Allerdings hat der Bundesgerichtshof stets darauf abgestellt, dass der Täter die Waffe zwischen Vollendung und Beendigung des Raubes zur weiteren Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht und in diesem Abschnitt der Tat insbesondere zur Beutesicherung eingesetzt hat. Nichts anderes hat zu gelten, wenn nach Vollendung einer räuberischen Erpressung der Waffeneinsatz in Frage steht. Er muss entsprechend zur weiteren Verwirklichung der Bereicherungsabsicht erfolgt sein. Rn. 8: b) Der schlichte räumlich-zeitliche Zusammenhang zwischen einem – vollendeten – Raub oder einer räuberischen Erpressung und einer unmittelbar nachfolgenden schweren Misshandlung genügt für die Annahme des Tatbestandsmerkmals „bei der Tat“ im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nicht. Dem steht schon der systematische Zusammenhang entgegen, in dem der Tatbestand steht. Da die Raubdelikte durch die finale Verknüpfung von Gewalt und rechtswidriger Vermögensverfügung geprägt sind, bezieht sich das Merkmal „bei der Tat“ auf eben diese Verknüpfung. Hierfür spricht auch die Regelung des räuberischen Diebstahls gemäß § 252 StGB, wonach der auf frischer Tat betroffene Dieb nur dann gleich einem Räuber – mit den entsprechenden Qualifikationen – bestraft werden kann, wenn er die Gewalt einsetzt, um sich im Besitz der Beute zu erhalten. Die Qualifikation _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 376 Dehne-Niemann BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 _____________________________________________________________________________________ betrifft deshalb bei den übrigen Raubtatbeständen auch nur die besondere Form oder Intensität des Gewalteinsatzes, der für die Herbeiführung der Vermögensverfügung aufgewendet wird. Dabei ist – wie der Generalbundesanwalt in seinem Terminsantrag zutreffend ausgeführt hat – bei der Auslegung des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Vorschrift gegenüber den als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Strafbestimmungen der §§ 224 und 226 StGB eine deutlich angehobene Strafrahmenuntergrenze aufweist. Das bloße Übergehen zur schweren körperlichen Misshandlung nur bei Gelegenheit eines bereits vollendeten Raubes vermag diese signifikante Anhebung der Mindeststrafe nicht zu rechtfertigen. Rn. 9: Zwar erscheint es vom Wortlaut her möglich, im weiteren Zusammenhang mit einem vollendeten Raub oder einer räuberischen Erpressung stehende Körperverletzungen – etwa aus Wut über eine zu geringe Beute ausgeführte schwere Misshandlung – der Qualifikation des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB zu unterstellen. Der besondere Schutzzweck des Raub- und Erpressungstatbestandes erfordert indes, dass die als schwere Misshandlung zu qualifizierende Körperverletzung von einer weiteren Verwirklichung der Zueignungsoder Bereicherungsabsicht getragen ist (vgl. BGHSt 20, 194, 197; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. § 250 Rdn. 12; a.A. Fischer aaO). Rn. 10: c) So liegt es hier aber nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht. Die massiven, zur Ohnmacht des Opfers führenden Verletzungshandlungen der Angeklagten standen in keinem Zusammenhang mit der Erpressungstat. Der Angeklagte Se. hatte die aus fünf Euro bestehende Tatbeute bereits an sich genommen und die offensichtlich für wertlos gehaltene Geldbörse des Opfers weggeworfen. Die Angeklagten hatten keinen Anlass für die Annahme, der Geschädigte werde versuchen, seine Geldbörse wieder zu erlangen. Des Weiteren ist nicht festgestellt, dass die Angeklagten den Geschädigten durch die Misshandlungen etwa noch zur Herausgabe weiterer Wertgegenstände veranlassen wollten. 3. […] Anmerkung: Der Entscheidung des 5. Strafsenats ist im Ergebnis zuzustimmen; das Urteil ist aber in der Begründung ergänzungsbedürftig. Der Senat hat die Schuldsprüche der Angeklagten wegen der Tat gegen den Zeugen Kö. zu Recht dahin abgeändert, dass in den Tritten gegen den Kopf des Kö. keine schwere körperliche Misshandlung i.S.d. §§ 255, 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB liegt und die Angeklagten insofern also „nur“ wegen (einfacher) räuberischer Erpressung zu verurteilen sind. So zutreffend es ist, dass bloß bei Gelegenheit eines Raubes bzw. – im vorliegenden Fall – einer räuberischen Erpressung vorgenommene körperliche Misshandlungen nicht unter § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB fallen, so sehr verwundert es, dass der Senat, offensichtlich „im Prinzip“ an der gefestigten Rechtsprechung festhaltend, wonach die Verwirklichung von Raubqualifikationen auch in der Phase zwischen formeller Vollendung und materieller Beendigung (sog. Beendigungsphase) der §§ 249, 255 StGB möglich sein soll, für die Verneinung des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB im vorliegend entschiedenen Sachverhalt jedoch ausgerechnet auf § 252 StGB rekurriert hat.1 1. Beizupflichten ist dem Senat zunächst in seiner Rechtsauffassung, dass für die Verwirklichung des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB der bloße Übergang zu einer schweren körperlichen Misshandlung nicht ausreicht, die nach Begehung eines Raubes bzw. (vorliegend) einer räuberischen Erpressung „nur bei Gelegenheit“ der bereits vollendeten Tat vorgenommen wird. Zwar hat die Rechtsprechung bislang kein Problem darin gesehen, die Qualifikationsverwirklichung erst in der Beendigungsphase zuzulassen, jedoch reichte dafür – zumeist – nicht aus, dass der Täter bei der Gewaltanwendung nicht mehr, wie von §§ 249, 255 StGB vorausgesetzt, in der Absicht rechtswidriger Zueignung oder Bereicherung handelte. So hat in der vom Senat in Bezug genommenen2 Entscheidung des 1. Strafsenats, BGHSt 20, 1943, dieser den Angeklagten deshalb für aus der Qualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. strafbar gehalten, weil er nach Raubvollendung „durch die Schläge erreichen (wollte), dass er mit dem soeben weggenommen Geld entweichen konnte“4, also maßgeblich darauf abgestellt, dass der Angeklagte „in der weiteren Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht“ bewaffnete Gewalt zum Zwecke der Beutesicherung verübt hat. Dass der 1. Senat das von ihm gewünschte Ergebnis – Strafbarkeit aus § 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. –, worauf Weber5 hingewiesen hat, in gleicher Weise und systematisch besser auch über § 252 StGB hätte erreichen können, sei nur am Rande erwähnt. Auch in der Entscheidung des 4. Strafsenats, BGHSt 22, 2276, stellte der BGH für das Vorliegen des Qualifikationsmerkmals der Begehung auf öffentlicher Straße i.S.d. § 250 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. erst in der Beendigungsphase darauf ab, dass es „keinen Unterschied [macht], ob der Täter die erpresserische Nötigung selbst oder erst die mit ihr in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehende, der Sicherung des durch die Nötigung Erlangten dienenden Handlung auf einem öffentlichen Weg […] begeht.7 Im Gegenteil sei der Existenz des § 252 StGB zu entnehmen, „dass es der Wille des Gesetzgebers ist, die Bestrafung des Erpressers „gleich einem Räuber“ auch dann zu ermöglichen, wenn erst nach Vollendung, aber vor Beendigung der Tat die Voraussetzungen der §§ 255, 249 ff. StGB gegeben sind“8. Obgleich also hier die Voraussetzungen des § 252 StGB gerade nicht vorlagen – es fehlt an einem Diebstahl als tauglicher 1 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7 f. BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7. 3 BGHSt 20, 194 (= NJW 1965, 1235 = JZ 1965, 417 m. krit. Anm. Weber). 4 BGHSt 20, 194 (197) – Rechtschreibung angepasst. 5 Weber, JZ 1965, 418 f. 6 BGHSt 22, 227 (= NJW 1968, 2252 = JZ 1968, 606 m. krit. Anm. Hruschka). 7 BGHSt 22, 227 (229). 8 BGHSt 22, 227 (229 f.) – Rechtschreibung angepasst. 2 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 377 Dehne-Niemann BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 _____________________________________________________________________________________ Vortat – betonte der BGH die in Form der Beutesicherungsabsicht fortbestehende Bereicherungsabsicht und hielt daher den Weg in den Strafrahmen der §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. für eröffnet. Die damit etablierte „verschämte“ Prüfung des dem systematisch die Beendigungsphase regelnden Tatbestand des § 252 StGB entstammenden Merkmals der Besitzerhaltungsabsicht hat der BGH allerdings nicht konsequent durchgehalten: In einer späteren Entscheidung, die sich mit einer erst in der Beendigungsphase angewandten, zur Todesfolge i.S.d. § 251 StGB führenden Gewalthandlung befasste, hat der BGH nämlich auf das Kriterium der Beutesicherungs- bzw. Besitzerhaltungsabsicht verzichtet und es ausreichen lassen, dass der Täter in der Raubbeendigungsphase Gewalt (allein) angewandt hat, „um sich zu befreien“ bzw. „um loszukommen“9. Ähnlich wie in der Entscheidung BGHSt 22, 227 hat der BGH nun abermals mit einer räuberischen Erpressung als „Vortat“ zu tun gehabt. Wenn der 5. Senat nun darauf abhebt, dass bei einem Raub (§ 249 StGB) die vom Täter in der Beendigungsphase verwirklichte Qualifikation „zur weiteren Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht und in diesem Abschnitt der Tat insbesondere zur Beutesicherung eingesetzt“ werden müsse10 – womit der Senat die Besitzerhaltungsabsicht in § 249 StGB hineinliest –, so ist die Nennung der Zueignungsabsicht redundant, denn bei § 252 StGB muss zum Zeitpunkt des Täterhandelns in der Nachtatphase die Zueignungsabsicht als in die Besitzerhaltungsabsicht hinein verlängerte überschießende Innentendenz ohnehin stets vorliegen, ist doch heutzutage weitestgehend anerkannt, dass der räuberische Diebstahl von demjenigen Zueignungsstreben geleitet sein muss, welches auch schon die Vortat leitet.11 Die sich damit zugleich erhebende Frage, warum dieses Postulat des Vorliegens von Beutesicherungsabsicht nach Deliktsvollendung auch dann Gültigkeit beansprucht, wenn es sich bei der „Vortat“ um ein i.S.d. § 252 StGB nicht vortatfähiges Delikt (wie vorliegend die räuberische Erpressung) handelt, also Erwägungen zu § 252 StGB in der Beendigungsphase des § 255 StGB eigentlich ohnehin nicht von Relevanz sein dürften, hat der Senat bedauerlicherweise nicht beantwortet, vielmehr dieses Postulat vorausgesetzt, indem er lapidar darauf abgestellt hat, dass die „massiven […] Verletzungshandlungen der Angeklagten […] in keinem inneren Zusammenhang mit der Erpressungstat“ standen und dass kein „Anlass für die Annahme (bestand), der Geschädigte werde versuchen, seine Geldbörse wieder zu erlangen“.12 Schon aus Gründen des Koinzidenzerfordernisses (schwere körperliche Misshandlung „bei der Tat“) wird man aber auch bei § 255 9 BGH StV 2000, 74 m. Anm. Schroth, NStZ 1999, 554; Momsen, JR 2000, 29 u. abl. Bespr. Hefendehl, StV 2000, 107; vgl. auch BGH NJW 1998, 3361. 10 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7. 11 Vgl. zuletzt etwa BGH NJW 2008, 3651 (3652); Deiters, ZJS 2008, 672 (674); Dehne-Niemann, Jura 2008, 745 f. m. Fn. 51. 12 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 10. StGB – insofern hat der 5. Senat, immer auf der Grundlage seiner Prämisse, dass Qualifikationen in der Beendigungsphase verwirklicht werden können, also Recht13 – das Vorliegen von Bereicherungsabsicht verlangen müssen. Mit dem Fehlen der Beutesicherungsabsicht in der Beendigungsphase des § 255 StGB lässt sich dieses Ergebnis logisch jedoch nicht begründen: Da für die Tatbestandsmäßigkeit des § 255 StGB das Vorliegen von Beutesicherungs-/Besitzerhaltungsabsicht nicht notwendige Bedingung ist, kann nicht das Fehlen von Beutesicherungs-/Besitzerhaltungsabsicht hinreichende Bedingung für mangelnde Tatbestandsmäßigkeit des § 255 StGB sein. Insofern zeigt die Argumentation des Senats mit § 252 im Bereich des § 255 StGB, wie brüchig die Prämisse des BGH ist, unter Berufung auf § 252 StGB – trotz Fehlens einer tauglichen Vortat – das Fortbestehen der Vortatinnentendenz in der Beendigungsphase zu verlangen, anstatt § 252 StGB ausschließlich als Nachtat des Diebstahls bzw. des Raubes zu behandeln und die Problematik der Qualifikationsverwirklichung bei § 255 StGB unabhängig von § 252 StGB zu erörtern. 2. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Aussage des Senats, die Raubdelikte seien „geprägt durch die finale Verknüpfung von Gewalt und rechtswidriger Vermögensverfügung“14; hierbei dürfte es sich in doppelter Hinsicht um einen lapsus linguae handeln. Nicht zu erwarten steht trotz der Verwendung des Begriffs „Vermögensverfügung“, dass der BGH zu § 255 StGB künftig das von Teilen der Literatur15 aufgestellte Erfordernis der Vermögensverfügung als Abgrenzungskriterium zu § 249 StGB adaptieren wird; also geht es bei der „Vermögensverfügung“, von welcher der Senat spricht, offensichtlich um das vom Gesetz als „Handlung, Duldung oder Unterlassung“ umschriebene Opferverhalten. Ungenau formuliert hat der Senat auch insofern, als bei der vorliegend einschlägigen räuberischen Erpressung – anders als beim Raub – die Raubhandlung des Täters und das Opferverhalten nicht nur durch einen subjektiven Finalzusammenhang, sondern durch einen objektiven Kausalzusammenhang verknüpft sein müssen.16 Eine bloße subjektiv-finale Verknüpfung, die Bezugspunkt des Merkmals „bei der Tat“ i.S.d. § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB sein muss, reicht also nicht aus. Die Bemerkung des Senats ist, entkleidet man sie ihrer ungenauen Formulierung, jedoch insofern interessant, als sie – gemessen an der Prämisse des Senats, dass die Qualifikationsverwirklichung in der Beendigungsphase der §§ 249, 255 13 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8. BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8. 15 Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 253 Rn. 8 f.; Sander, in: Joecks/ Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, Bd. 3, § 253 Rn. 13 ff., beide m.w.N. auch zur Gegenansicht der Rechtsprechung. 16 Vgl. die Nachweise bei Eser (Fn. 15), § 253 Rn. 7; Kindhäuser, in: ders./Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 253 Rn. 31 m. Fn. 41. 14 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 378 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 Dehne-Niemann _____________________________________________________________________________________ StGB überhaupt möglich ist17 – gleichsam zu viel beweist: Bezieht sich das Merkmal „bei der Tat“, wie der Senat strafrahmenorientiert und teleologisch zutreffend schlussfolgert,18 auf „eben diese Verknüpfung“ (scil. die Verknüpfung der Gewaltanwendung mit der Erzwingung der Wegnahme [§ 249 StGB] oder mit dem abgenötigten Opferverhalten [§ 255 StGB], J.D.-N.), so könnte das Qualifikationsmerkmal der schweren körperlichen Misshandlung i.S.d. § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB stets nur bei der eigentlichen Tathandlung, der Gewaltanwendung vorliegen, damit nicht nach Gewahrsamserlangung und somit schon per definitionem nicht im Zeitpunkt zwischen Vollendung und Beendigung erfüllt werden. Denn einen (objektiven) Kausalzusammenhang zwischen Gewaltanwendung und schädigendem Opferverhalten kann es nur dort geben, wo das schädigende Opferverhalten zum Zeitpunkt der Gewaltanwendung noch nicht vorgenommen worden ist – und dass das schädigende Opferverhalten schon vorgenommen wurde, ist Vollendungsvoraussetzung des § 255 StGB. Ohne es ausdrücklich zu sagen, hat der 5. Strafsenat des BGH, wie er in einer früheren Entscheidung zu § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB schon angedeutet hatte,19 jedenfalls für den Bereich der Raubdelikte in der Sache von der bisherigen Rechtsprechung zur Qualifikationsverwirklichung in der Beendigungsphase Abschied genommen. Ass. iur. Jan Dehne-Niemann, Karlsruhe 17 BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7. Vgl. BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8 f. 19 BGHSt 52, 376 (377 f.) = NJW 2008, 3651 f. = NStZ 2009, 36 = StV 2008, 641 m. Anm. Deiters, ZJS 2008, 672 – zur Beendigungsphase nach § 252 StGB. 18 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 379 Fahl OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08 _____________________________________________________________________________________ E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng Zur Verjährungsfalle im Bußgeldverfahren Hat ein Rechtsanwalt gegenüber der Verwaltungsbehörde im Bußgeldverfahren eine als „außergerichtlich“ bezeichnete Vollmacht vorgelegt (sog. „Verjährungsfalle“), so ist die Zustellung des Bußgeldbescheids an ihn dennoch als wirksam anzusehen (§ 51 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 OWiG), wenn er gleichzeitig oder im Folgenden eine typische Verteidigertätigkeit in Bußgeldsachen ausübt. (Amtlicher Leitsatz) OWiG § 51 Abs. 3 OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08* Anmerkung: Die Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 1.7.2008 ist kurz nach jener des OLG Düsseldorf vom 17.4.2008 ergangen, auf die Bezug genommen wird und die ich bereits zustimmend kommentiert habe.1 Da sie im Ergebnis auf dasselbe hinauskommt, möchte ich auch ihr zustimmen und lediglich auf Folgendes hinweisen: Anders als im Fall des OLG Düsseldorf hat der Verteidiger hier ohne weitere Vollmachtvorlage „im Namen des Betroffenen“ Einspruch eingelegt. Erst ca. einen Monat später, nachdem er bereits eine Verschiebung des Hauptverhandlungsbeginns und die Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum Erscheinen beantragt hatte, hat er eine weitere Vollmacht vorgelegt. In dem Fall, den das OLG Düsseldorf zu entscheiden hatte, hatte der Verteidiger sich zusammen mit der Einspruchseinlegung zum Verteidiger bestellt und später eine schriftliche Vollmacht – mit demselben Datum wie die Einspruchsschrift – nachgereicht. In der Sache ergibt sich daraus jedoch kein Unterschied. Es kommt nämlich nicht darauf an, aufgrund welcher Vollmacht gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt wurde und ob diese als „außergerichtliche“ oder als „Verteidigervollmacht“ bezeichnet wurde, sondern darauf, ob nicht schon die in beiden Fällen zunächst vorgelegte Vollmacht entgegen ihrer Bezeichnung als außergerichtliche Vollmacht in Wahrheit eine Verteidigervollmacht war. In beiden Fällen hatten die Verteidiger, bevor sie Einspruch einlegten, bereits Akteneinsicht in die Ermittlungsakte (bestehend aus Messprotokoll, Originalbeweisfotos, Eichschein, Beschilderungsplan usw.) genommen. Bereits das stellt eine „typische Verteidigertätigkeit“ in Bußgeldsachen dar.2 Darauf, ob die Vollmacht, aufgrund derer sie beantragt wurde, bloß als „außergerichtliche“ bezeichnet wurde, kommt es wiederum nicht an, wenn das, wozu sie ermächtigt, materielle Verteidigertätigkeit ist. Denn die Bevollmächtigung als Verteidiger bedarf keiner bestimmten Form, sie * NStZ 2009, 295. 1 OLG Düsseldorf JR 2008, 522 m. zust. Anm. Fahl. 2 So OLG Karlsruhe NStZ 2009, 295 (296); ebenso schon OLG Düsseldorf JR 2008, 522. kann deshalb auch aus den äußeren Umständen geschlossen werden.3 In diesem Zusammenhang hat bereits das OLG Dresden ausgeführt: „Es erscheint dem Senat ausgeschlossen, dass ein Betroffener, dem aufgrund eines ihm vorgeworfenen Verkehrsverstoßes, bei dem Dritte nicht beteiligt sind und der mit der Verhängung eines Regelfahrverbotes rechnen muss, sich in dem Verfahren vor der Bußgeldbehörde eines Rechtsanwalts lediglich zur Klärung zivilrechtlicher Fragen und nicht als Beistand i.S.d. § 137 Abs. 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG bedient. Vielmehr sollte die gewählte Form der Vollmachtsurkunde erkennbar dazu dienen, eine förmliche Zustellung des Bußgeldbescheides an den Betroffenen zu vermeiden, um anschließend zu einem geeigneten Zeitpunkt die Stellung als Verteidiger zu bestreiten und sich auf eine vermeintlich eingetretene Verfolgungsverjährung zu berufen.“4 Damit ist die sog. Verjährungsfalle beschrieben, die sich offenbar großer Beliebtheit erfreut und als zu einer „de lege artis“ geführten Verteidigung in Straßenverkehrssachen gehörend in Kursen und auf Fortbildungsveranstaltungen gelehrt und weitergegeben wird. Angefangen hat alles mit der Erteilung einer „Verteidigervollmacht“ ohne gleichzeitige „Zustellungsvollmacht“. Da heißt es in der Vollmachtsurkunde z.B. „Eine Ermächtigung zum Empfang von Zustellungen gem. § 51 Abs. 3 OWiG besteht nicht, die insoweit gesetzlich vermutete Ermächtigung wird entzogen“5 oder die Vollmacht enthält – in Nr. 10 – den Hinweis „Keine Zustellungsvollmacht in Straf- und Bußgeldsachen“6 oder in der linken oberen Ecke den kleingedruckten Zusatz: „Der beauftragte Rechtsanwalt ist nicht zustellungsbevollmächtigt“.7 Dieser Praxis hat die Rspr. einen Riegel vorgeschoben, indem sie entschied, dass § 51 Abs. 3 OWiG – wie § 145a Abs. 1 StPO – eine gesetzliche, „im Interesse der Rechtssicherheit“ unbeschränkbare Zustellungsvollmacht enthalte.8 3 Vgl. BGH NStZ-RR 1998, 18; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl. 2008, Vor § 137 Rn. 9; vgl. auch Fahl, JR 2008, 524 (526) mit der Parallele zum Beschuldigtenbegriff. 4 OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63. 5 OLG Dresden NStZ-RR 2005, 244. 6 OLG Jena NJW 2001, 3204 = StraFo 2001, 413 = VRS 101, 123. 7 OLG Brandenburg ZfSch 2005, 571 m. Bespr. Samimi, ZfSch 2006, 308 – später legte der Rechtsanwalt eine von dem Betroffenen unterzeichnete Vollmachtsurkunde vor, die sich von der ersten lediglich dadurch unterschied, dass sie den die Zustellung ausschließenden Zusatz und das Wort „außergerichtliche“ nicht enthielt. 8 OLG Jena NJW 2001, 3204 – unter Hinweis auf Müller, in: von Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Lieferung, Stand: August 1988, § 145a Rn. 7; s. ferner OLG Köln NZV 2004, 595 = NJW 2004, 3196; OLG Rostock VRS 107, 442; OLG Dresden NStZ-RR 2005, 244; Meyer-Goßner (Fn. 3), § 145a Rn. 2; Seitz, in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar, _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 380 Fahl OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08 _____________________________________________________________________________________ Daher kann die Verteidigervollmacht weder von vornherein in diesem Sinne beschränkt werden noch kann die Zustellungsvollmacht „unter Aufrechterhaltung der Verteidigervollmacht im Übrigen“ nachträglich entzogen werden. Das alles dient nur dazu, die Zustellung an den Verteidiger zu provozieren, die nachher als fehlerhaft gerügt werden soll. Zuweilen wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Verwaltungsbehörde den Bußgeldbescheid an den Verteidiger und nicht (auch) an den Betroffenen – was ihr freisteht und ihr in Zweifelsfällen zuweilen geraten wird9 – zustellt, noch durch Begleitschreiben erhöht, in denen es etwa heißt, dass man „den Betroffenen anwaltlich vertrete“10 oder „mit seiner anwaltlichen Beratung und Vertretung beauftragt“ sei11 und darum bitte, „jede weitere Korrespondenz in dieser Angelegenheit ausschließlich über seine Kanzlei zu führen“.12 In seiner Entscheidung vom 17.4.2008 führte das OLG Düsseldorf13 aus, für die gewählte Vorgehensweise gebe es nur einen plausiblen Grund – durch die Vorlage der außergerichtlichen Vollmacht solle die Verwaltungsbehörde dazu veranlasst werden, den Bußgeldbescheid nicht an den Betroffenen, sondern an den von ihm beauftragten Rechtsanwalt zuzustellen, um anschließend in dem gerichtlichen Bußgeldverfahren dessen damalige Stellung als Verteidiger, die Wirksamkeit der Zustellung und damit die Verjährungsunterbrechung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG in Abrede zu stellen – und setzte hinzu, ob die Errichtung einer solchen Verjährungsfalle „als rechtsmissbräuchlich oder noch als zulässiges Verteidigungsverhalten anzusehen“ sei, bedürfe vorliegend keiner Entscheidung. Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, ein Recht zu benennen, das der Verteidiger zweckfremd eingesetzt, also „missbraucht“ haben könnte. Auf die „Verjährungsfalle“ trifft vielmehr die Figur der „Gesetzesumgehung“ zu:14 Darunter versteht man im juristischen Sprachgebrauch die Vermeidung einer unerwünschten oder Herbeiführung einer erwünschten Norm,15 wobei das Herbeiführen der einen Norm (§ 31 OWiG) und das Vermeiden der anderen (§ 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG) gegen den „Sinn und Zweck“ des Gesetzes verstoßen – die Frage der Gesetzesumgehung ist damit eine solche nach der „Auslegung“ der vermiedenen bzw. herbeigeführten Norm16 und die richtige Antwort auf ein solches Verhalten liegt nicht in dem Entzug oder in der Beschränkung des missbrauchten Rechts auf eine den Zwecken, zu denen es eingeräumt wurde, entsprechende Ausübung wie sonst beim Rechtsmissbrauch, sondern in der Auslegung, und zwar des § 51 Abs. 3 OWiG,17 wie es das OLG Karlsruhe in der hier zu besprechenden Entscheidung und vor ihm das OLG Düsseldorf getan haben. Das heißt aber nicht, dass ein solches Verteidigerverhalten zu einer „de lege artis“ geführten Verteidigung gehört, vielmehr ist es mit der Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege18 unvereinbar, „arglistig oder vorsätzlich prozessuale Fallen aufzustellen“.19 Wenn ein Rechtsanwalt gleichwohl vortrage, nicht Verteidiger gewesen und zu der Zeit nur zivilrechtlich bevollmächtigt gewesen zu sein, so ist das, wie es das OLG Dresden ausdrückte,20 unzutreffend und augenscheinlich nur „der Rechtsprechung vereinzelter Oberlandesgerichte geschuldet“. Damit sind die Entscheidungen des OLG Hamm vom 27.11.200321, des OLG Brandenburg vom 23.5.200522 und des KG Berlin vom 9.12.200523 gemeint, die § 51 Abs. 3 S. 1 OWiG jeweils mit der Begründung unangewendet gelassen haben, der dortigen „außergerichtlichen Vollmacht“ mit nahezu identischem Inhalt wie hier sei die Mandatierung des Rechtsanwalts als Verteidiger nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen. Zur Vermeidung der Vorlage nach § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, § 121 Abs. 2 GVG verweist das OLG Karlsruhe auf die „Gesamtschau der im Einzelfall vorliegenden Tatsachen“, die hier „eindeutig“ auf die Bevollmächtigung als Verteidiger schließen ließen. Schon das OLG Dresden sah eine solche Vorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG nicht veranlasst, weil die Verteidigervollmacht in den abweichenden Entscheidungen nachträglich eingeschränkt worden sei,24 bzw. weil die Vollmachten sich in ihrem Wortlaut unterschieden.25 Darin spiegelt sich der schon bei den Strafsenaten des Bundesgerichthofes oft beschriebene „horror pleni“ auch bei den Oberlandesgerichten wider, den man nicht nachvollziehen, sondern zumindest aus Sicht der Prozessrechtswissenschaft nur bedauern kann.26 Gerade bei – im weitesten Sinne – „Rechtsmissbrauchsfragen“ sollte der BGH nicht auf Dauer heraus gehalten werden. Viele Entscheidungen des BGH aus der jüngsten Vergangenheit belegen, dass das eigentlich zur Entscheidung über den Rechtsmissbrauch im Strafprozess berufene oberste deutsche Fachgericht seiner Funktion und 17 Fahl, JR 2008, 524 (526). Zur viel bekämpften „Organtheorie“ statt vieler Beulke, Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 150. 19 So schon Erker, Das Beanstandungsrecht gemäß § 238 Abs. 2 StPO, 1988, S. 170. 20 OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63. 21 DAR 2004, 105 = VRS 106, 126 = StraFo 2004, 96. 22 ZfSch 2005, 571. 23 VRS 112, 475. 24 OLG Dresden NStZ-RR 2005, 244. 25 OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63. Das OLG Düsseldorf, JR 2008, 522 (523), benutzt Erwägungen zu Heilbarkeit von Verstößen gegen § 51 OWiG, um die Vorlagepflicht zu verneinen, vgl. dazu Fahl, JR 2008, 524 (527). 26 Fahl, JR 2008, 524 (527); vgl. schon Korte, NStZ 2002, 583 (586). 18 15. Aufl. 2009, § 51 Rn. 44a; Fahl, Rechtsmissbrauch im Strafprozess, 2004, S. 650, Fn. 4551. 9 Samimi, ZfSch 2006, 308 (309). 10 KG Berlin VRS 112, 475. 11 OLG Brandenburg ZfSch 2005, 571. 12 KG Berlin VRS 112, 475 (476). 13 OLG Düsseldorf JR 2008, 522 (523). 14 An anderer Stelle spricht OLG Düsseldorf JR 2008, 522 (523), richtigerweise von einem Mittel, „die verjährungsunterbrechende Wirkung der Zustellung zu umgehen“ – zur Umgehungen von Verjährungsvorschriften durch StA und Gericht s. Fahl (Fn. 8), S. 226 f. 15 Fahl (Fn. 8), S. 18. 16 So schon Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, 1967, S. 58. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 381 Fahl OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08 _____________________________________________________________________________________ der Verantwortung für die Eindämmung des in den letzten Jahren immer weiter um sich greifenden Missbrauchs gerecht geworden ist.27 Prof. Dr. Christian Fahl, Rostock 27 Vgl. etwa BGHSt 51, 88 ff. m. zust. Anm. Fahl JR 2007, 34. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 382 Gropp Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, Mohr Siebeck Verlag, Tübingen 2008, XII, 412 S., € 94,Die von Engländer verfasste Monographie wurde im Wintersemester 2007/2008 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Habilitationsschrift angenommen. Betreut wurde die Arbeit von Michael Hettinger, das Zweitgutachten verfasste Volker Erb. I. Ziel der Arbeit ist es, „eine Nothilfekonzeption zu entwickeln, die die von § 32 StGB eingeräumte Befugnis zur Verteidigung eines anderen zu begründen vermag, zugleich deren Grenzen bestimmt, das bestehende System abgestufter Notrechte plausibel macht, sowie die Unterschiede zum staatlichen Gefahrenabwehrrecht auf eine neue Weise erklärt und so eine Forschungslücke im Allgemeinen Teil des Strafrechts schließt.“1 Nach diesem „Programm“ werden im Laufe der Darstellung die Grund- und Grenzfragen der Nothilfe aufbauend auf der Darlegung der Grund- und Grenzfragen der Notwehr entwickelt: Die ratio legis (§ 2) und die Akzessorietät der Nothilfe (§ 3), Nothilfe und staatliche Gefahrenabwehr (§ 4), Nothilfelage (§ 5) und Nothilfehandlung (§ 6) sowie Einschränkungen der Nothilfe (§ 7). Mit einer gelungenen Zusammenfassung der Ergebnisse endet die Arbeit (§ 8). Im Gegensatz zu der sonst üblichen allenfalls „stiefmütterlichen“ Behandlung der Nothilfe am Rande der Notwehr2 stehen somit Probleme im Vordergrund, die sich speziell auf die Nothilfe beziehen: u.a. das Verhältnis zwischen Angegriffenem und Nothelfer in Bezug auf die Bereitschaft, auf den Angriff überhaupt zu antworten, die Frage des mildesten Mittels, wenn es insoweit Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten des Angegriffenen und des Nothelfers gibt, sowie schließlich Fragen der „Rettungsfolter“, wobei hier eine zusätzliche „Großbaustelle“ eröffnet wird, wenn der Staat als Nothelfer auf der Bühne erscheint. Engländer will seine Arbeit als strafrechtsdogmatische und rechtsphilosophische zugleich verstanden wissen: Die auf der Grundlage von 32 StGB als lex lata erarbeiteten dogmatischen Aussagen werden auf ihre „Richtigkeit“ hin philosophisch überprüft. II. Breiten Raum nimmt zunächst zu Recht die Grundfrage ein, wie man die durch § 32 StGB eingeräumte Befugnis zur umfassenden Abwehr von menschlichen Angriffen rechtsdogmatisch und philosophisch erklären könnte. Engländer schließt es hier zunächst nicht aus, als möglichen Zweck von Notwehr und Nothilfe jedenfalls auch die Verteidigung der empirischen Geltung der Rechtsordnung zu verstehen. Nach der von ihm letztlich favorisierten Konzeption erhält die Notwehr ihr Gepräge jedoch durch die Verteidigung der Individualgüter, d.h. der gegenüber dem Angreifer bestehen- den subjektiven Rechte des Angegriffenen.3 Engländer stützt sich insoweit auf Überlegungen von Heiko Hartmut Lesch, Klaus Adomeit und Ulfrid Neumann, räumt allerdings ein, dass sich das Abstellen auf die Verteidigung der Individualrechtsgüter bereits im 19. Jahrhundert bei Hugo Hälschner und schließlich sogar bei Albert Friedrich Berner finden lässt. Hälschners bis heute gerne zitierte Aussage, dass „das Recht dem […] Unrecht nicht zu weichen“ braucht, sei in diesem individuellen Sinne zu verstehen: Recht nicht nur als Gesamtrechtsordnung, sondern spezifisch als subjektives Recht des Angegriffenen gegenüber dem Angreifer. Das Recht zur Verteidigung in § 32 StGB legitimiert sich damit letztlich aus dem Recht zur Selbsterhaltung.4 Damit ist der aristotelische Fixpunkt, der Kern des Notwehr- und daraus hervorgehend des Nothilfebegriffs, gefunden. Die darauf beruhende Definition von Notwehr, die gleichzeitig auch die Ausgangsbasis aller weiteren Überlegungen zur Nothilfe bietet, lautet schließlich: „Zwangsbefugnis zur Durchsetzung eines subjektiv-rechtlich gewährleisteten Güterschutzes für den Fall der aktuellen Missachtung der güterschützenden subjektiven Rechte durch einen Angreifer, […]“.5 Nicht zu unterschätzen ist im Rahmen dieser Definition der Begriff der „Missachtung“, denn er wird im Bereich der Auslegung des § 32 eine nicht unerhebliche Rolle spielen. III. Dieser Notwehrbegriff – Durchsetzung eines subjektiv-rechtlich gewährleisteten Güterschutzes (Verteidigerseite) gegen die Missachtung der güterschützenden subjektiven Rechte (Angreiferseite) – lässt Rückschlüsse auf spezielle Fragestellungen aus dem Bereich der Nothilfe zu: 1. Hinsichtlich der Akzessorietät der Nothilfe (§ 3), d.h. der Beachtlichkeit eines entgegenstehenden Willens des Angegriffenen, lässt er z.B. die Unterscheidung zwischen einem „Verzichtswillen“ des Angegriffenen aus Sorge um die Person des Nothelfers und einem „Verbotswillen“, etwa im Falle der Absicht einer eigenhändigen Verteidigung bzw. der Furcht vor einer Eskalation des Geschehens oder vor dem Fehlgehen der Verteidigungshandlung, zu. Im Falle des Verzichtswillens besteht das Recht zur Nothilfe, im Falle des Verbotswillens hingegen nicht.6 2. Eine erste Bewährungsprobe muss die individualrechtliche Nothilfekonzeption bei der Erörterung des Verhältnisses von Nothilfe und staatlicher Gefahrenabwehr (§ 4) bestehen. Hier geht Engländer im Grundsatz zwar von einer Subsidiarität der privaten Nothilfe gegenüber der staatlichen Gefahrenabwehr aus. Jedoch hindere eine präsente staatliche Nothilfe die Verteidigung durch eine private nicht, wenn der Hoheitsträger zwar präsent ist, aber nicht handeln darf, nicht handeln will oder „lediglich eine Maßgabe ergreift, die gegenüber der konkret in Frage stehenden privaten Verteidigungshandlung ein höheres Fehlschlagsrisiko aufweist“.7 Diese subsidiäre private Abwehrmöglichkeit ist deshalb von großer Bedeutung, weil staatliches Handeln auch zum Zwecke der Nothilfe 3 1 S. 6. 2 Vgl. z.B. Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 9; Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 69. S. 67 f. S. 78. 5 S. 98. 6 Vgl. S. 102, 373. 7 S. 176. 4 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 383 Gropp Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe _____________________________________________________________________________________ wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur auf der Grundlage einer verfassungskonformen und damit an Verhältnismäßigkeitsgrundsätze gebundenen Befugnisnorm zulässig ist.8 Die Möglichkeiten der staatlichen Gefahrenabwehr bleiben folglich hinter denen der privaten Nothilfe zurück. Erwähnenswert ist Engländers Begründung für die eingeschränkte Reichweite der staatlichen Abwehrbefugnisse: Der Staat sehe um bestimmter Ideale willen von einer Verteidigung des Angegriffenen um jeden Preis ab, schreibe seinen Bürgern für ihr Handeln die Berücksichtigung dieser Ideale jedoch nicht vor.9 Fraglich ist, ob diese Begründung zu praktikablen Ergebnissen führt. Denn eine staatliche Nothilfe unter Missachtung jener Ideale soll – unter Rückgriff auf Hans-Ludwig Günthers Lehre vom „Strafunrechtsausschluss“10 – dazu führen, dass seitens des Hoheitsträgers kein strafrechtlicher Unrechtswert gegeben ist, sondern lediglich „der Unrechtsgehalt einer Missachtung der für das Handeln staatlicher Organe geltenden Prinzipien“.11 Damit stellt sich sofort die Frage, ob solch eine idealwidrige staatliche Nothilfe ihrerseits ein „rechtswidriger Angriff“ im Sinne von § 32 ist. Engländer müsste dies wohl verneinen und der Angreifer müsste eine derartige Staatsnothilfe dulden. In der Tatsituation bleibt dann freilich von der beschworenen Bindung der staatlichen Nothilfe an Ideale nicht mehr viel übrig. 3. Auf die soeben angesprochene Rechtswidrigkeit des Angriffs in § 32 wirkt sich die individualrechtliche Nothilfekonzeption Engländers unmittelbar aus: Denn wenn Nothilfe auf der Angreiferseite die „Missachtung der güterschützenden subjektiven Rechte durch den Angreifer“12 voraussetzt, dann folgt daraus, dass eine Nothilfelage nicht gegeben ist, wenn es an jener Missachtung fehlt. Dies ist der Fall, wenn Personen angreifen, die zu jener Missachtung überhaupt nicht fähig sind. Engländer zählt hierzu Kinder und Geisteskranke, aber auch Angreifer, die sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befinden. Jene Personen greifen zwar an, ihr Angriff ist aber nicht rechtswidrig. Unter der Voraussetzung, dass das Unrecht des Angreifers auch personales Unrecht sein muss, kann man dem uneingeschränkt zustimmen.13 Nach Engländers Konzeption zur staatlichen Gefahrenabwehr müsste an dieser Stelle auch der Hoheitsträger genannt werden, der unter Missachtung der für das Handeln staatlicher Organe geltenden Ideale aktiv wird, denn auch er handelt nicht rechtswidrig. Wie gegenüber Geisteskranken, Kindern und sonst Schuldunfähigen bzw. im unvermeidbaren Verbotsirrtum Handelnden müsste damit aber auch gegen- 8 Vgl. u.a. S. 188. S. 210. 10 Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß. Studien zur Rechtswidrigkeit als Straftatmerkmal und zur Funktion der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, 1983. 11 S. 232. 12 S. 98. 13 Vgl. Gropp (Fn. 2), § 6 Rn. 73. 9 über dem staatlichen Hoheitsträger zumindest unter Notstandsgesichtspunkten eine Abwehr möglich sein. 4. Eine Nothilfelage verneint Engländer im Falle des Einverständnisses und der Einwilligung des Trägers subjektiver Rechte. In dem von Engländer gebildeten Beispiel ist die Großmutter G mit der Ansichnahme eines Colliers durch ihren in einer wirtschaftlichen Notlage befindlichen Enkel E einverstanden.14 Zwar begeht E in Folge der irrigen Annahme einer Wegnahme in Zueignungsabsicht immerhin einen versuchten Diebstahl, jedoch ist eine Abwehr dieses untauglichen Angriffs nicht erforderlich, weil die Tat ohnehin nicht vollendet werden kann. 5. Am meisten beeindrucken und überzeugen die Ausführungen Engländers zur Frage von Nothilfe und Folterverbot – zur Zulässigkeit der Aussageerzwingung.15 Während Engländer eine Aussageerzwingung durch Hoheitsträger mangels entsprechender gefahrenabwehrrechtlicher Regelungen ablehnt16, gibt das auf dem Selbsterhaltungstrieb aufbauende Konzept von Notwehr und Nothilfe die Möglichkeit, eine Rettungsfolter durch Private im Wege der Nothilfe zu konstruieren. Engländer bildet das folgende Beispiel: „Bordellbesitzer B verabreicht seinem Konkurrenten K ein Gift, das innerhalb der nächsten halben Stunde tödlich wirken wird, wenn K nicht zuvor ein Gegengift einnimmt. Um das Leid des K noch zu steigern, teilt B ihm diesen Sachverhalt auch mit. Das Gegengift sei sogar ganz in der Nähe versteckt, doch werde K es kaum rechtzeitig finden. Nach kurzer Zeit ist K zu geschwächt, um noch etwas zu unternehmen. Sein Freund F, der die Situation zufällig mitbekommen hat, fordert B nun auf, ihm den Aufbewahrungsort des Gegengiftes zu nennen. B weigert sich. Auch die darauf folgende Androhung von Gewalt lässt ihn kalt. Selbst ein schmerzhaftes Zupacken bewirkt nichts. Erst als F dem B den Arm bricht, verrät ihm dieser, wo er das Gegengift versteckt hat.“17 Ob es sich bei jener Giftgabe des B an den K wirklich um Folter handelt, mag trotz des immer konturloseren Folterbegriffs bezweifelt werden. Der Fall lässt sich jedoch relativ „wasserdicht“ zum Folter-Fall abwandeln, wenn man annimmt, dass das Gift große Schmerzen verursacht und B dem K das Gift verabreicht habe, um aus ihm ein Geschäftsgeheimnis herauszupressen. Hier wird man Engländer zustimmen müssen, dass es jedenfalls K, falls er noch die Kraft dazu hat, erlaubt sein müsste, den B seinerseits so lange zu quälen, bis B dem K sagt, wo sich das Gegengift befindet. In diesem Falle sozial-ethische Einschränkungen des Notwehrrechts geltend zu machen, die der K zum Schutz der Menschenwürde des B beachten müsste, wäre absurd. Engländer liefert eine komfortable Begründung dafür: Versteht man Notwehr als ein Mittel zur Selbsterhaltung, dann dürfen Angriffe mittels Folter durch den Gefolterten wiederum durch Folter abgewehrt werden. Wollte man dem Angegriffenen eine die Menschenwürde verletzen14 Vgl. S. 275. Vgl. S. 331 ff. 16 S. 349 ff. 17 S. 333. 15 _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 384 Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe Gropp _____________________________________________________________________________________ de Abwehr versagen, dann müsste der Angreifer – mit den Worten Engländers – „seinen Angriff lediglich so gestalten, dass das Opfer ihn nicht ohne eine Missachtung seiner Würde abzuwehren vermag.“18 Der Übertragung jener Befugnisse zur Selbstverteidigung auf die Nothilfebefugnis19 wird man zustimmen können. Auf eine Aussageerzwingung durch Hoheitsträger lassen sich diese Überlegungen freilich nicht übertragen.20 IV. Die Arbeit Engländers ist in einer sehr gefälligen und exakten Sprache abgefasst. Deshalb werden es die Freunde der lateinischen Sprache Engländer zumindest verzeihen, wenn er ausführt, es gebe „vier Alternativen“ des Vorliegens eines der Nothilfe entgegenstehenden Willens.21 Eines stabilen Magens bedarf der Leser auch angesichts der Freude Engländers an der Schöpfung neuer Wortungetüme, mit denen die zu erörternden Auffassungen zu Beginn eines jeden Abschnitts „etikettiert“ werden. Im Kapitel über die Reichweite der Abwehrbefugnisse z.B. muss sich der Leser in diesem Sinne mit Begriffen wie „proportionalitätsorientierte Harmonisierungslösung“ oder „strafrechtliche Harmonisierungslösung“ oder „Differenzierungslösung“ anfreunden. Oder wie wäre es mit dem „Normtexteinwand“, dem „Schutzlückeneinwand“, dem „Kohärenzeinwand“ und dem „Unübersichtlichkeitseinwand“ in Bezug auf das Erfordernis der prinzipiellen Schuldfähigkeit des Angreifers als Voraussetzung für den rechtswidrigen Angriff?22 Dennoch muss man zugeben, dass auch diese Wortschöpfungen immerhin hilfreich sind, um innerhalb der betreffenden Abschnitte die Übersicht nicht zu verlieren. Danach kann man sie allerdings wieder vergessen. Zu erwähnen wäre noch, dass die Arbeit über ein vorzügliches Sachverzeichnis sowie über ein ausführliches Personenverzeichnis verfügt. Freilich sollten sich die dort genannten Persönlichkeiten nicht allzu früh freuen. Denn die allermeisten von ihnen sehen ihre Gedankengebäude angesichts der Treffsicherheit Engländers alsbald in Schutt und Asche gelegt. Alles in allem scheint mir die Habilitationsschrift Engländers eine gelungene Monographie, an der Spezialisten zum Thema Nothilfe nicht vorbei gehen können und Autoren von Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des StGB nicht vorbei gehen dürfen! Prof. Dr. Walter Gropp, Gießen 18 S. 341. S. 342. 20 S. 349. 21 S. 106. 22 Vgl. S. 260 f. 19 _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 385 Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts Duttge _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Sabit Osman Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts (Münchener Universitätsschriften, Bd. 221), Verlag C.H. Beck, München 2008, 248 S., € 44,90 Der Blick auf die jüngere Entwicklung einer benachbarten Rechtsordnung verspricht interessante Auf- und Rückschlüsse zugleich über den aktuellen Stand, mögliche Vorzüge und bestehende Defizite innerhalb des eigenen Rechtskreises. Dies gilt um so mehr, wenn es sich um eine so sorgfältige und reflektierte Untersuchung wie die vorliegende handelt, die es sich in profunder Kenntnis der deutschen Strafrechtswissenschaft zur Aufgabe gemacht hat, die Strukturen und Begründungstopoi des türkischen Strafrechts samt seiner wissenschaftlichen Bearbeitung kritisch zu durchleuchten. Dieser Fokus der vergleichenden Betrachtung drängt sich nicht nur der traditionell engen Verbindung zwischen deutscher und türkischer Strafrechtslehre wegen (neuerdings zunehmend auch auf das Medizinrecht übergreifend) auf, sondern insbesondere auch aufgrund des Inkrafttretens eines vollständig reformierten türkischen Strafgesetzbuchs am 1.6.2005, das „substantielle, weiterbringende Neuerungen zu bieten hat und die Fortschritte der modernen Strafrechtswissenschaft dem türkischen Strafrecht auch in Gesetzesform nahebringt“ (S. 15). Wenn hiermit nicht weniger als der Beginn einer „neuen Ära im türkischen Strafrechtssystem“ (S. 14) gesehen wird, so macht sehr neugierig, inwieweit das Schuldprinzip – an den „neueren Entwicklungen im deutschen Strafrecht“ gespiegelt und unter punktueller Einbeziehung auch der strafgesetzlichen Regelungen weiterer europäischer Länder (S. 2) – in formeller wie materieller Hinsicht tatsächlich seinen Niederschlag gefunden hat. Dass der Autor zu Beginn seiner Studie, eine unter der Betreuung von Roxin entstandene Münchener Dissertation, die Behandlung des materiellen Schuldbegriffs noch von sich weist (S. 3), ist – am Inhalt seines Werkes gemessen – eher vorsichtige Bescheidenheit aus Sorge vor übertriebenen Erwartungen; in der Sache verweist er zu Recht zustimmend auf eine Bemerkung Arthur Kaufmanns, wonach keine Diskussion über das Schuldprinzip auf eine inhaltliche Bestimmung des Schuldbegriffs verzichten kann.1 Wenig überraschend macht er sich hierzu die Konzeption seines akademischen Lehrers zu Eigen, wonach im unrechten Handeln trotz „normativer Ansprechbarkeit“ die Essenz dessen liegen soll, was dem Täter von Rechts wegen vorgeworfen wird (S. 120 ff., 140);2 dass Isfen die Überzeugungskraft dieser Lehre nicht nur innerhalb der strafrechtlichen Binnenstruktur, sondern auch in eingehender Auseinandersetzung mit dem Grundproblem der „Willensfreiheit“ und den aktuellen Forderungen der modernen Neurowissenschaften zu erweisen sucht (S. 92 ff., 108 ff.), macht die Arbeit auch für jene wertvoll, die sich jenseits spezifisch rechtsvergleichender Interessen für die 1 Kaufmann, Jura 1986, 225 (232). Vgl. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, § 19 Rn 36 ff. 2 Grundlagen und zentralen Fragen des heutigen Strafrechts interessieren: Wenn der deutschen Strafrechtswissenschaft der Gegenwart insoweit ein „Defizit an interdisziplinärem Austausch mit der Philosophie“ (S. 135) bescheinigt wird, ist bei der nicht weniger kritischen Haltung des Autors gegenüber der türkischen Strafrechtslehre (z.B. S. 92: „erschöpft sich […] in vagen Grundsatzbekenntnissen“) ebenso bemerkens- wie bedenkenswert. Das mit dem vorliegenden Werk verbundene Anliegen, zum ersten Mal eine zusammenhängende, fundierte Darstellung des Schuldprinzips im türkischen Strafrecht vorzulegen (S. 3), ist dem Autor auf beeindruckende Weise gelungen. Ein Abriss über die „geschichtliche Entwicklung des türkischen Strafrechts“ und zu den Vorläufern des geltenden Strafgesetzbuchs (S. 5 ff.) eröffnet die Untersuchung und illustriert die lange vorherrschende autoritäre Grundhaltung, die etwa im Streit um den Grundsatz „error iuris nocet“ bzw. strafrechtsdogmatisch um Schuld- oder Vorsatztheorie und das Verständnis der „Vermeidbarkeit“ (zur Begründung des potentiellen Unrechtsbewusstseins) bis zur Gegenwart fortlebt (S. 150 ff.). Wenn der Autor hier oder im Kontext des „Koinzidenzprinzips“ (bei rauschbedingter Herbeiführung der Schuldunfähigkeit, vgl. §§ 20, 323a StGB) einen noch immer „von rechtspolitischen Überlegungen geleiteten und generalpräventiv geprägten Erklärungsansatz“ (S. 176 f.) ausmacht, so wird hierdurch sein schon zu Beginn unverhüllt erklärtes und sich durch die gesamte Arbeit hindurch ziehendes Plädoyer für ein grundlegendes „Umdenken“ im türkischen Strafrechtsverständnis (S. 35) unmittelbar fassbar. Die Kritik zielt zugleich strafrechtssystematisch auf den noch immer weithin vertretenen „klassischen Verbrechensbegriff“ (S. 17 ff.) mit seiner „säuberlichen Trennung“ von objektiven (Handlung, Erfolg, Kausalität) und subjektiven Elementen (S. 26 f.), der bekanntlich jedoch die bedeutsame Divergenz schon im Unrecht zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Straftatbegehung verkennt (S. 30). Bemerkenswert findet sich im neuen türkischen StGB ausweislich seiner Regelungen zur Teilnahme (vgl. Art. 40 Abs. 1 tStGB: „limitierte Akzessorietät“) und zum Versuch (vgl. Art. 35 Abs. 1 tStGB) die Ergänzung des Erfolgs- um ein Handlungsunrecht samt seiner subjektiven Dimension bereits anerkannt, so dass die Gesetzeslage hier der strafrechtswissenschaftlichen Entwicklung deutlich voraus ist, statt ihr wie sonst gemeinhin zu beobachten erst zu folgen. Erklären kann dies nur die Vorgeschichte zur jüngsten Strafrechtsreform, infolge derer das türkische StGB „in unverkennbarer Weise die Handschrift von drei jüngeren Strafrechtslehrern“ trägt, „die ihre akademischen Hauptwerke bei ihren Forschungsaufenthalten in Deutschland“ verfasst haben und sich „in erster Linie vom deutschen Strafrecht leiten ließen“ (S. 13). Diese Prägung trifft nicht weniger auf den Autor selbst zu, der die „Personalisierung“ des Handlungsunrechts im Kontext des Fahrlässigkeitsdelikts – einer neueren strafrechtswissenschaftlichen Lehre folgend – mit Recht nur bei konsequenter Individualisierung der unrechtsbegründenden „Pflichtwidrigkeit“ als gegeben ansieht (S. 34 Fn. 107). Zur „äußeren Seite des Schuldprinzips“ folgt Isfen hingegen, ohne die komplexe Thematik zu vertiefen, seinem akademischen Lehrer und fordert – vom derzeitigen Kausali- _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 386 Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts Duttge _____________________________________________________________________________________ tätsverständnis im Sinne der Adäquanztheorie ausgehend (näher S. 35 ff.: „gemischte Adäquanztheorie“) –, „dass die Lehre von der objektiven Zurechnung schnellstmöglich eine breite Ausarbeitung und Akzeptanz in der türkischen Strafrechtswissenschaft und Praxis“ erfahren möge (S. 41). Mit dieser weit reichenden Festlegung wird freilich übergangen, dass sich die „objektive Zurechnungslehre“ insbesondere in ihrem Kernstück des „erlaubten Risikos“ neuerdings wieder vermehrt einer Grundsatzkritik ausgesetzt sieht (dagegen nur die ältere Literatur zitierend: S. 37 Fn. 121, S. 41 Fn. 149). Der detaillierte Bericht über zentrale Regelungen aus dem Allgemeinen Teil des neuen türkischen StGB gibt höchst interessante Einblicke, u.a. auch in die fortbestehenden Unsicherheiten bei der strafrechtsdogmatischen Klassifizierung des Notwehrexzesses (Art. 27 Abs. 2 tStGB [S. 48, 59]) oder der neuen Notstandsregelung (Art. 25 Abs. 2 tStGB), die Isfen trotz des Verhältnismäßigkeitserfordernisses (ohne weitere Begründung) im Sinne eines Entschuldigungsgrundes auffasst (S. 44). Dass der in Art. 26 Abs. 1 tStGB normierte Rechtfertigungsgrund der „Ausübung eines Rechts“ in Zeiten gewachsener Bedeutung der Patientenautonomie den ärztlichen Heileingriff jedenfalls allein, d.h. unabhängig von der in Art. 26 Abs. 2 tStGB gesondert geregelten Einwilligung nicht mehr zu legitimieren vermag (vgl. dagegen S. 44 Fn. 164), ist im westeuropäischen Grundverständnis der Arzt-PatientenBeziehung nicht mehr zweifelhaft. Der sog. Erlaubnistatumstandsirrtum3 findet sich in Art. 30 Abs. 3 tStGB (erstaunlicherweise gemeinsam mit dem Entschuldigungssachverhaltsirrtum: „Gründe, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit aufheben“) im Sinne der „strengen Schuldtheorie“ bewertet; aus strafrechtsdogmatischen Gründen fordert der Autor jedoch unverkennbar dazu auf, diese „Entscheidung des Gesetzgebers“ im Wege der (methodisch zulässigen?) Auslegung zugunsten der „eingeschränkten Schuldtheorie“ abzuschwächen (S. 46 f.). Nur kurz werden (freilich im europäischen Vergleich, S. 52 Fn. 204, S. 54 Fn. 215) die Legaldefinitionen zu Vorsatz und Fahrlässigkeit (vgl. Art. 22 Abs. 2 und 3 tStGB: „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“) referiert; die Fragwürdigkeit der begrifflichen Kennzeichnung des dolus eventualis in Art. 21 Abs. 2 tStGB (durch seinen Verzicht auf das voluntative Element und infolgedessen seine Kollision mit der bewussten Fahrlässigkeit, Art. 22 Abs. 3 tStGB) wird dabei zutreffend erkannt (S. 53 Fn. 205), nicht jedoch jene weitere der in Art. 21 Abs. 1 tStGB enthaltenen allgemeinen Vorsatzdefinition, die mit ihrer Bezugnahme auf die „in der gesetzlichen Beschreibung der Straftat enthaltenen Merkmale“ (S. 52 f.) keine klare Abgrenzung zwischen Tatumstands- und Verbotsirrtum ermöglicht; wenn Art. 30 Abs. 1 tStGB nochmals abweichend hiervon als Bezugsgegenstand des Tatumstandsirrtums die „materiellen (objektiven) Elemente/Merkmale der Straftat“ nennt, so ist die Verwirrung komplett und offenbart den hier bestehenden Änderungsbedarf (S. 59 Fn. 239). In der Suche nach dem „materiellen Schuldbegriff in der türkischen Verbrechenslehre“ (S. 60 ff.) liegt erkennbar der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, die den Autor veranlasst, in kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansätzen und Konzeptionen innerhalb der türkischen Strafrechtswissenschaft weiter auszuholen. Die wohl noch heute weit verbreitete Akzentuierung des psychologischen Anteils sieht Isfen im Wesentlichen im Bestreben begründet, die beiden „Schuldarten“ infolge der fehlenden Anerkennung einer personalen Unrechtslehre nicht „heimatlos“ werden zu lassen (S. 74). Der vor allem bei der Fahrlässigkeit aber nicht zu übersehende „normative Bezugspunkt“ (zutreffend S. 80; missverständlich S. 83, wonach die „Begründung der Fahrlässigkeit […] ohne psychische Beziehung zur Tat auskommen“ müsse; richtig dagegen S. 89: keine „psychische Beziehung“ der unbewussten Fahrlässigkeit „zum Taterfolg“) wirft jedoch die Frage nach dem näheren Gehalt dieses normativen Anteils auf, die sich nicht mit der „inhaltsleeren Aussage“ zufrieden stellend beantworten lässt, wonach Schuld (auch) „Vorwerfbarkeit“ sei (S. 72). „Konturen“ gewinnt der (für Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat gemeinsame) Schuldbegriff in den Augen des Verf. durch Bezugnahme auf die „berechtigte Erwartung der Gesellschaft […], dass sich Menschen rechtstreu verhalten“ (S. 102). Ein hieraus konstruierbarer „funktionaler Schuldbegriff“ (z.B. im Sinne Jakobs) wird allerdings abgelehnt, weil dies einer „Instrumentalisierung des Individuums“ gleichkomme, „das nicht als autonomes Wesen mit einem Freiheitsanspruch gegen den Staat auftritt, sondern nur noch als Werkzeug gesellschaftlicher Stabilisierungsinteressen dient“ (S. 98 f.); Schuld erschöpfe sich daher nicht in „reiner Normativität“, sondern setze ein „ontologisches, personales Substrat […] im konkret handelnden Täter“ voraus (S. 97): „Unterhalb“ des niemals beweisbaren „konkreten Anders-Handeln-Könnens“ zum Tatzeitpunkt lasse sich die „empirische Grundlage des Schuldvorwurfs“ in der „normativen Ansprechbarkeit“ ausmachen (S. 101 f., 119 et passim), d.h. in der „allen Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft“ kraft ihrer alltäglichen sozialen Interaktion „gemeinsamen – empirisch fassbaren – Erfahrung“, dass „Normen und Werte bestimmend auf die menschlichen Entscheidungsprozesse einwirken können“ und „unter normalen Umständen von allen Menschen mit intakter Selbststeuerungsfähigkeit […] erwartet werden kann, dass sie sich von den entsprechenden Verhaltensnormen der Rechtsgemeinschaft leiten lassen“ (S. 102)4. Allen Beteuerungen zum Trotz, wonach es sich hierbei um eine hinreichende „erfahrungswissenschaftliche Basis“ des Schuldvorwurfs handle, der sich damit wirklich auf Empirie stützen könne und nicht als bloßes Konstrukt gleichsam in der Luft hänge, räumt Isfen gleichwohl – zu Recht – seinen letztendlichen Zuschreibungscharakter ein: Es „wird der Täter im Wege einer normativen Setzung als frei behandelt, wenn er bei der Tatbegehung normativ ansprechbar war“ (S. 121). Die Berechtigung zu dieser „normativen Zuschrei- 3 4 Zur Terminologie vgl. Duttge, in: Dölling/ders./Rössner (Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 16 StGB Rn. 11, § 35 StGB Rn. 20. Ganz in diesem Sinne auch Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 36: regelmäßiges Vorhandensein der „für den Anruf der Norm“ erforderlichen „psychischen Steuerungsmöglichkeit“. _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 387 Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts Duttge _____________________________________________________________________________________ bung“ (S. 102 f.) entnimmt der Autor zum einen der generellen Steuerungsfähigkeit des Täters „in gleich liegenden Fällen“ (S. 119) und zum anderen dem „Selbstverständnis“, d.h. dem „unbestrittenen Freiheitsbewusstsein“ aller „gesunden“ Mitglieder der Rechtsgemeinschaft und dem realen „Phänomen der Verantwortung als gesellschaftliche Realität“ (S. 103, 125 f., 128); diese „sittliche Praxis der rechtstreuen Bürger“ habe sich die strafende Rechtsordnung zum „Vorbild“ zu nehmen (S. 127): „Wenn die Gesellschaft ein rechtstreues Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, so muss dieser gesellschaftlichen Erwartungshaltung notwendigerweise auch die Behandlung des Täters als frei folgen; denn eine solche Erwartung setzt a priori die Möglichkeit des Eintritts eines erwartungswidrigen Zustands voraus, den die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft zu meiden haben“ (S. 104). Mit dieser Überlegung wird die Argumentation aber augenfällig tautologisch, weil sie wiederum sogleich die Frage nach der Berechtigung einer solchen „Erwartung“ aufwirft. Ob die dabei zugrunde gelegte „soziale Konvention“5 für sich den Schuldvorwurf zu tragen vermag, wird zweifelhaft, wenn bedacht wird, dass diese auch auf einer trügerischen Annahme ruhen kann: Dann wäre aber, wie Isfen sehr richtig erkennt, „nichts ersichtlich, was den Staat berechtigen könnte, einen auf einer Illusion, einer Lüge beruhenden Schuldvorwurf gegenüber dem unfreien Täter zu erheben“; man muss nicht erst an den „Kannibalen von Rotenburg“6 denken, um zu erkennen: „Auch Irre finden sich meistens völlig normal“ (S. 115). Bezogen auf die von den Vertretern der Neurowissenschaften dezidiert herausgestellte Divergenz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung: „Auch wenn das menschliche Freiheitsempfinden eine Verantwortungszuschreibung aus der Erste-Person-Perspektive rechtfertigen mag, geht es bei der Frage nach der strafrechtlichen Schuld um einen sozialethischen Tadel, also um eine Fremdzuschreibung von Verantwortung durch die Rechtsgemeinschaft“; für beide „Arten der Verantwortungszuschreibung“ können aber unterschiedliche Maßstäbe gelten (S. 114 f.). Bei aller berechtigten Methodenkritik an den Libet-Experimenten wie auch an den nachfolgenden „Verfeinerungen“ durch Haggard und Eimer (S. 110 ff.) bleibt also das Fundament der Schlussfolgerung brüchig, wonach die (nicht bestrittene) Unbeweisbarkeit der „Willensfreiheit“ nicht „in dubio pro reo“ die Legitimation eines Schuldstrafrechts in Zweifel ziehe, sondern umgekehrt „die Neuro-Deterministen“ bis auf weiteres in der „Bringschuld“ stünden, „die Basis einer solchermaßen verstandenen Zuschreibung zu Fall zu bringen“ (S.114, 133). Soweit mit dieser auf eine generelle Steuerungsfähigkeit in „Normalsituationen“ abgehoben wird, ist damit aber niemals die entsprechende Wahl- und Entscheidungsfreiheit auch und gerade in der handlungsrelevanten Lage gewährleistet (vgl. §§ 20, 323a StGB). Soweit am Ende die zugeschriebene „Willensfreiheit“ nur noch als „Postulat der praktischen Vernunft“ fungiert, das 5 Roxin, in: Bemmann/Spinellis (Hrsg.), Festschrift für Georgios Alexandros Mangakis zum 75. Geburtstag, 1999, S. 237 (S. 245). 6 Vgl. BGHSt 50, 80. von einer „praktisch-vernünftigen Disziplin“ wie dem Strafrecht trotz „in dubio pro reo“ einfach zugrunde gelegt werden dürfe (S. 134), muss Isfen kaum mehr befürchten, sein überraschendes Zugeständnis jemals einlösen zu müssen: dass nämlich im Falle einer sich künftig einmal doch erweisenden „Richtigkeit der neurodeterministischen Thesen […] das Strafrecht nolens volens Abschied vom Schuldgedanken nehmen und sich dann als reines Zweckstrafrecht verstehen“ müsste (S. 115). Wer in die blackbox der „personalen Präferenzen“7 keinen Einblick gestattet (S. 135 ff.), muss eine Widerlegung der Kompatibilitätsbehauptung selbst dann nicht befürchten, wenn das Schuldprinzip – mit Recht – nicht lediglich als begrenzender, sondern als konstituierender Faktor „verdienter“ Übelszufügung durch Strafe verstanden wird (überzeugend S. 131 ff.)8. Der letzte Teil des Werkes lässt diese Ebene der metatheoretischen Grundlagen, um deren Aufklärung sich der Autor mit viel „Herzblut“, Intelligenz und Fleiß bemüht, hinter sich und wendet sich wieder den „praktischen Auswirkungen des Schuldprinzips“ innerhalb des strafrechtlichen Systems zu, erneut vor allem mit spezifischem Blick auf die jüngere Entwicklung des türkischen Strafrechts (S. 140 ff.). Von jenen „Problemfeldern“, die im neuen türkischen StGB ausdrücklichen Niederschlag gefunden haben, finden sich vier konkrete Themen ausgewählt, von denen das am Ende eher knapp erörterte der (missverständlich) sog. „Haftung für das Verhalten Dritter“ (S. 217 ff.) im Wesentlichen die sog. „Kaskaden-“ bzw. „Stufenhaftung“ nach dem türkischen Pressegesetz zum Gegenstand hat. Bei den früher ebenfalls von jedwedem „subjektiven Zusammenhang“ gelösten und daher einer rein „objektiven Erfolgshaftung“ (S. 210 f.) nahe kommenden Erfolgsqualifikationen (lediglich begrenzt durch die beiden Erfordernisse der Willentlichkeit der Handlung sowie der Kausalität im Sinne der Adäquanztheorie) ist nach dem neuen türkischen StGB nunmehr die Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip im formellen Sinne hergestellt (durch Einfügung des Fahrlässigkeitserfordernisses in Anlehnung an § 18 StGB, § 7 Abs. 2 öStGB); der z.T. drastische Strafrahmensprung lässt den Autor aber an einer Vereinbarkeit mit dem materiellen Schuldprinzip zweifeln und zur Strafbarkeitsbegrenzung (mangels Anerkennung eines sog. „gefahrspezifischen Zusammenhangs“ in der Strafrechtsprechung der Türkei) beachtenswert die generelle Reduktion des strafbaren Bereichs auf Fälle der „Leichtfertigkeit“ fordern (S. 214 ff., 216)9. Einen der beiden Schwerpunkte der strafrechtsdogmatischen Betrachtungen bildet das „Koinzidenzprinzip“, das anlässlich der in Art. 34 Abs. 2 tStGB enthaltenen, aus früherer Zeit übernommenen Ausnahmeregelung bei einer Straftatbegehung nach „willentlich konsumiertem Alkohol oder Rausch7 Näher Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, 2. Aufl. 2005. 8 Insoweit abw. von Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 9, 46, 49. 9 Für das deutsche Strafrecht auch Duttge (Fn. 3), § 18 StGB Rn. 1 a.E. m.w.N.; vertiefend Radtke, in: Müller-Dietz u.a. (Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007, S. 737. _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 388 Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts Duttge _____________________________________________________________________________________ mittel“ in vergleichender Auseinandersetzung mit den zu § 20 dStGB vertretenen „Ausnahmemodellen“ zu interessanten Überlegungen führt (S. 173 ff.). In letzter Konsequenz vermisst Isfen hierfür eine „befriedigende dogmatische Begründung“ (S. 182) und fordert, auch insoweit ausdrücklich in Anlehnung an § 18 dStGB (S. 192, ohne freilich das Fahrlässigkeitserfordernis zu vertiefen), als Minimalerfordernis die Voraussehbarkeit der späteren Rauschtat (S. 195 ff., 204 mit ausformuliertem Gesetzesvorschlag). Die Bewertung des „Verbotsirrtums“ (S. 150 ff.) schließlich wird unter Verweis auf die einschlägigen Arbeiten Nauckes hinsichtlich ihrer grundlegenden staatstheoretischen Bedeutung gut beleuchtet (S. 156 ff.); der Autor sieht im „Vermeidbarkeits-“ Erfordernis einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die von ihm präferierte „staatsbürgerfreundliche Anwendung“ der neuen, mit § 17 S. 1 dStGB nahezu identischen Regelung des Art. 30 Abs. 4 tStGB (S. 161, 164). Im Gegensatz zu der von ihm prognostizierten „strengen Auslegung in der Strafrechtspraxis“ (S. 165) soll die „Vermeidbarkeit“ durch eine „kriminalpolitisch orientierte Auslegung“ (im Sinne Roxins) auf der Basis einer „individuellen Befähigung zur Normkenntnis“ als empirischer Grundlage des Schuldvorwurfs angemessen begrenzt werden (S. 171 f.). Man kann dem Verf. nur wünschen, dass seine durchdachten, sorgfältig begründeten und überzeugend vorgetragenen Vorschläge alsbald die türkische Strafrechtswissenschaft und -praxis befruchten mögen. Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 389 Hettinger/Zopfs/Hillenkamp/Köhler/Rath/Streng/Wolter, Festschrift für Wilfried Küper Laubenthal _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Michael Hettinger/Jan Zopfs/Thomas Hillenkamp/Michael Köhler/Jürgen Rath/Franz Streng/Jürgen Wolter (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, Verlag C.F. Müller, Heidelberg 2007, XIV, 781 S., € 238,Wilfried Küper feierte am 1.5.2007 seinen 70. Geburtstag. 50 überaus namhafte Autorinnen und Autoren ehrten ihn mit insgesamt 49 Beiträgen in der vorliegenden 781 Seiten umfassenden Festschrift. Die thematische Spannweite der Beiträge schließt dabei – dem umfangreichen Betätigungsfeld des Jubilars entsprechend – ein breites Spektrum (straf-) rechtswissenschaftlicher Fragestellungen ein. Behandelt werden von den Verf. materiell-strafrechtliche Problematiken des Allgemeinen Teils ebenso wie solche des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs. Auch Bereichen des Nebenstrafrechts sind Darstellungen gewidmet. Zudem finden sich strafprozessuale Materien erörtert, ferner Ausführungen mit rechtsphilosophischem oder rechtshistorischem Kontext sowie Themenstellungen, die einen internationalen Bezug aufweisen. Die Mehrzahl der Abhandlungen orientiert sich dabei an den Forschungsschwerpunkten des Jubilars, indem die Verf. insbesondere von Küper favorisiert behandelte Aspekte aufgreifen. Zu diesen gehören etwa der Notstand einschließlich der Pflichtenkollision, Fragen des Versuchs und des Rücktritts, Materien des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs. Eine Gliederung der Beiträge in Abschnitte nach Themen unterbleibt; vielmehr folgen diese geordnet nach ihren Autoren in alphabetischer Reihenfolge. Dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs entnimmt Georg Freund beispielsweise Ausführungen zu den Definitionen von Vorsatz und Fahrlässigkeit, während Michael Hettinger Problematiken im Zusammenhang mit den Strafrahmen nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz aus dem Jahr 1998 kritisch beleuchtet. Von Hans Joachim Hirsch dargestellt finden sich zudem – unter anderem am Beispiel des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) – die sich bei einem defensiven Notstand ohnehin nicht zu rettender Personen stellenden Fragen. Ein weiterer von Kristian Kühl verfasster Beitrag befasst sich mit Versuchsstrafbarkeit und Versuchsbeginn. Hier erörtert der Autor die Phasen der Tatverwirklichung beginnend mit dem Vorbereitungsstadium bis hin zur Beendigung einer Tat sowie Besonderheiten bei der Versuchsstrafbarkeit. Eine von Manfred Maiwald erstellte Abhandlung befasst sich rechtsvergleichend mit Kausalitätsproblemen bei einer Tatverwirklichung durch Unterlassen. Der Verf. zieht dabei einen Vergleich zwischen der italienischen und der deutschen Doktrin zum Unterlassungsdelikt, wobei er insbesondere auf die Entscheidung des Kassationsgerichtshofs im „caso Franzese“ eingeht. Weitere Beiträge, etwa von Wolfgang Mitsch sind der viel diskutierten Problematik einer actio libera in causa gewidmet oder dem Rücktritt nach § 24 StGB; hier diskutiert Friedrich-Christian Schroeder umfassend die Frage, inwieweit der Erfolgseintritt einem Rücktritt entgegensteht. Des Weiteren befassen sich Bernd Schünemann mit den besonderen persönlichen Merkmalen des § 28 StGB, Franz Streng mit dem Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Versuch. Eingehender beleuchtet wird von Frank Zieschang ferner der Begriff des „Hilfeleistens“ in § 27 StGB; dabei findet sich unter anderem das Näheverhältnis zwischen der Begünstigung nach § 257 StGB und der Beihilfe i.S.d. § 27 StGB detailliert untersucht. Dem Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs zuzuordnen bleiben Werner Beulkes Ausführungen zu „Pflichtenkollisionen“ im Rahmen des § 323c StGB. Der Autor erörtert hier anhand eines Beispiels die Problematik des Aufeinandertreffens einer Garantenpflicht i.S.d. § 13 StGB und der allgemeinen Hilfspflicht nach § 323c StGB. Darlegungen zur Sachbeschädigung durch Veränderung des Erscheinungsbildes einer Sache von Dieter Dölling sowie zum Urkundsbegriff von Günther Jakobs bereichern die Festschrift. Eingegangen wird von Rudolf Rengier überdies auf die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 45, 259, welche für die Auslegung des Merkmals der Heimtücke von elementarer Bedeutung war, sowie auf deren Einfluss auf die daran anknüpfende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Durch Ausführungen zur Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten als einem strafbegründenden Tatbestandsmerkmal im Umweltstrafrecht erschließt Hero Schall in der Festschrift nebenstrafrechtliche Bereiche. Strafprozessuale Erwägungen von Jürgen Wolter finden sich zur Wohnungsüberwachung, wobei dieser auf Einschränkungen der Menschenwürdegarantie eingeht und Überlegungen zu Beweisverwertungsverboten im Strafprozess anstellt. Schließlich widmen sich einige Autoren rechtsphilosophisch nuancierten Themenstellungen, wie etwa Karl Heinz Gössel, der Probleme einer rein normativen Begriffs- und Systembildung im Strafrecht sowie damit einhergehend deren Verhältnis zum Naturalismus in der Handlungslehre diskutiert. Des Weiteren bereichern Joachim Hruschka das Werk mit Ausführungen zu den Kriterien eines bürgerlichen Zustandes in Kants Rechtslehre und Claus Roxin mit Überlegungen zur Selbständigkeit und Abhängigkeit des Strafrechts im Verhältnis zu Politik, Philosophie, Moral und Religion. Internationalen Bezug weisen die Beiträge von Heike Jung zu Frankreich und seinen Strafrichtern am Beispiel des „Outreau-Verfahrens“ sowie Walter Perron zu Perspektiven der europäischen Strafrechtsintegration auf. Die Herausgeber haben zu Ehren des Jubilars ein bemerkenswertes Werk geschaffen, da die Reichweite der behandelten Themen dem Betätigungsfeld des Jubilars in besonderer Weise entspricht und sich damit eng an die Schwerpunkte seines wissenschaftlichen Wirkens anlehnt. Eine solche Orientierung stellt bei Weitem keine Selbstverständlichkeit dar, Werke mit vergleichbarer Zielsetzung lassen sie nicht selten vermissen. In besonderer Weise wird durch die vorliegende Festschrift gerade Wilfried Küper Hochachtung gezollt. Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 390 Pelz Janke, Kompendium Wirtschaftskriminalität _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Günter Janke, Kompendium Wirtschaftskriminalität, Peter Lang Verlagsgruppe, Frankfurt am Main 2008, 300 S., € 39,80 Von den üblichen Überblicksdarstellungen zur Wirtschaftskriminalität, die i.d.R. mit einem mehr oder weniger umfassenden Ansatz einen Kurzabriss der im Unternehmensbereich wichtigsten Straftatbestände geben, unterscheidet sich das hier zu besprechende Werk deutlich. Janke ist kein Jurist, sondern Betriebswirt und Professor für Rechnungswesen an der Hochschule Zwickau. So verwundert es nicht, dass Janke keine juristisch-dogmatischen Ausführungen machen will, sondern Wirtschaftskriminalität als empirischen Untersuchungsgegenstand betrachtet und daraus Folgerungen für die Unternehmensführung ableitet. Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist die Feststellung, dass Unternehmen in zweierlei Hinsicht Opfer von Wirtschaftskriminalität werden können, nämlich indem Straftaten aus dem Unternehmen heraus oder in deren Namen begangen werden oder indem Unternehmen Ziel von Straftaten Dritter werden und dadurch finanziellen oder anderen Schaden erleiden. Gegen beide Angriffsrichtungen müssen sich Unternehmen wappnen. Ausgehend von den tatsächlichen Bedrohungen, die sich für ein Unternehmen durch wirtschaftskriminelles Handeln ergeben, nimmt Janke eine Systematisierung von Wirtschaftsstraftaten vor. Für alle besprochenen Arten von Straftaten verwendet Janke im Wesentlichen dieselbe Gliederung. Er stellt typische wirtschaftskriminelle Angriffe auf Unternehmen dar, erläutert diese anhand von echten Fällen, fasst charakteristische Merkmale zusammen und leitet daraus ab, welche Prophylaxe und Gegenmaßnahmen ein Unternehmen entwickeln kann (und muss), um sich vor derartigen Gefahren zu schützen. Dabei spannt Janke einen weiten Bogen, der sich von Bilanzdelikten über Insolvenzdelikte, Kreditbetrug, Anlageschwindel, Umweltdelikte, Korruption bis hin zu Betrug, Untreue und Unterschlagung erstreckt. Ein besonderes Kapitel ist neuen Formen der Wirtschaftskriminalität, nämlich Computerkriminalität und Angriffe auf die ITSicherheit sowie Wirtschafts- und Computerspionage, gewidmet. Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, auf alle Erscheinungsformen von Wirtschaftskriminalität, die Janke beschrieben hat, im Einzelnen einzugehen, so dass hier nur exemplarisch Bilanzdelikte und Betrug/Untreue durch die Unternehmensführung und Mitarbeiter vorgestellt werden sollen. Zunächst legt Janke kurz dar, was unter Bilanzdelikten zu verstehen ist und legt dar, dass nicht jede Bilanzkosmetik („windowdressing“) eine strafbare Bilanzmanipulation sein muss (S. 21 ff.). Anhand exemplarischer Skandale der letzten Jahrzehnte, Enron, WorldCom, Parmalat, Flowtex und Neuer Markt stellt er typische Bilanzstraftaten dar. Bei der Entwicklung von Prophylaxe- und Gegenmaßnahmen skizziert Janke zunächst die unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die Aufsichtsrat, interner Revision und Ab- schlussprüfer zukommen (S. 54 ff.), ehe er einen Indizienkatalog entwickelt, der bei der Prüfung von Bilanzen und Bilanzpositionen die Entdeckung krimineller Handlungen erleichtern soll (S. 62 ff.). Im Bereich des Top-Management-Fraud führt Janke zunächst in die Problemstellung ein und stellt typische Anreizsituationen dar. Anschließend zählt er eine große Zahl von Symptomen auf, die zu Fraud einladen oder solchen erleichtern (S. 176 f.). Ebenso stellt er bei der Mitarbeiterkriminalität zunächst Erkenntnisse verschiedener Untersuchungen und Beispielsfälle vor (S. 178 ff.). Im Anschluss hieran berichtet er, welche Schwachstellen in einem Unternehmen Mitarbeiterkriminalität erleichtern (S. 182), bevor er verschiedene red flags für Straftaten in den Bereichen Buchhaltung, Einkauf, Vertrieb oder Personalwesen auflistet (S. 185 ff.). Breiten Raum nimmt die Darstellung zu neuartigen Bedrohungen durch Hacker, Viren und andere Formen von Datenausspähung ein. Damit wird der Bedeutung und der Gefahr, die durch IT-Kriminalität ausgeht, Rechnung getragen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Unternehmen diese Gefahren völlig unterschätzen und kaum ein Gebiet so raschen und sich ändernden Angriffsformen und -richtungen unterworfen ist, wie der IT-Bereich. Janke stellt zunächst die wesentlichen Angriffsrichtungen gegen ITSysteme und die dabei verwendeten Mittel und Werkzeuge (S. 207 ff.) sowie die in der Praxis beobachteten Hauptbegehungsweisen von IT-Angriffen dar (S. 214 ff.). Dann gibt er eine Vielzahl wichtiger und nützlicher Hinweise, wie Unternehmen ihre durch bewusste Nutzung und Vermeidung gefahrträchtiger Praktiken ihre IT-Architektur schützen und ein vernünftiges IT-Sicherheitskonzept erarbeiten können (S. 253 ff.). Das „Kompendium Wirtschaftskriminalität“ ist zwar nicht primär an Juristen und erst recht nicht an Strafrechtler gerichtet. Wer sich allerdings mit Präventionsberatung, Compliance oder Sicherheitskonzepten beschäftigt, wird in diesem Werk vielfältige Anregungen und Hinweise finden. Wegen der Praxisnähe des Werkes ist dieses für die Konzipierung und Umsetzung von Maßnahmen sehr hilfreich und nützlich. Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt für Steuerrecht, München _____________________________________________________________________________________ Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com 391 Nestler Franke/Wienroeder, Betäubungsmittelgesetz _____________________________________________________________________________________ B uc hre ze ns io n Ulrich Franke/Karl Wienroeder (Hrsg.), Betäubungsmittelgesetz (BtMG), C.F. Müller Verlag, 3. Aufl., Heidelberg 2008, XX, 710 S., € 75,Hohes Niveau im Kompakt-Format: Nunmehr in der dritten Auflage erschienen ist der Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz von Ulrich Franke und Karl Wienroeder. Mag das Werk im äußeren Umfang gegenüber der Vorauflage reduziert worden sein, so gilt dies keineswegs für seinen Inhalt sowie dessen Qualität. Überzeugend strukturiert liefert er einen umfassenden Überblick zu den wesentlichen Problemen des Betäubungsmittelrechts, beantwortet dem Leser aber ebenso ihn speziell interessierende Fragen präzise. Die Verf. haben dabei in die neue dritte Auflage die umfangreiche jüngere Rechtsprechung ebenso eingearbeitet wie Änderungen des Betäubungsmittelgesetzes selbst. Besondere Beachtung findet etwa die Entscheidung des Großen Senats vom 26.10.2005 (BGHSt 50, 252), die den regelmäßig gegen die (weite) Auslegung des Merkmals des Handeltreibens vorgebrachten Bedenken eine Absage erteilte. Die Verf. schließen sich der Entscheidung an, wobei sie die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme sowie die diesbezüglichen Ausführungen des Großen Senats dem Konzept der Kommentierung von § 29 BtMG entsprechend in den Focus ihrer Ausführungen stellen. Der Kommentar gliedert sich in zwei Teile: Der von Franke und Wienroeder verfasste Teil I behandelt das Betäubungsmittelgesetz; Teil II wurde von Wienroeder erstellt und widmet sich dem Strafprozessrecht unter dem besonderen Blickwinkel der Betäubungsmittelkriminalität. Der in den Vorauflagen vorhandene Teil III, welcher Ausführungen zur Strafzumessung enthielt, ist jetzt in die Vorbemerkung zu §§ 29 ff. BtMG eingearbeitet, was die Arbeit mit den Erläuterungen – der Intention der Autoren entsprechend – erheblich erleichtert. Im Anhang finden sich die Anlagen I bis III zum Betäubungsmittelgesetz, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung sowie (auszugsweise) das Arzneimittelgetz, neben weiteren für die Materie relevanten Regelungswerken. Den mit Fragen des Betäubungsmittelrechts Befassten gewährleisten Franke/Wienroeder damit eine umfassende sowie genaue und gründliche Orientierung über das Gebiet des Betäubungsmittelrechts. In Teil I werden die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes einer Erläuterung unterzogen, die vor allem durch ihre klare Schwerpunktsetzung auf das Betäubungsmittelstrafrecht besticht. So legen Franke/Wienroeder bei der Kommentierung das Hauptaugenmerk auf die §§ 29 ff. BtMG, wobei nicht nur der besonders umfangreichen Kommentierung des § 29 BtMG eine aufschlussreiche Übersicht vorangestellt ist. Besonders begrüßenswert erscheint, dass die Autoren hier wesentliche Fragen des Allgemeinen Teils des StGB gelungen in die Darstellung einbinden. So widmet der Kommentar im Rahmen der Erläuterungen zu § 29 BtMG jedem Merkmal einen eigenen Abschnitt über die Problematik um Täterschaft und Teilnahme sowie den Konkurrenzfragen. Hervorzuheben bleibt überdies, wie Franke/Wienroeder dem oftmals Staatsgrenzen überschreitenden Charakter von Betäubungsmittelkriminalität Rechnung tragen, indem sie Fragen des Strafanwendungsrechts in der Kommentierung aufgreifen. Ausführlicher eingegangen wird zudem auf das Merkmal „nicht geringe Menge“ und die damit verbundenen (sehr praxisrelevanten) Grenzwerte im Zusammenhang mit § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG. Teil II des Werkes behandelt für das Betäubungsmittelstrafrecht relevante Aspekte des Strafprozessrechts. Hierbei geht Wienroeder u.a. auf die Regelungen der §§ 110a-110e StPO ein, wodurch die Darstellung etwa der enormen Bedeutung des Einsatzes verdeckter Ermittler in Betäubungsmittelstrafsachen gerecht wird. Ein eigener Abschnitt ist dem Einsatz von V-Leuten gewidmet. Im Feld des Betäubungsmittelstrafrechts kommt der Bemühung dieser Personen, insbesondere in Funktion eines sog. Lockspitzels oder agent provocateurs, aufgrund des überproportionalen Dunkelfelds größte Relevanz zu. Umso verdienstlicher erscheint es, wenn der Autor 35 Randnummern in der Kommentierung ausschließlich dieser Ermittlungsmethode widmet. Fazit: Den Autoren gelingt es auch in der dritten Auflage des Kommentars, ohne durch zusammenhanglose Detailinformationen zu verwirren, die wesentlichen Problematiken des Betäubungsmittel(straf)rechts darzustellen. Zu Einzelfragen, deren Behandlung mit Tiefgang den Rahmen des Werkes sprengen würde, finden sich die nötigen Nachweise auf jeweils einschlägige Rechtsprechung und Literatur. Der Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz von Franke/Wienroeder ist somit eine gute Wahl für den mit Fragen des Betäubungsmittelrechts Befassten, um sich in der komplexen Materie sowie der sehr differenzierten Rechtsprechung zu orientieren, sich in das Rechtsgebiet einzuarbeiten oder weiterführende Hinweise zu speziellen Detailfragen zu finden. Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg _____________________________________________________________________________________ ZIS 7/2009 392