Inhalt AUFSÄTZE ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN

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Inhalt AUFSÄTZE ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Inhalt
AUFSÄTZE
Europäisches Strafrecht
Europäische Strafgesetzgebung
Von Prof. Dr. Mark A. Zöller, Trier
340
Völkerstrafrecht
Immunität und IStGH
Zur Bedeutung völkerrechtlicher Exemtionen für den
Internationalen Strafgerichtshof
Von RiLG Dr. Helmut Kreicker, Hildesheim
350
Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir
de las experiencias latino-americanas
Una crítica a la utilización excesiva del derecho penal en
procesos de transición: no peace without justice o bien no
peace with justice
De Prof. Dr. Ezequiel Malarino, Buenos Aires, Argentina
368
ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN
Strafrecht
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09
(Zu den Voraussetzungen des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB
nach Vollendung der Raubtat)
(Ass. iur. Jan Dehne-Niemann, Karlsruhe)
376
Ordnungswidrigkeitenrecht
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08
(Zur Verjährungsfalle im Bußgeldverfahren)
(Prof. Dr. Christian Fahl, Rostock)
380
BUCHREZENSIONEN
Strafrecht
Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, 2008
(Prof. Dr. Walter Gropp, Gießen)
383
Sabit Osman Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht –
unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts,
2008
(Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen)
386
Michael Hettinger u.a. (Hrsg.), Festschrift für Wilfried Küper
zum 70. Geburtstag, 2007
(Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg)
390
Wirtschaftsstrafrecht
Günter Janke, Kompendium Wirtschaftsstrafrecht, 2008
(Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, München)
391
Betäubungsmittelstrafrecht
Ulrich Franke/Karl Wienroeder (Hrsg.), Betäubungsmittelgesetz (BtMG), 3. Aufl. 2008
(Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg)
392
Europäische Strafgesetzgebung*
Von Prof. Dr. Mark A. Zöller, Trier
The legislative competences in matters of Criminal Law on the
European level have been subject to intensive discussion for a
long time. Though the European Community (EC) lacks legislative powers concerning supranational Criminal Law in principle,
the European Court of Justice broke new ground with two important new decisions. Its reasoning that the competence to harmonize the national legal systems by means of EC directives in matters of Criminal Law is implied in the explicit competences of the
EC, is being criticized within the following paper. The article
highlights a variety of contradictions between the ruling of the
European Court of Justice and basic principles of European Law
and German Constitutional Law. Based on these comments, it
concludes with an outlook on the future of "European Criminal
Law".
I. „Europäisches Strafrecht“ und das „Prinzip der drei Affen“
Der Bundesgerichtshof, also immerhin das höchste deutsche
Strafgericht, hat sich 1988 in seinem berühmten „Katzenkönig-Fall“1 zu der wunderbaren Formulierung hinreißen lassen, die Beteiligten „lebten in einem von Mystizismus,
Scheinerkenntnis und Irrglauben geprägten neurotischen
Beziehungsgeflecht“. Dieser Satz – natürlich nur ein Euphemismus für ihren zweifelhaften Geisteszustand – lässt sich
nicht ohne ein gewisses Maß an Bösartigkeit auch auf einige
Akteure im Bereich der europäischen Strafgesetzgebung
übertragen. Obwohl das Strafrecht gemeinhin immer noch als
eine der letzten Bastionen nationaler Zuständigkeiten gilt2, ist
die Wirklichkeit längst eine andere. Aber im Vergleich zu
anderen Rechtsdisziplinen hat man hier die Tatsache, dass
sich aus europäischen Rechtsakten naturgemäß Auswirkungen auf das nationale deutsche Recht ergeben, teilweise bis
zum heutigen Tag zu verdrängen versucht. Das erste Lehrbuch, das sich mit dem Internationalen und Europäischen
Strafrecht beschäftigt, stammt aus dem Jahr 2004.3 Und noch
immer herrscht in Teilen von Wissenschaft, Justiz und Anwaltschaft die Überzeugung vor, dass man im Strafrecht doch
bisher hervorragend „ohne Europa“ ausgekommen sei und
daran auch bis zum Erreichen des Rentenalters nichts zu
ändern gedenke. Dass diese „Vogel-Strauß-Taktik“ nicht von
Erfolg gekrönt sein kann, versteht sich von selbst. Bindende
supranationale oder völkerrechtliche Verpflichtungen verschwinden nach dem Prinzip der drei Affen („nichts sehen,
* Mit Fußnoten versehene und aktualisierte Fassung des
Vortrags, den der Verf. am 8.6.2009 im Rahmen der Ringvorlesung „60 Jahre Grundgesetz – Anspruch und Wirklichkeit“
an der Humboldt-Universität Berlin gehalten hat. Der Vortragsstil wurde überwiegend beibehalten.
1
BGHSt 35, 347.
2
Vgl. nur Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008,
§ 11 Rn. 10; Rackow, ZIS 2008, 526 (527); Šugmann
Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 f.
3
Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht,
1. Aufl. 2004, nunmehr vorliegend in der 3. Aufl. 2009.
nichts hören, nichts sagen“) leider nicht wieder von selbst,
wenn man sie nur lange genug ignoriert.
Wirft man einen genaueren Blick auf unser heutiges deutsches Strafrechtssystem, wird schnell deutlich, dass es bereits
in erheblichem Umfang von europäischen Einflüssen geprägt
ist. Dies gilt sowohl für das materielle als auch das formelle
Recht. Materiell-rechtlich schützen deutsche Straftatbestände
auch Gemeinschaftsinteressen. So erfasst etwa der Subventionsbetrug (§ 264 StGB) auch den betrügerischen Umgang
mit EG-Subventionen.4 Und erst kürzlich hat der deutsche
Gesetzgeber mit der Einführung des neuen § 162 Abs. 1
StGB5 klargestellt, dass falsche Angaben vor internationalen
Gerichten – und damit beispielsweise auch vor dem Europäischen Gerichtshof – ebenso zu bestrafen sind, wie Falschaussagen vor deutschen Gerichten. Zudem führt das aus der in
Art. 10 des EG-Vertrags verankerten Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu gemeinschaftstreuem Verhalten abzuleitende
Institut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung auch
in weniger evidenten Fällen zu vergleichbaren Ergebnissen.
Noch deutlicher zeigt sich dieser Europäisierungsprozess im
Bereich des Strafverfahrensrechts. Einrichtungen und Rechtsinstitute wie das europäische Polizeiamt Europol, der europäische Haftbefehl, das Schengener-Informationssystem oder
der Austausch von Strafverfolgungsdaten auf der Grundlage
des Prümer Vertrags6 bzw. des diesbezüglichen EU-Ratsbeschlusses7 gehören längst zum alltäglichen Handwerkszeug
der Strafverfolgungsbehörden in der EU.
Für diese gesamteuropäische Entwicklung lässt sich das
Rad der Zeit nicht mehr zurückdrehen. Und trotz erkennbarer
rechtsstaatlicher Defizite bei den Rechtsgrundlagen ist ein
Bedürfnis für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei
der Verfolgung der sich naturgemäß nicht an nationale Grenzen haltenden Straftäter nicht ernsthaft zu bezweifeln. Das
zeigt schon ein Blick auf die aktuelle Bedrohungssituation
durch die Organisierte Kriminalität und den – derzeit vor
allem islamistisch geprägten – Terrorismus. Wenn aber für
eine Europäisierung des Straf- und Strafprozessrechts ein
praktisches Bedürfnis derart klar erkennbar ist, besteht die
Aufgabe von Strafrechtswissenschaft und Praxis eben darin,
diesen unvermeidbaren Prozess konstruktiv, wenn auch kritisch zu begleiten. Die drei Affen müssen also mit offenen
Augen und Ohren dasitzen und – falls nötig – auch ihren
Mund aufmachen. Daran fehlt es bislang. Das Resultat ist,
dass in den letzten Jahren aus Brüssel eine Entwicklung losgetreten wurde, die letztlich die Kommission zum „Ersatzgesetzgeber“ in Strafsachen macht – und dies, ohne dass die
Kompetenz zur Strafgesetzgebung von den Mitgliedstaaten
4
Vgl. § 264 Abs. 7 Nr. 2 StGB.
Dazu Sinn, NJW 2008, 3526.
6
Abrufbar im Internet unter http://www.bmj.bund.de/enid/Internationale_strafrechtliche_Zusammenarbeit/Pruemer_Vertrag_v1.html
7
Beschluss 2008/615/JI des Rates zur Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus und der grenzüberschreitenden
Kriminalität v. 23.6.2008 (ABl. L 210, 1 v. 6.8.2008).
5
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Europäische Strafgesetzgebung
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tatsächlich auf die supranationale Ebene des Gemeinschaftsrechts übertragen worden wäre.
Nach einem Blick auf die umstrittene Frage der Kompetenzverteilung zum Erlass von Strafrechtsnormen in Europa
und mögliche Änderungen durch den Vertrag von Lissabon
(unter II.), soll diese aktuelle Entwicklung anhand von zwei
neueren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs
näher dargestellt werden (unter III.). Sodann folgen (unter
IV.) einige kritische Bemerkungen hierzu, die der Beantwortung der Frage dienen sollen, ob auf diese Weise nicht nur die
geltenden europa- und völkerrechtlichen Grundlagen, sondern auch Grundwerte unserer Verfassung, etwa das Demokratieprinzip, ausgehebelt werden. Auf dieser Grundlage soll
zum Abschluss ein Ausblick auf die Zukunft des „Europäischen Strafrechts“ stehen (unter V.).
II. Kompetenzen zur Strafgesetzgebung in der Europäischen Union
Um die Besonderheiten der damit angedeuteten aktuellen
Entwicklung nachvollziehen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich noch einmal vor Augen zu führen, inwiefern auf
der Grundlage des geltenden Primärrechts überhaupt Möglichkeiten bestehen, auf die nationalen Strafrechtssysteme der
EU-Mitgliedstaaten Einfluss zu nehmen.
1. Die Drei-Säulen-Struktur der EU
Die Europäische Union ist nach geltender Rechtslage nach
wie vor keine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit. Sie stellt lediglich eine Dachorganisation dar,
die – bildlich gesprochen – auf drei Säulen ruht. Nach diesem
berühmten „Drei-Säulen-Modell“ besteht die EU aus den
Europäischen Gemeinschaften als der 1. Säule, der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP) als der 2. Säule und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)
als der 3. Säule. Einflüsse der Europäischen Union auf unser
nationales Strafrecht ergeben sich überwiegend aus den
Rechtsbereichen, die zur 1. und 3. Säule zählen. Allerdings
bestehen zwischen rechtlichen Maßnahmen aus diesen beiden
Bereichen bekanntlich gravierende Unterschiede: Nur die
Europäischen Gemeinschaften in der 1. Säule sind echte
supranationale Organisationen. Nur sie besitzen eine eigene
Rechtspersönlichkeit, eigene Organe und können einen von
den Mitgliedstaaten unabhängigen Willen bilden. Nur in
ihrem Bereich haben die Mitgliedstaaten tatsächlich Hoheitsrechte an die EG übertragen und damit „vergemeinschaftet“.
Weil der EG also von den Mitgliedstaaten Hoheitsrechte
übertragen worden sind, können die Gemeinschaftsorgane
Regelungen erlassen, die unmittelbar für den Einzelnen
Rechte und Pflichten begründen, ohne dass diese zuerst von
den Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssten. Würde auch
der Bereich des Strafrechts zu den „vergemeinschafteten“
Materien zählen, so könnte die EG unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltendes Straf- und Strafprozessrecht schaffen,
also ein „europäisches StGB“ und eine „europäische StPO“.
Als Rechtsinstrument käme hierfür der Erlass einer Verordnung in Frage, da eine Verordnung nach Art. 249 EGV bin-
dende Rechtswirkungen entfaltet, ohne dass es einer Umsetzung in das jeweilige nationale Recht bedarf.
In den Bereichen, die unter die 2. und 3. Säule der EU fallen, haben die Mitgliedstaaten demgegenüber gerade keine
Hoheitsrechte auf eine supranationale Organisation übertragen. Nach außen hin handeln die 27 EU-Staaten nach wie vor
selbst, und zwar im Wege einer sog. „intergouvernementalen
Zusammenarbeit“. Die dabei gefassten Beschlüsse entfalten
im innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten keine unmittelbare Wirkung. Sie müssen daher – wie alle völkerrechtlichen
Verträge – stets noch durch nationale Rechtsakte umgesetzt
werden. Dies gilt im Bereich der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS), d.h. in der
3. Säule der Union, speziell für das Rechtsinstrument des
Rahmenbeschlusses. Dessen Inhalten kommt ohne Transformation in innerstaatliches Recht – im Gegensatz zum Primärrecht in den „vergemeinschafteten“ Bereichen der 1. Säule –
grundsätzlich kein Vorrang gegenüber dem nationalen Strafrecht zu.8
Das Verhältnis zwischen dem Recht der 1. und der 3. Säule
der EU wird durch Art. 29 und 47 EUV geregelt. Danach
lassen der EU-Vertrag und speziell die darin geregelten Bestimmungen über die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen den EG-Vertrag unberührt. Maßnahmen,
die in die Zuständigkeit der Gemeinschaften in der 1. Säule
fallen, können damit nicht auf eine Bestimmung des EUVertrags gestützt werden. Bei Zuwiderhandlung sind entsprechende Rechtsakte vom EuGH, der über die Wahrung des
gemeinschaftsrechtlichen Besitzstands wacht, auf Antrag für
nichtig zu erklären.
2. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung
Besäße also die EG die Kompetenz zum Erlass von Strafgesetzen, so wären damit nach den Art. 29 und 47 EUV vergleichbare Vereinbarungen des Rates im Rahmen der 3. Säule
faktisch ausgeschlossen. Die mangelnde Plausibilität eines
solchen Ergebnisses lässt sich prima facie schon aus der
Existenz der Art. 29 ff. EUV ableiten. Dort werden Harmonisierungsbestrebungen im Bereich des Strafrechts gerade der
völkerrechtlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten überantwortet. Entscheidender Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, ob die EG dazu befugt ist, unmittelbar geltendes Strafrecht zu erlassen, ist jedoch das sog. „Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung“9. Nach diesem Grundsatz,
der insbesondere Art. 5 EGV ausdrücklich zu entnehmen ist,
können die Gemeinschaftsorgane eine Kompetenz nur in
8
Zur Möglichkeit der rahmenbeschlusskonformen Auslegung
(„Fall Maria Pupino“) vgl. EuGH NJW 2005, 2839; dazu
Adam, EuZW 2005, 558; Fetzer/Groß, EuZW 2005, 550;
Fletcher, European Law Review 2005, 862; Herrmann,
EuZW 2005, 436; Hillgruber, JZ 2005, 841; Wehnert, NJW
2005, 3760; Gärditz/Gusy, GA 2006, 225; Lorenzmeier, ZIS
2006, 576 (578 ff.); Tinkl, StV 2006, 37; v. Unger, NVwZ
2006, 46; Wasmeier, ZEuS 2006, 23; Weißer, ZIS 2006, 562;
Rackow, ZIS 2008, 526.
9
Allg. dazu Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007,
§ 4 Rn. 54 ff. m.w.N.
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
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Mark A. Zöller
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Bezug auf solche Materien haben, die ihnen zuvor ausdrücklich von den Mitgliedstaaten übertragen wurden. Jeder
Rechtssetzungsakt der Gemeinschaft erfordert damit eine
ausdrückliche oder aber zumindest im Wege der Auslegung
(hinreichend sicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage
in den Gründungsverträgen. Auf diese Weise wird das Recht
der Europäischen Gemeinschaften letztlich an das Demokratieprinzip gebunden.10 Die EG besitzt damit – anders als die
Mitgliedstaaten nach ihrem nationalen Recht – keine Kompetenz-Kompetenz.11 Sie kann also ihre bestehenden Kompetenzen nicht eigenständig erweitern.
3. Fehlende Kompetenz der EG zum Erlass supranationaler
Strafgesetze
Die Frage, ob sich für die EG nun eine Kompetenz zum Erlass von supranationalen strafrechtlichen Bestimmungen begründen lässt, ist aber gerade umstritten:
So finden sich vereinzelte Stimmen im Schrifttum, die eine solche Kompetenz zur Schaffung supranationaler Strafnormen bejahen.12 Zwar erkennen auch sie an, dass es an
einer ausdrücklichen Kompetenzzuweisungsnorm im EGVertrag fehlt. Sie leiten aus der ausdrücklich normierten
Sachkompetenz der EG zur Regelung bestimmter Sachbereiche (z.B. den Grundfreiheiten oder der Agrar- und Umweltpolitik) aber gleichzeitig auch die Befugnis her, damit sachlich zusammenhängende kriminalstrafrechtliche Sanktionen
mitzuregeln. Sie berufen sich auf die völkerrechtliche Lehre
von den „implied powers“, wonach die geschriebene Kompetenznorm immer auch die Befugnis zur Setzung notwendigerweise mitzuregelnder Tatbestände umfasst.
Die ganz überwiegende Ansicht lehnt eine Strafrechtssetzungskompetenz der EG demgegenüber zu Recht ab.13 Dafür
lassen sich insbesondere folgende Argumente anführen: Eine
Befugnis der EG müsste sich nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unmittelbar aus dem Primärrecht
ergeben. Dies ist aber gerade nicht der Fall. Außerdem sehen
die Mitgliedstaaten die Schaffung strafrechtlicher Regelungen nach wie vor als die ureigenste Aufgabe des nationalen
Gesetzgebers an. Eine so bedeutsame Befugnis kann wohl
kaum en passant und stillschweigend in den Gründungsverträgen an die EG übertragen worden sein. Zudem ist das
Strafrecht in den Art. 29 ff. EUV gerade dem Bereich der
intergouvernementalen Zusammenarbeit in der 3. Säule der
EU übertragen worden. Daneben ist zu sehen, dass der EG in
verschiedenen Bereichen durch den EGV ausdrücklich die
Kompetenz zum Erlass von Bußgeldnormen zugewiesen ist.14
Diese ausdrücklichen Regelungen ergäben keinen Sinn, wenn
die viel gewichtigere Materie der Strafsanktionen ohnehin
bereits stillschweigend von der Sachkompetenz mit abgedeckt wäre. Und schließlich erscheint es auch unter dem
Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips höchst zweifelhaft,
ob sich der Erlass supranationalen Strafrechts durch die EG
überhaupt rechtfertigen ließe.15
4. Die Bedeutung des Art. 280 Abs. 4 EGV
Diskutieren lässt sich daher allenfalls, ob sich an diesem
Ergebnis fehlender originärer Strafgesetzgebungskompetenz
durch Art. 280 Abs. 4 des EG-Vertrags etwas ändert. Diese
Bestimmung ist durch den Amsterdamer Vertrag vom
2.10.1997 eingefügt worden und lautet wie folgt:
„Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen
Schutzes in den Mitgliedstaaten beschließt der Rat gemäß
dem Verfahren des Artikels 251 nach Anhörung des Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und
Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten. Die Anwendung des
Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege
bleiben von diesen Maßnahmen unberührt.“
Unter den hier verwendeten Begriff der „Maßnahme“
könnte angesichts des offenen Wortlauts möglicherweise
auch der Erlass strafrechtlicher Normen gefasst werden. Insofern wird Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV teilweise als Kompetenzgrundlage für eine bereichsspezifische, auf den Schutz der
finanziellen Interessen der EG beschränkte Strafrechtssetzungsbefugnis der EG angesehen.16 Nach überwiegender
Auffassung scheidet aber auch Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV als
Ermächtigungsgrundlage für die Schaffung von Gemeinschaftsstrafrecht aus. Dafür spricht derzeit17 bereits die eindeutige Vorbehaltsklausel des Satzes 2 zugunsten des jeweiligen nationalen Strafrechts.18 Danach soll ausdrücklich keine
Veränderung des status quo bei der Kompetenzverteilung
zwischen EG und den Mitgliedstaaten erfolgen. Außerdem
zählt auch die Betrugsbekämpfung nach dem Wortlaut von
Art. 29 Abs. 2 EUV explizit zu den Aufgaben der intergouvernementalen Zusammenarbeit in der 3. Säule der EU.19
Und schließlich hat auch die Kommission selbst im Zuge der
Verhandlungen zum Vertrag von Nizza Art. 280 EGV als
14
10
Braum, wistra 2006, 121 (123); Krausser, Das Prinzip
begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht als Strukturprinzip des EWG-Vertrages, 1991, S. 28.
11
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 233.
12
Böse, Strafen und Sanktionen, 1996, S. 56, 61 ff., 94; ders.
GA 2006, 211 (220 ff.); Heitzer, Punitive Sanktionen, 1997,
S. 136 ff.; Pache, EuR 1993, 173 (178 f.).
13
Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, 2003,
Art. 280 EGV Rn. 20; Waldhoff, in: Calliess/Blanke/Ruffert
(Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar. 3. Aufl. 2007, Art. 280
EGV Rn. 3, 19; Ambos (Fn. 2), § 11 Rn. 4 f.; Hecker (Fn. 9),
§ 4 Rn. 88 ff.; Griese, EuR 1998, 476; Satzger, KritV 2008,
17 (20); Rosenau, ZIS 2008, 15.
Z.B. in Art. 83 Abs. 2 lit. a EGV.
Satzger, KritV 2008, 17 (21).
16
Wolfgang/Ulrich, EuR 1998, 616 (627); Tiedemann, in:
Eser u.a. (Hrsg.), Festschrift für Theodor Lenckner zum
70. Geburtstag, 1998, S. 411 (415); Dannecker, in: Weigend
u.a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Joachim Hirsch zum 70. Geburtstag, 1999, 141 (144); Zieschang, ZStW 113 (2001), 255
(259 ff.); Hedtmann, EuR 2002, 122 (133 f.); Stiebig, EuR
2005, 466 (483 ff.); Fromm, Der strafrechtliche Schutz der
Finanzinteressen der EG, 2004, S. 107 ff., 327 ff.
17
Nach den Vorgaben des Vertrags von Lissabon soll diese
Vorbehaltsklausel im neuen Art. 325 Abs. 4 AEUV entfallen.
18
Satzger, KritV 2008, 17 (21).
19
Vgl. Art. 29 S. 2 EUV.
15
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unzureichende Ermächtigungsgrundlage angesehen und in
ihrem sog. „Grünbuch zum Schutz der finanziellen Interessen
der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer
europäischen Staatsanwaltschaft“20 aus dem Jahr 2001 die
Schaffung eines neuen Art. 280a EGV vorgeschlagen, der
eine ausdrückliche Ermächtigung zur Regelung von Straftaten zum Schutz der finanziellen Interessen der EG enthalten
sollte.21 Mit diesem Vorschlag konnte sie sich jedoch damals
nicht durchsetzen. Es lässt sich also Folgendes festhalten:
1. Die EG verfügt nach geltendem Recht über keine supranationale Strafgewalt.
2. Die nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erforderliche Kompetenzzuweisung im Primärrecht
existiert nicht.
3. Auch die Einfügung von Art. 280 Abs. 4 in den EGV
durch den Vertrag von Amsterdam ändert an diesem Befund
nichts.
5. Fehlende Harmonisierungskompetenz im Bereich des Strafrechts
Dieser Zwischenbefund darf nicht dadurch entwertet werden,
dass man zwar im Gemeinschaftsrecht die Existenz einer
Kompetenz zum Erlass unmittelbar wirksamer, supranationaler Strafrechtsnormen verneint, dann aber – sozusagen als
„wesensgleiches Minus“ – vom Vorliegen einer Rechtsgrundlage für die Harmonisierung des nationalen Strafrechts ausgeht. Wenn es an einer Strafgesetzgebungskompetenz fehlt,
sollte dieses klare Ergebnis nicht dadurch infrage gestellt
werden, dass man den Mitgliedstaaten dann eben im Wege
der Richtlinie detaillierte Vorgaben hinsichtlich der zu kriminalisierenden Verhaltensweisen und der anzudrohenden Strafen macht.22 Ansonsten würden man faktisch in die national
eigenständigen und höchst unterschiedlichen Konzeptionen
von Strafrecht in den 27 Mitgliedstaaten eingreifen und damit
fehlende sachliche Kompetenzen einfach überspielen.23 Zwar
20
KOM (2001) 715 endg.
In diesem Vorschlag für Art. 280a Abs. 3 lit. a EGV heißt es:
„[...] 3. Der Rat legt nach dem Verfahren des Artikels 251 die
Bedingungen für die Ausübung des Amtes des Europäischen
Staatsanwalts fest und erlässt insbesondere
(a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale
von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die
gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet
ist, sowie der Strafen für alle Straftatbestände“; [...].
Art. 280 Abs. 4 bezieht sich somit nach zutreffender Lesart
nur auf die Schaffung präventiver Rechtsvorschriften (z.B.
verwaltungsrechtliche Vorschriften zur Betrugsvorbeugung
und -aufdeckung). Zulässig ist es jedoch, wenn man den
geltenden Art. 280 Abs. 4 S. 1 EGV als spezielle Kompetenzgrundlage für eine Angleichung des nationalen Strafrechts in den Mitgliedstaaten ansieht, sofern es um die Bekämpfung von Betrügereien zum Nachteil der EG geht; vgl.
Hecker (Fn. 9), § 4 Rn. 100.
22
Ebenso Hecker (Fn. 9), § 8 Rn. 35 ff. m.w.N. zum
Streitstand; a.A. jüngst Rosenau, ZIS 2008, 9 (16).
23
So im Ergebnis auch Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585
(586); Satzger, KritV 2008, 17 (21 f.).
21
hat der EuGH bereits im Jahr 1989 in dem berühmten Fall
„Griechischer Mais“24 aus dem Loyalitätsgebot des Art. 10
EGV die Verpflichtung der Mitgliedstaaten abgeleitet, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht zu sanktionieren. Die einzelnen Staaten haben seiner Ansicht nach Verstöße gegen das
Gemeinschaftsrecht nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen, wie nach Art und
Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales
Recht (sog. Gleichstellungserfordernis). Darüber hinaus müssen die angedrohten Sanktionen auch wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein (sog. Mindesttrias). Aber den Mitgliedstaaten verbleibt nach wie vor die konkrete „Wahl der
Sanktionen“. Sie treffen also die Entscheidung darüber, ob
sie ihr Kriminalstrafrecht oder andere Sanktionen (z.B. Verwaltungssanktionen) einsetzen wollen.25 In diese Entscheidung hat sich die EG nicht einzumischen.
6. Auswirkungen des Vertrags von Lissabon
An diesem Ergebnis de lege lata würde sich durch ein Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Wesentliches ändern.
Das Vertragswerk sieht neben zahlreichen weiteren Änderungen26 vor, dass die bisherige Unterscheidung zwischen
Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft entfallen soll. Es gäbe danach also nur noch die Europäische Union
als Rechtsnachfolgerin der EG (Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV).
Zugleich würde die bisherige Drei-Säulen-Struktur entfallen.
Damit verbunden ist die Überführung des Bereichs der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in
einen neuen Bereich supranationalen Rechts. Dies führt beispielsweise zur Abschaffung besonderer Rechtsinstrumente
aus der bisherigen 3. Säule der EU (z.B. des Rahmenbeschlusses) und zur Unterwerfung des Strafrechts unter das
ordentliche Gesetzgebungsverfahren der Mitentscheidung des
Europäischen Parlaments und das Mehrheitsprinzip im Rat.
Art. 83 Abs. 1 des neuen Vertrags über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV) sieht daneben ausdrücklich
eine materiell-strafrechtliche Harmonisierungskompetenz
durch Richtlinien für den Bereich besonders schwerer grenzüberschreitender Kriminalität vor. Zu den dadurch erfassten
Kriminalitätsbereichen sollen von vornherein Terrorismus,
Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung von Frauen und
Kindern, illegaler Drogenhandel, illegaler Waffenhandel,
Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln,
Computerkriminalität und organisierte Kriminalität zählen
(Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV). Dieser Katalog kann aber
jederzeit durch einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erweitert werden (Art. 83
Abs. 1 UAbs. 3 AEUV). Hinzu kommt nach Art. 82 Abs. 2
AEUV erstmalig eine Harmonisierungskompetenz der Ge24
EuGH NJW 1990, 2245 m. Anm. Tiedemann, EuZW 1990,
100; Bleckmann, NJW 1991, 285; vgl. auch Tiedemann, NJW
1990, 2226.
25
Satzger, KritV 2008, 17 (22).
26
Einen Überblick über die Neuerungen des Lissaboner Vertrags geben etwa Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761; Lindner,
BayVBl 2008, 421; Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473;
Terhechte, EuR 2008, 143; Weber, EuZW 2008, 7.
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Mark A. Zöller
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meinschaft für einzelne Bereiche des nationalen Strafprozessrechts, wie die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten oder die Rechte des
Einzelnen und der Opfer im Strafverfahren. Insgesamt würde
mit dem Vertrag von Lissabon daher keine originäre Strafgesetzgebungskompetenz für die EU geschaffen. Jedoch könnten die Mitgliedstaaten in nicht unerheblichem Umfang zum
Erlass von harmonisierten Strafrechtsnormen angewiesen
werden.
Gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von
Lissabon vom 13.12.200727, das Gesetz über die Ausweitung
und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union und das
Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Art. 23, 45 und 93)
waren beim Bundesverfassungsgericht mehrere Verfassungsbeschwerden sowie ein Organstreitverfahren anhängig28, über
die mit Urteil vom 30.6.200929 entschieden wurde. Bereits in
der mündlichen Verhandlung am 10. und 11.2.2009 war deutlich geworden, dass die Mitglieder des zuständigen Zweiten
Senats vor allem die geplante Kompetenzerweiterung der EU
für das Strafrecht kritisch sehen. Sowohl Berichterstatter Udo
di Fabio als auch sein Senatskollege Herbert Landau wiesen
darauf hin, dass mit europäischen Strafgesetzen in die nationale Werteordnung eingegriffen werde. Zudem gebe es auf
EU-Ebene gerade keine öffentliche Begleitung der politischen und parlamentarischen Auseinandersetzungen. Auch in
den Urteilsgründen stellt das BVerfG fest, dass die Zuständigkeiten der EU mit dem Vertrag von Lissabon erheblich
erweitert werden.30 Wegen der besonders empfindlichen
Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch
Straf- und Strafverfahrensnormen seien die vertraglichen
Kompetenzgrundlagen strikt und keinesfalls extensiv auszulegen und ihre Nutzung bedürfe besonderer Rechtfertigung.31
Ein solcher Rechtfertigungsgrund könne etwa die Bekämpfung besonders schwerer Kriminalität sein. Gerade im Hinblick auf die in Art. 83 Abs. 2 AEUV vorgesehene Annexzuständigkeit für eine Angleichung des Strafrechts in bereits
harmonisierten Politikbereichen könne speziell das deutsche
Zustimmungsgesetz nur deshalb (noch) als verfassungskonform beurteilt werden, weil diese Zuständigkeit nach dem
Vertrag eng auszulegen sei.32 Und das notwendige Maß an
demokratischer Legitimation über die mitgliedstaatlichen
Parlamente lasse sich aus dem Blickwinkel des deutschen
Verfassungsrechts nur dadurch gewährleisten, dass der deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3
AEUV genannten Rechte nur nach Weisung des Bundestages
und des Bundesrates ausübt.33 Dennoch hat das BVerfG angesichts der Übertragung von strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen durch den Lissaboner Vertrag an die EU
kein nach Art. 23 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht
mehr hinnehmbares strukturelles Demokratiedefizit feststellen können. Es klingt aber doch ein wenig nach dem sprichwörtlichen „Pfeifen im Walde“, wenn besonders betont wird,
dass der Vertrag von Lissabon hinreichende Anhaltspunkte
für eine verfassungskonforme Auslegung biete.34 Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht werden
zwar generell als besonders sensibel für die demokratische
Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates eingestuft.35 Konsequenzen daraus im Hinblick auf eine mögliche
Verfassungswidrigkeit der Inhalte des Lissaboner Vertrages
finden sich in den Urteilsgründen jedoch nicht. Damit wird
das Gefährdungspotenzial weit reichender strafrechtlicher
Harmonisierungskompetenzen faktisch heruntergespielt. Es
scheint also zumindest im Endergebnis Gnade vor den
Schranken des BVerfG gefunden zu haben.
Damit die Bestimmungen des Lissaboner Vertrages
Rechtswirksamkeit erlangen können, müsste aber nach wie
vor die Mehrheit der Iren in dem für Oktober 2009 vorgesehenen zweiten Referendum dem völkerrechtlichen Vertragswerk zustimmen. Und schließlich verzögert derzeit auch der
als „EU-Reformgegner“ bekannte tschechische Präsident
Vaclav Klaus bewusst die Ausfertigung des tschechischen
Ratifizierungsgesetzes zum Lissaboner Vertrag. Die Überwindung keiner dieser beiden verbliebenen Hürden ist nach
dem heutigen Stand der Dinge sicher.
27
33
Vgl. dazu BT-Drs. 16/8300 sowie ergänzend BT-Drs. 16/8488
und BT-Drs. 8489.
28
Az.: 2 BvR 1010/08, 2 BvR 1022/08, 2 BvR 1259/08, 2
BvE 2/08, 2 BvE 5/08.
29
BVerfG – 2 BvE 2/08, abrufbar unter
http://www.bverfg.de/entscheidungen/es20090630_2bve0002
08htm
30
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 352.
31
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 358.
32
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 361.
III. Die aktuelle Rechtsprechung des EuGH
Kommen wir aber zur aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Über die dogmatischen Grundsätze und
Feinheiten der Kompetenzen zum Erlass europaweit verbindlicher Strafgesetze sieht sich der EuGH in den letzten Jahren
offensichtlich erhaben. Davon zeugen vor allem zwei Entscheidungen, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen:
1. EuGH, Urt. v. 13.9.2005 – Rs. C-176/03
Blicken wir zunächst auf ein Urteil des EuGH vom
13.9.200536, dem folgender Streitfall zugrunde lag: Im Januar
2003 hatte der Rat der Europäischen Union auf Initiative
Dänemarks im Rahmen der Polizeilichen und Justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen, also im Rahmen der 3. Säule
der EU, den Rahmenbeschluss über den Schutz der Umwelt
durch das Strafrecht37 erlassen. Auf diese Weise wollte der
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 365.
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 362.
35
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 252.
36
EuGH JZ 2006, 307 m. Anm. Heger, JZ 2006, 310; vgl.
dazu Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585; Böse, GA 2006,
211; Braum, wistra 2006, 121; Diehm, wistra 2006, 366 (368
ff.); Streinz, JuS 2006, 164; Wuermeling, BayVBl. 2006, 368;
Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (59 ff.); Satzger,
KritV 2008, 17 (22 ff.).
37
ABl. L 29, 55 v. 5.2.2003.
34
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ZIS 7/2009
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Europäische Strafgesetzgebung
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Ministerrat koordiniert gegen die Besorgnis erregende Zunahme der Umweltkriminalität vorgehen. Der Rahmenbeschluss definierte u.a. eine Reihe von Umweltstraftaten als
vorsätzlich (Art. 2) bzw. fahrlässig (Art. 3) begangene Delikte und forderte die Mitgliedstaaten verpflichtend auf, hierfür
strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Nach dem einzelstaatlichen Recht musste die Beteiligung an Vorsatztaten unter
wirksame, angemessene und abschreckende Strafen gestellt
werden, wobei zumindest in schwerwiegenden Fällen auch
Freiheitsstrafen vorzusehen waren, die zu einer Auslieferung
führen können.
Diese Vorgehensweise passte der Kommission nun überhaupt nicht. Sie war der Auffassung, dass nicht die Vorschriften des EU-Vertrages, sondern Art. 175 EGV die geeignete
Rechtsgrundlage für solche Inhalte bot, und hatte daher gemeinsam mit dem Europäischen Parlament schon im Jahr
2001 den Vorschlag einer Richtlinie über den strafrechtlichen
Schutz der Umwelt38 vorgelegt. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten lehnte diesen Vorschlag jedoch ab, so dass der Rat die
vorgeschlagene Richtlinie nicht annahm. Nachdem der Rat
stattdessen den EU-Rahmenbeschluss erlassen hatte, erhob
die Kommission, unterstützt durch das Europäische Parlament, Nichtigkeitsklage.39 In Brüssel war man offensichtlich
pikiert.
Der Gerichtshof stellte sich auf die Seite der Kommission
und argumentierte ausgehend von Art. 29 Abs. 1 und 47
EUV, nach deren Aussage der Vertrag über die Europäische
Union den EG-Vertrag unberührt lässt. Danach habe er darüber zu wachen, dass die Handlungen, von denen der Rat
behauptet, sie fielen unter die Vorschriften über die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, nicht in
die Zuständigkeiten übergreifen, die die Bestimmungen des
EG-Vertrags der Gemeinschaft zuweisen. Und exakt ein
solcher Fall sei hier gegeben: Der Umweltschutz stelle eines
der wesentlichen Ziele der Gemeinschaft dar. Zwar falle –
man höre und staune – grundsätzlich weder das Strafrecht
noch das Strafprozessrecht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft. Dies könne den Gemeinschaftsgesetzgeber jedoch
nicht daran hindern, Maßnahmen in Bezug auf das Strafrecht
der Mitgliedstaaten zu ergreifen, die seiner Meinung nach
erforderlich sind, um die volle Wirksamkeit der von ihm zum
Schutz der Umwelt erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Anwendung wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Sanktionen
durch die zuständigen nationalen Behörden eine zur Bekämpfung schwerer Beeinträchtigungen der Umwelt unerlässliche
Maßnahme darstellt. In Bezug auf den konkret zu entscheidenden Fall ergebe sich, dass der Hauptzweck des Rahmenbeschlusses im Schutz der Umwelt bestehe. Diese Vorschriften hätten nach Ansicht des EuGH wirksam auf der Grundlage des Art. 175 EGV erlassen werden müssen. Dadurch dass
der angegriffene Rahmenbeschluss in diese Zuständigkeiten
übergreife, verstoße er aufgrund seiner inhaltlichen Unteilbarkeit auch in seiner Gesamtheit gegen Art. 47 EUV. Inso-
38
39
KOM (2001) 139 endg.
Auf der Grundlage von Art. 35 Abs. 6 EUV.
fern erklärte der Gerichtshof den Rahmenbeschluss für nichtig.
Auf diese Weise hat der EuGH der EG zum ersten Mal
das Recht zugestanden, sich in den Erlass von Strafrechtsnormen in den Mitgliedstaaten einzumischen.40 Offen blieben
aber zunächst zwei wichtige Fragen, nämlich
1. ob sich die Befugnisse der EG, die Mitgliedstaaten zum
Erlass von harmonisierten strafrechtlichen Bestimmungen
anzuweisen, nur auf den Bereich des Umweltschutzes erstrecken oder sich die Argumentation auch auf alle anderen Politikbereiche der Gemeinschaft bezieht41 und
2. ob die EG nur das Recht besitzt, zu kriminalisierende
Verhaltensweisen festzulegen oder den Mitgliedstaaten auch
die Art und Höhe der Sanktionen vorschreiben kann.
Der juristische Tiefgang der Argumentation des Europäischen Gerichtshofs lässt in der Tat zu wünschen übrig und
erinnert zudem an das Bild eines quengelnden Kindes. Er
lautet nämlich aus Sicht der EG wie folgt: „Eigentlich habe
ich keine Kompetenz, um auf dem Gebiet des Strafrechts
tätig zu werden, außer ich brauche sie wirklich sehr, sehr
dringend“. Das ist natürlich noch näher zu begründen. Aber
einstweilen sollten wir das – selbstverständlich überzogene –
Bild vom EuGH als quengelndem Kind mit in die Betrachtung der zweiten EuGH-Entscheidung nehmen.
2. EuGH, Urt. v. 23.10.2007 – Rs. C-440/05
Auch in dieser zweiten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 23.10.200742 standen sich Kommission und
Rat in einer vergleichbaren Konstellation gegenüber. Hier
ging es um den Rahmenbeschluss zur Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens zur Bekämpfung der Verschmutzung
durch Schiffe,43 den der Rat am 12.7.2005 erlassen hatte.
Hintergrund dieses Rechtsakts war die Auffassung der EU,
dass ein Großteil der globalen Meeresverschmutzung durch
Schiffe mit dem Einleiten von Stoffen (z.B. Öl, Schiffsabwasser und Schiffsmüll) in das Gewässer zu erklären ist.44
Dieser Rahmenbeschluss unterschied sich von der Struktur
des Rahmenbeschlusses zum Schutz der Umwelt dadurch,
dass er nicht nur Mindestvorschriften von Straftatbeständen,
sondern in Anknüpfung an die Intensität der Schädigung von
Wasserqualität, Menschen, Tieren und Pflanzen, auch Art
und Maß der strafrechtlichen Sanktion festlegte (z.B. in
schweren Fällen Freiheitsstrafen im Höchstmaß von mindestens einem bis drei Jahren). Der EuGH entschied den Fall
40
Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (61).
Von einer Beschränkung auf den Bereich des Umweltstrafrechts ging offenbar der Rat aus; vgl. EuGH Rs. C-440/05,
Rn. 44; eine umfassende Annexkompetenz der Gemeinschaft
bejahen bereits auf der Grundlage des Urteils v. 13.9.2005
Heger, JZ 2006, 310 (313); Fromm, ZIS 2007, 26 (27, 29);
Eisele, JZ 2008, 251; Rackow, ZIS 2008, 526 (535).
42
EuGH JZ 2008, 251 m. Anm. Eisele; dazu Fromm, ZIS
2008, 168; ders., ZUR 2008, 301; Šugmann Stubbs/Jager,
KritV 2008, 57 (67 ff.); Satzger, KritV 2008, 17 (22 ff.);
Zimmermann, NStZ 2008, 662.
43
ABl. L 255, 164.
44
Fromm, ZIS 2008, 168 (170).
41
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Mark A. Zöller
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erneut durch Verweis auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts. Zur Begründung führt er an, dass auch die gemeinsame Verkehrspolitik zu den Grundlagen der Gemeinschaft
gehöre. Und nach Art. 80 Abs. 2 EGV45 verfüge der Gemeinschaftsgesetzgeber über eine weit reichende Rechtssetzungsbefugnis u.a. für den Erlass von Maßnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit und aller sonstigen zweckdienlichen Vorschriften im Bereich der Seeschifffahrt. Im Übrigen
sei auch der Umweltschutz als eines der wesentlichen Ziele
der Gemeinschaft Bestandteil der gemeinsamen Verkehrspolitik. Mit identischem Wortlaut im Vergleich zu seiner Entscheidung aus dem Jahr 2005 folgt wiederum das Lippenbekenntnis, dass Strafrecht und Strafprozessrecht grundsätzlich
nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fielen. Doch
könne die EG die Mitgliedstaaten gleichwohl zur Einführung
von Strafrechtsnormen verpflichten, wenn dies eine unerlässliche Maßnahme darstellt, um die volle Wirksamkeit der in
der 1. Säule der EU erlassenen Rechtsnormen zu gewährleisten.46 Anders als in seiner vorangegangenen Entscheidung
stellt der Gerichtshof jedoch ausdrücklich fest, dass die Bestimmung von Art und Maß der anzuwendenden Sanktionen
nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt. Ein Erfolg
war für den Rat damit in casu jedoch nicht verbunden. Da
man die tatbestandlichen Umschreibungen des kriminalisierungswürdigen Verhaltens und seine Rechtsfolgen sachlich
nicht voneinander trennen konnte, wurde der Rahmenbeschluss infolge seiner Unteilbarkeit erneut insgesamt für
nichtig erklärt.
mit der Abschaffung der Drei-Säulen-Struktur der EU de
facto vorweggenommen werden. Damit sind auch eine allgemeine Schwächung des Rates der Europäischen Union und
eine Stärkung der Kommission und des Europäischen Parlaments verbunden.49 So kann beispielsweise die Kommission
im Anwendungsbereich des EG-Vertrages ein Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV) durchführen, um die Mitgliedstaaten zur ordnungsgemäßen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu zwingen. Im Rahmen der 3. Säule der EU
besteht diese Möglichkeit nicht. Auch hat die Kommission
im dortigen Rechtssetzungsverfahren kein Initiativmonopol
für Rechtssetzungsaktivitäten, sondern nur – wie jeder Mitgliedstaat – ein Initiativrecht.50 Zudem unterliegt die Rechtssetzung in der 1. Säule der vollen Mitentscheidung des Europäischen Parlaments (Art. 251 EGV), während das Parlament
bei den Handlungsformen der Polizeilichen und Justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen lediglich eine Stellungnahme
abgeben kann (Art. 39 Abs. 1 EUV).51 Und eine solche Stellungnahme ist der Sache nach nichts anderes als eine unverbindliche Anregung. Vor allem aber geht die Letztentscheidungsbefugnis über die Ausgestaltung des Strafrechts vom
nationalen Gesetzgeber auf die EG über. Schließlich herrscht
im Rechtsrahmen der 1. Säule der EU das (qualifizierte)
Mehrheitsprinzip und nicht das Einstimmigkeitsprinzip der 3.
Säule. Bezogen auf Deutschland bedeutet dies, dass die Bundesrepublik im Extremfall auch Änderungen des Straf- und
Strafprozessrechts umsetzen muss, die sie inhaltlich vollkommen ablehnt und für rechtspolitisch verfehlt hält.52
3. Praktische Konsequenzen
Mit seinem Urteil aus dem Jahr 2007 hat der EuGH klargestellt, dass sich seine Argumentation zugunsten einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG auf alle Gemeinschaftsziele erstreckt, die Festlegung von Art und Höhe strafrechtlicher Sanktionen aber nicht in die Zuständigkeit der
Gemeinschaft fällt. Als Ergebnis dieser Rechtsprechung ist es
der EG nunmehr aber erlaubt, den Mitgliedstaaten durch
Richtlinien verbindliche Vorgaben zur Harmonisierung des
nationalen Strafrechts zu machen, wenn sie nur der Auffassung ist, dass Strafvorschriften eine wesentliche Bedeutung
zur Absicherung der Gemeinschaftsziele, z.B. des Umweltschutzes oder der Verkehrssicherheit, besitzen. Dass von
dieser Befugnis praktisch auch Gebrauch gemacht wird, zeigt
sich beispielhaft an der mittlerweile erlassenen Richtlinie
über den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vom
19.11.2008.47 Maßnahmen der Polizeilichen und Justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen sind auf der Grundlage der
Art. 29 ff. EUV nur noch dann zulässig, wenn diese nicht
auch auf der Grundlage des EGV getroffen werden können.48
Dies bedeutet nichts anderes als dass für den Bereich des
Strafrechts wesentliche Vorgaben des Lissaboner Vertrags
IV. Kritik
Diese EuGH-Rechtsprechung, die vor allem den Interessen
der Kommission und des Europäischen Parlaments entgegen
kommt, ruft sowohl mit Blick auf das geltende Europarecht
als auch auf unser Grundgesetz Kritik hervor.
1. Überspielte Grundsätze des Europarechts
Dem Ansatz des EuGH lässt sich zunächst seine mangelnde
Praktikabilität angesichts der mit ihm verbundenen Rechtsunsicherheit entgegenhalten. Nahezu immer wird man ohne
allzu großen Argumentationsaufwand behaupten können, der
Hauptzweck einer Maßnahme liege in irgendeinem Politikfeld der Gemeinschaft, dem das staatliche Strafrecht dann
dienstbar gemacht werden kann.53 Denn faktisch soll der
Gemeinschaftsgesetzgeber ja nun in der Lage sein, die Mitgliedstaaten zum Erlass von strafrechtlichen Normen zu verpflichten, wenn dies auf EG-Ebene für unbedingt erforderlich
gehalten wird. Problematisch daran ist, dass der EuGH keine
klare Leitlinie aufstellt, wann nun strafrechtliche Maßnahmen
49
45
Krit. zum Rückgriff des EuGH auf Art. 80 Abs. 2 EGV Eisele,
JZ 2008, 251 (252 f.); Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665 f.).
46
Vgl. EuGH JZ 2008, 250.
47
ABl. L 328, 28 v. 6.12.2008; dazu Zimmermann, ZRP
2009, 74.
48
Diehm, wistra 2006, 366 (368).
Douma, EurUP 2005, 249 (259); Wuermeling, BayVBl.
2006, 368 (369).
50
Satzger (Fn. 12), Art. 34 EUV Rn. 15; ders., KritV 2008,
17 (19); Heger, JZ 2006, 310 (311).
51
Wuermeling, BayVBl. 2006, 368 (369).
52
Heger, JZ 2006, 310 (313).
53
Braum, wistra 2006, 121 (124).
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Europäische Strafgesetzgebung
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in diesem Sinne wirklich erforderlich sind.54 Auch findet man
keine Begründung dafür, warum aus dem Bedürfnis für eine
effektive Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nicht nur
eine allgemeine Sanktionsanweisungskompetenz, sondern
auch speziell eine Kompetenz zur Anweisung von Strafrechtsnormen folgen muss.55
Hinzu kommt, dass man das Fehlen einer Kompetenz für
einen Sachbereich dogmatisch nicht einfach dadurch ersetzen
kann, dass man lediglich ein dringendes Bedürfnis hierfür
bejaht. Wo nichts ist, ist eben nichts. Fehlt eine Kompetenz
der Gemeinschaft insgesamt, so lässt sie sich auch nicht als
Anweisungskompetenz bejahen.56 Das ergibt sich nicht nur
allgemein aus den Gesetzen der Logik, sondern speziell für
die EG auch aus dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Dass sich eine zumindest im Wege der Auslegung
(hinreichend sicher) zu gewinnende Ermächtigungsgrundlage
in den Gründungsverträgen nicht finden lässt, gesteht selbst
der EuGH zu.
Insofern hilft es auch nicht weiter, wenn der Europäische
Gerichtshof die strafrechtliche Anweisungskompetenz durch
eine Art Annexkompetenz57 zu begründen versucht. Zum
einen wird das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung faktisch entleert, wenn man das Strafrecht
stets als Annex zu den bestehenden Politikfeldern der Gemeinschaft einstuft.58 Zum anderen würde ein solcher kompetenzergänzender Sachzusammenhang stets voraussetzen, dass
ein Eingreifen der EG in eine ihr nicht zugewiesene Materie
wie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aus der 3. Säule als unerlässliche Voraussetzung einzustufen wäre.59 Gegen die Unerlässlichkeit einer solchen
Vorgehensweise spricht aber schon die Tatsache, dass es
jahrelanger europäischer Praxis entspricht, zu regelnde Sachverhalte mit gleichzeitigem Bezug zur 1. und 3. Säule der EU
eben in zwei voneinander getrennte Rechtsakte, beispielsweise eine Richtlinie und einen Rahmenbeschluss, aufzuspalten
und diese getrennt voneinander zu erlassen. Der EuGH ordnet
aber unter Abschaffung dieser gängigen Praxis schlicht den
strafrechtlichen Bereich der ersten Säule der EU zu, ohne
sich dafür auf eine ausdrückliche Billigung der Mitgliedstaaten berufen zu können.60 Und bei genauer Betrachtung lässt
sich bei der Harmonisierung der nationalen Strafrechtssysteme die Aufspaltung in zwei Rechtsakte auch in Zukunft nicht
vermeiden.61 Denn Art und Maß der Sanktionen, also z.B.
auch konkrete Strafrahmen, ordnet auch der EuGH nach wie
vor dem Bereich der 3. Säule zu, die dann mittels eines Rahmenbeschlusses festzulegen sind. Nur das „Ob“ des Einsatzes
von Kriminalstrafrecht, also beispielsweise die Umschrei54
Krit. auch Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665).
Heger, JZ 2006, 310 (312).
56
Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (586).
57
In diesem Sinne Beukelmann, NJW-Spezial 2006, 183; Eisele, JZ 2008, 251 (252); Satzger, KritV 2008, 17 (24).
58
Braum, wistra 2006, 121 (124).
59
Vgl. zu dieser Voraussetzung aus deutscher Sicht BVerfGE 3,
407 (423); 98, 265 (299); 106, 62 (115).
60
Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (71).
61
Ebenso Fromm, ZIS 2008, 168 (177).
55
bung tatbestandsmäßiger Verhaltensweisen, kann auf Initiative der EG im Wege einer Richtlinie statuiert werden.
Dogmatische Zweifelhaftigkeiten müssen sich die Luxemburger Richter aber auch in anderem Zusammenhang
vorwerfen lassen. So ist unbestritten, dass der EG-Vertrag in
seiner geltenden Fassung lediglich an zwei Stellen, in den
Art. 135 und 280 EGV, überhaupt Bezug auf das Strafrecht
nimmt, und dies jeweils nur in negativer Form mit der eindeutigen Formulierung: „Die Anwendung des Strafrechts der
Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleiben von diesen
Maßnahmen unberührt“. Daraus mit dem EuGH den Schluss
zu ziehen, dass diese Formulierungen strafrechtlichen Harmonisierungsbestrebungen der EG nicht entgegen stehen,62
ist doch – vorsichtig gesagt – eine gewagte These. Logisch
scheint doch ein Erst-recht-Schluss in die entgegengesetzte
Richtung zu deuten.63 Denn wenn die EG nicht einmal zum
Schutz ihrer originären Rechtsgüter eine Harmonisierung der
darauf bezogenen nationalen Strafnormen verlangen kann,
dann wohl auch nicht zum Schutz anderer Gemeinschaftsinteressen.
Darüber hinaus überspielt der Europäische Gerichtshof
mit seiner richterrechtlichen Konstruktion, dass der geltende
EU-Vertrag in Art. 42 bereits explizit eine Möglichkeit enthält, Maßnahmen aus den in Art. 29 EUV genannten Bereichen zu „vergemeinschaften“.64 Ein Vorgehen nach dieser als
„Passerelle“ bezeichneten „Brückenklausel“ setzt allerdings
einen einstimmigen Ratsbeschluss und dessen Annahme
durch die Mitgliedstaaten nach deren verfassungsrechtlichen
Vorschriften voraus. Dies zeigt, dass für den Bereich der
Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
bereits ein vereinfachtes Verfahren zur Vertragsänderung
vorgesehen ist, über dessen Existenz sich das Gericht stillschweigend hinwegsetzt.
Schließlich passt das Konzept des EuGH auch nicht zu
den Inhalten des Vertrags von Lissabon. Dieser enthält zwar
(in Art. 83 Abs. 2 AEUV) ausdrücklich eine strafrechtliche
Annexkompetenz für alle Politikfelder, in denen bereits europäische Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind. Diese
Kompetenznorm des Lissaboner Vertrags erstreckt sich auch
auf die Rechtsfolgenseite und geht somit sogar über die
Rechtsprechung des EuGH hinaus. Allerdings besitzt der
Lissaboner Vertrag eine wichtige „Notbremse“. Danach können sich die Mitgliedstaaten der Harmonisierung widersetzen,
wenn ansonsten grundlegende Aspekte der nationalen Strafrechtsordnung berührt sind (Art. 83 Abs. 3 AEUV). Diese
Möglichkeit verweigert der EuGH den Mitgliedstaaten. Im
Ergebnis beschneidet er das Mitspracherecht in Strafsachen
also stärker als es der den Bürgern ohnehin schwer zu vermittelnde Reformvertrag bewirken würde65 – ein höchst zweifelhaftes Ergebnis!
62
EuGH JZ 2006, 307 (310).
Wegener/Greenawalt, ZUR 2005, 585 (587); Heger, JZ 2006,
310 (312); Rackow, ZIS 2008, 526 (534).
64
Dazu Jour-Schröder/Konow, EuZW 2006, 368.
65
Zimmermann, NStZ 2008, 662 (665).
63
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2. „Maastricht revisited“
Aber auch die Frage, inwiefern sich die aktuelle Rechtsprechung des EuGH mit der Grundkonzeption des deutschen
Verfassungsrechts und vor allem mit der Rechtsprechung des
BVerfG in Einklang bringen lässt, birgt Zündstoff. Dies hat
jüngst auch die Entscheidung des BVerfG vom 30.6.200966
über das deutsche Zustimmungsgesetz und die Begleitgesetzgebung zum Lissaboner Vertrag noch einmal deutlich gemacht.
In Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG heißt es nämlich klar und unmissverständlich: „Die Bundesrepublik Deutschland wirkt
zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen,
rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und
dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen
diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Inwieweit diesen Vorgaben
Rechnung getragen wird, hatte das BVerfG schon im Jahr
1993 anhand des Vertrags von Maastricht zur Gründung der
EU zu überprüfen. Dabei wies es darauf hin, dass das Demokratieprinzip die Bundesrepublik zwar nicht an der Mitgliedschaft in einer supranational organisierten zwischenstaatlichen Gemeinschaft hindere. Allerdings müsse eine vom Volk
ausgehende Legitimation und Einflussnahme auch innerhalb
eines solchen Staatenverbunds gesichert sein. Insbesondere
müssten dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben.67 Dies folge aus
dem nach Art. 79 Abs. 3 GG unantastbaren Gehalt des Demokratieprinzips. Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG mögliche Bedenken im Hinblick auf eine Verletzung des Demokratieprinzips vor allem mit dem Hinweis auf das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung zu entkräften versucht.68 Und
nahezu identisch argumentieren die Karlsruher Richter nun
auch in der Lissabon-Entscheidung.69 Aber das Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung existiert nach den aktuellen
Voten des EuGH im Bereich des Strafrechts nur noch auf
dem Papier. Und auch dass diese Entwicklung von für den
Bundestag voraussehbaren Voraussetzungen oder sogar einer
parlamentarischen Zustimmung der Bundesregierung abhinge, wie es vom BVerfG für den Weg zu einer stufenweisen
Integration der europäischen Rechtsgemeinschaft gefordert
wird, kann man zumindest bei dem rein richterrechtlichen
„Husarenstück“ des EuGH kaum guten Gewissens behaupten.
Es überspielt vielmehr die Tatsache, dass jedenfalls das
Grundgesetz den deutschen Staatsorganen die Übertragung
der Kompetenz-Kompetenz an die EU untersagt.70 An der
Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip bestehen daher
Zweifel. Ob sich diese Zweifel für die Zukunft nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags mit der vom BVerfG jüngst
angemahnten, verfassungskonformen und engen Auslegung
der strafrechtlichen Harmonisierungskompetenzen71 werden
beseitigen lassen, erscheint zweifelhaft. Dasselbe gilt im
Übrigen für die Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes, der
in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ausdrücklich erwähnt und vom
BVerfG zuletzt in seinen Entscheidungen zum Europäischen
Haftbefehlsgesetz72 und zur Zustimmungs- und Begleitgesetzgebung zum Lissaboner Vertrag73 noch einmal ausdrücklich angemahnt worden ist.
Dabei entbehrt eine solche Einschätzung nicht einer gewissen Ironie. Denn die Befürchtung eines Defizits an demokratischer Legitimation ist vom Grundsatz her eigentlich eher
bei der intergouvernementalen Struktur der 3. Säule der EU
angebracht.74 Schließlich hat das Europäische Parlament hier
keine nennenswerten Einflussmöglichkeiten auf das Zustandekommen von Rechtsakten. Demokratische Legitimation
wird nur über die nationalen Regierungsvertreter im Rat der
Europäischen Union, speziell die Justiz- und Innenminister,
vermittelt. Diese haben ihre Legitimation, für das Staatsvolk
zu handeln, wiederum durch die Bundestagswahlen erhalten.
Nachdem der Rat sich auf den Erlass eines Rahmenbeschlusses verständigt hat, ist aber stets auch das nationale Parlament
als Gesetzgeber an das darin festgehaltene Ergebnis gebunden. Mit dieser generellen Machtlosigkeit der nationalen
Parlamente und des Europäischen Parlaments im Zusammenhang mit der intergouvernementalen Zusammenarbeit darf
jedoch die vom EuGH angestoßene Entwicklung nicht verwechselt werden. Zwar verlagert der Europäische Gerichtshof
die Materie der Strafgesetzgebung in den Bereich des Gemeinschaftsrechts und damit in einen Bereich, der eigentlich
stärkere Mitwirkungsbefugnisse des Europäischen Parlaments vorsieht. Er tut dies aber ohne sich auf eine ausdrückliche Legitimation der Mitgliedstaaten berufen zu können. Und
die Annahme von Kompetenzen in einem demokratisch weniger defizitären Bereich ohne jede demokratische Legitimation ist nun einmal immer noch weniger (eigentlich überhaupt
nicht) demokratisch als die Ausübung von über die Gründungsverträge ausdrücklich vorgesehenen Kompetenzen, bei
denen die demokratische Legitimation nach unserem deutschen Rechtsverständnis doch etwas ausgeprägter sein könnte.
V. Ausblick
Es kommt somit Einiges auf uns zu in Sachen „Europäisches
Strafrecht“. Schließlich sind die Erwägungen des EuGH
theoretisch auch auf die Europäisierung von höchst aktuellen
und praxisrelevanten Bereichen, etwa auf das Wirtschaftsstrafrecht, zu übertragen.75 Und dass sich der Gerichtshof von
seiner grundsätzlichen Linie nicht abbringen lassen will, zeigt
auch eine erst im Februar dieses Jahres ergangene Entscheidung in Bezug auf die EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspei-
66
BVerfG – 2 BvE 2/08.
BVerfGE 89, 155 (156) – LS 4.
68
BVerfGE 89, 155 (192 ff.).
69
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 226,
272.
70
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 233.
67
71
BVerfG – 2 BvE 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 358 ff.
BVerfGE 113, 279 (299).
73
BVerfG – 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 251.
74
Vgl. nur Satzger, KritV 2008, 17 (20).
75
Heger, JZ 2006, 310 (312).
72
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ZIS 7/2009
348
Europäische Strafgesetzgebung
_____________________________________________________________________________________
cherung von Telekommunikationsdaten.76 Auch hier hat der
EuGH einen klar von strafrechtlichen Erwägungen geprägten
Bereich dem Schutz des Binnenmarkts und damit dem Gemeinschaftsrecht zugeschlagen.
Nun mag man zwar auf den ersten Blick meinen, das
Strafrecht sei als eine Art Durchsetzungsmechanismus des
Gemeinschaftsrechts nun an einem Punkt angelangt, an dem
sich alle anderen Rechtsbereiche ohnehin schon seit geraumer
Zeit befinden. Aber damit würde man den Besonderheiten
des Strafrechts nicht gerecht. Es spiegelt gerade ein individuelles Gleichgewicht von Allgemein- und Individualinteressen
wider, das durch nationale Traditionen und Wertvorstellungen geprägt ist.77 Angesichts der Tatsache, dass jeder der 27
Mitgliedstaaten eine eigenständige Kriminalpolitik betreibt
und die Befugnis hierzu bislang gerade nicht an eine supranationale Organisation abgetreten wurde, kann man in diesem
Bereich bei Harmonisierungsmaßnahmen gerade nicht ohne
Gefahr mit dem effet utile-Gedanken argumentieren.78
Die Bemühungen des EuGH um eine faktische Vorwegnahme von Inhalten des Lissaboner Vertrags auf der Grundlage des bereits geltenden Rechts setzen im Übrigen ein falsches Zeichen und kommen zu einem denkbar ungünstigen
Zeitpunkt. Denn es wird den ohnehin europamüden EUBürgern nichts anderes ins Stammbuch geschrieben, als dass
es auf ihre Zustimmung oder Ablehnung zu zentralen Fragen
ohnehin nicht ankommt. Dies verstärkt nur das ungewisse
Gefühl, mit der EU eine Entwicklung ins Rollen gebracht zu
haben, die sich durch nichts und niemanden stoppen lässt und
an den Menschen vorbei agiert. Die geringe Wahlbeteiligung
von lediglich 43,3 % bei der Europawahl am 7.6.2009 spricht
in diesem Zusammenhang Bände.
Es könnte zudem sein, das der EuGH der gesamteuropäischen Entwicklung einen Bärendienst erwiesen hat.79 In Politikbereichen nämlich, in denen der EuGH Rahmenbeschlüsse
für unzulässig hält, der Rat sich aber nicht auf Regelungen im
Bereich der 1. Säule einigen kann, bleibt die Materie letztlich
unionsrechtlich ungeregelt.80 Pattsituationen zwischen Kommission und Rat sind damit vorprogrammiert, die Fortentwicklung eines europäisch harmonisierten Straf- und Strafprozessrechts blockiert. Es zeigt sich hier ein unheilvoller
Trend: Man versucht, auf europäischer Ebene Tatsachen zu
schaffen, ohne dass es hierfür durch die Regierungen der
Mitgliedstaaten, vor allem aber durch die diesen in ihr politisches Amt verhelfenden EU-Bürger, eine wirkliche Zustimmung gibt. Man sieht und versteht zwar allgemein das Bedürfnis für eine Zusammenarbeit im Bereich von Polizei und
Justiz auf europäischer Ebene, will aber nationalstaatliche
Kompetenzen nicht wirklich aus der Hand geben. Dies führt
zu rechtsstaatlich bedenklichen Auswüchsen. So operierte
etwa das europäische Polizeiamt Europol über Jahre hinweg
ohne ausreichende rechtliche Grundlage – und tut dies möglicherweise bis heute. Strafverfolgungsdaten wurden und werden zwischen den Mitgliedstaaten der EU ausgetauscht, ohne
dass ausreichende Datenschutzvorschriften auf europäischer
Ebene bestehen. Weitere Beispiele gäbe es zuhauf. Anspruch
und Wirklichkeit klaffen also gerade im Bereich des „Europäischen Strafrechts“ besonders deutlich auseinander. Damit
ist zugleich aus deutscher Sicht ein Abschied von Garantien
verbunden, die uns auf der Grundlage des „Erfolgsmodells
Grundgesetz“ in 60 Jahren lieb und teuer geworden sind.
Dazu zählen insbesondere auch demokratische und rechtsstaatliche Errungenschaften. Natürlich setzt jede Beteiligung
an supranationalen Organisationen die Bereitschaft voraus,
national Abstriche zugunsten der internationalen gemeinsamen Sache zu machen. Aber im Augenblick scheint es, als
rüttele Europa längst an den Grundfesten der Ewigkeitsgarantie in Art. 79 Abs. 3 GG. Das war mit der Einführung von
Vorschriften wie Art. 23 GG nicht gemeint und dagegen
sollten wir als Bürger uns wehren. Oder ist das Prinzip der
drei Affen nach alledem vielleicht doch die beste Lösung?
76
EuGH JZ 2009, 466 m. Anm. Ambos, JZ 2009, 468; Frenz,
DVBl 2009, 374; Petri, EuZW 2009, 214; vgl. auch Mayer,
K&R 2009, 313; Zerdick, RDV 2009, 56.
77
Vgl. BVerfG – 2/08 vom 30.6.2009, Absatz-Nr. 253;
Šugmann Stubbs/Jager, KritV 2008, 57 (58).
78
Satzger, KritV 2008, 17 (23).
79
So Rackow, ZIS 2008, 526 (536); von einem möglichen
„Pyrrhussieg der Kommission“ spricht Heger, JZ 2006, 310.
80
Streinz, JuS 2006, 164 (167).
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349
Immunität und IStGH
Zur Bedeutung völkerrechtlicher Exemtionen für den Internationalen Strafgerichtshof
Von RiLG Dr. Helmut Kreicker, Hildesheim*
Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat im März
2009 einen Haftbefehl gegen den amtierenden Präsidenten
des Sudan, Omar al Bashir, erlassen. Staatsoberhäupter
genießen jedoch nach geltendem Völkergewohnheitsrecht
Immunität. Diese gilt, wie der IGH im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen Belgien im Jahr 2002 ausdrücklich festgestellt hat, selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen.
Der Haftbefehl gibt deshalb Anlass, über die Beachtlichkeit
völkerrechtlicher Immunitäten für den IStGH nachzudenken.
In March 2009, the International Criminal Court (ICC) issued a warrant of arrest against the incumbent President of
Sudan, Omar al Bashir. Heads of State, however, enjoy immunity according to customary international law. This immunity applies, as the ICJ has confirmed in its decision Democratic Republic of Congo against Belgium in 2002, even to
international crimes. The warrant of arrest against al Bashir,
therefore, gives cause for discussing whether international
immunities are of relevance for the ICC.
I. Der Immunitätsausschluss in Art. 27 IStGH-Statut
Auf den ersten Blick scheint es, als lasse sich die Frage, ob
völkerrechtliche Immunitäten der Jurisdiktionsgewalt des
IStGH Schranken setzen können, leichthin verneinen: Art. 27
Abs. 2 IStGH-Statut1 normiert einen pauschalen und generellen Immunitätsausschluss; jegliche amtliche Eigenschaft oder
Immunität wird für unbeachtlich erklärt.2 Art. 27 Abs. 2
IStGH-Statut lautet:
„Immunitäten oder besondere Verfahrensregeln, die nach
innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der
amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern
den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit
über eine solche Person.“
Doch griffe es zu kurz, wenn man schlicht unter Verweis
auf Art. 27 IStGH-Statut behauptete, Immunitäten seien für
den IStGH unbeachtlich.3 Vielmehr ist zu fragen, inwieweit
dieser Immunitätsausschluss völkerrechtskonform und damit
rechtswirksam ist. Denn der IStGH wurde von einzelnen
Staaten – den Vertragsstaaten – durch einen völkerrechtlichen
Vertrag – das Römische Statut – als eigenständige internationale Organisation gegründet; er ist kein Organ der Vereinten
* Dr. Helmut Kreicker ist Richter am Landgericht Hildesheim (Niedersachsen), dort tätig im Schwurgericht und war
bis 2005 Leiter des Referats „Internationales Strafrecht und
Völkerstrafrecht“ am Freiburger Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht.
1
Deutsche Übersetzung in BGBl. 2000 II, S. 1393.
2
Vgl. Gaeta, in: Cassese u.a. (Hrsg.), Rome Statute of the International Criminal Court, Bd. 1, 2002, S. 975 (S. 978, 990 ff.).
3
So aber Gornig, in: Ipsen u.a. (Hrsg.), Recht – Staat – Gemeinwohl, Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, S. 457
(S. 484).
Nationen.4 Einzelne Staaten können aber nicht dadurch, dass
sie gemeinsam ein internationales Gericht gründen, diesem
konstitutiv Kompetenzen zuerkennen, die sie selber nicht
haben. Jede Kompetenz des IStGH muss sich deshalb aus den
völkerrechtlichen Kompetenzen der Vertragsstaaten oder aus
dem übrigen Völkerrecht, namentlich dem Völkergewohnheitsrecht, ableiten lassen. Dies gilt auch für die in Art. 27
IStGH-Statut verankerte Befugnis des Gerichtshofs, Gerichtsbarkeit ungeachtet jeglicher völkerrechtlicher Exemtionen auszuüben.
II. Pauschalverzicht der Vertragsstaaten auf ihnen zustehende Immunitäten
Aus den vorstehenden Überlegungen folgt, dass Art. 27
IStGH-Statut unproblematisch insofern völkerrechtskonform
und rechtswirksam ist, als völkerrechtliche Immunitäten von
Funktionsträgern von Vertragsstaaten des Statuts für unbeachtlich erklärt werden: Die – derzeit 109 – Vertragsstaaten
des IStGH haben mit der Ratifikation des Römischen Statuts
auch dessen Art. 27 akzeptiert. Sie haben deshalb mit der
Ratifikation implizit eingewilligt, dass völkerrechtliche Exemtionen ihrer Funktionsträger einer Strafverfolgung durch
den IStGH keine Schranke setzen. Die Vertragsstaaten haben
mithin ex ante auf sämtliche ihnen zustehenden Immunitäten
und sonstigen Exemtionen (etwa Unverletzlichkeitsgewährleistungen)5 gegenüber dem IStGH verzichtet.6
Alle völkerrechtlichen Exemtionen – von der Staatenimmunität über die diplomatischen und konsularischen Immunitäten bis hin zur Immunität amtierender Staatsoberhäupter –
sind also für den IStGH ohne weiteres dann unbeachtlich,
wenn es um die Strafverfolgung von Funktionsträgern – etwa
4
Oellers-Frahm, EuGRZ 2003, 107 (110).
Zur Terminologie vgl. Kreicker, Völkerrechtliche Exemtionen, Grundlagen und Grenzen völkerrechtlicher Immunitäten
und ihre Wirkungen im Strafrecht, 2007, S. 9 ff.
6
Ambos, Internationales Strafrecht, 2. Aufl. 2008, § 8 Rn. 66;
Kreicker (Fn. 5), S. 218, 290, 760; ders., HuV-I 2008, 157
(161); Kreß, GA 2003, 25 (38); Kreß/Prost, in: Triffterer
(Hrsg.), Commentary on the Rome Statute, 2. Aufl. 2008,
Art. 98 Rn. 13; Meißner, Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof, 2003, S. 123 f., 130, 213; Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (427); Uerpmann-Wittzack, AVR
44 (2006), 33 (39); Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007,
Rn. 613 Fn. 549; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (452, 456 f.).
Völkerrechtliche Exemtionen werden nie im persönlichen
Interesse der exemtionsberechtigten Person, sondern ausschließlich im Interesse des Staates bzw. der internationalen
Organisation gewährt, für den bzw. die die betreffende Person tätig ist, so dass der Staat bzw. die internationale Organisation – ohne Rücksicht auf die exemtionsberechtigte Person
– einen Verzicht aussprechen kann.
5
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ZIS 7/2009
350
Immunität und IStGH
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Soldaten,7 Verwaltungsbeamte, Diplomaten, Staatsoberhäupter oder Regierungsmitglieder – eines Staates geht, der das
Römisches Statut ratifiziert hat.8 Unerheblich ist, welche
Staatsangehörigkeit ein Beschuldigter hat.
III. Irrelevanz von Immunitäten bei Verfolgungsersuchen
des UN-Sicherheitsrates
Art. 13 lit. b IStGH-Statut bestimmt, dass der Gerichtshof
auch dann wegen völkerrechtlicher Verbrechen Ermittlungen
aufnehmen und Strafverfahren durchführen darf, wenn eine
Situation – im Sinne eines Geschehenskomplexes – der Anklagebehörde des Gerichtshofs vom UN-Sicherheitsrat durch
eine Resolution nach Kapitel VII UN-Charta unterbreitet
wird. Nur bei einem derartigen Verfolgungsersuchen des UNSicherheitsrates ist der IStGH, wie sich aus Art. 12 Abs. 2
IStGH-Statut ergibt, auch für Taten zuständig, die weder im
Hoheitsgebiet noch von einem Staatsangehörigen eines Vertragsstaates oder eines Staates begangen wurden, der im
Einzelfall die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt hat – eine
angesichts der Geltung des Universalitätsprinzips bei Völkerstraftaten9 völkerrechtlich nicht gebotene und auch rechtspolitisch verfehlte Beschränkung der Zuständigkeit des IStGH.
Von der ihm durch Art. 13 lit. b IStGH-Statut eingeräumten
Möglichkeit hat der UN-Sicherheitsrat bereits Gebrauch
gemacht: Mit Resolution 1593 (2005) vom 31.3.2005 überwies er die Situation im westsudanesischen Darfur – wegen
dort verübter Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Kriegsverbrechen ist der eingangs erwähnte Haftbefehl gegen
al Bashir ergangen – an den Gerichtshof.10
Gemäß Art. 24 Abs. 1 UN-Charta haben die UN-Mitglieder
dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung
des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit übertragen sowie anerkannt, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe in ihrem Namen handelt. Nach
Art. 25 UN-Charta sind die UN-Staaten verpflichtet, Beschlüsse des Sicherheitsrates anzunehmen. Die UN-Mitglieder
haben sich mithin verpflichtet, sämtliche Maßnahmen des
Sicherheitsrates zu akzeptieren, und sich mit hieraus folgenden Eingriffen in ihre völkerrechtlichen Rechtspositionen
vorab einverstanden erklärt.11
7
Eine besondere Stellung genießen unter Umständen jedoch
Soldaten, deren Einsatz vom UN-Sicherheitsrat autorisiert
worden ist. Siehe hierzu unten VI.2.
8
Einem Vertragsstaat gleichzustellen sind Staaten, die im
Einzelfall nach Art. 12 Abs. 2 IStGH-Statut die Gerichtsbarkeit des IStGH anerkannt haben.
9
Näher hierzu Kreicker, in: Eser/ders. (Hrsg.), Nationale Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1: Deutschland,
2003, S. 250 ff.
10
Vgl. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (127 f.); Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (590 ff.); Contag, Der internationale Strafgerichtshof im System kollektiver Sicherheit,
2009, S. 131 ff.; Kreß, in: Kempf u.a. (Hrsg.), Festschrift für
Christian Richter II: Verstehen und Widerstehen, 2006,
S. 319 (325 ff.).
11
Delbrück, in: Simma (Hrsg.), Charter of the United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 25 Rn. 4 ff.
Wenn der UN-Sicherheitsrat nach Art. 13 lit. b IStGHStatut eine Situation an den Gerichtshof überweist, so heißt
dies notwendigerweise, dass er dem IStGH zugleich gestattet,
die für völkerrechtliche Verbrechen Verantwortlichen zu
verfolgen. Sofern in einer solchen Resolution nicht ausdrücklich bestimmte Personen oder Personengruppen von der Verfolgungszuständigkeit des IStGH ausgenommen werden,
bedeutet dies, dass auch völkerrechtliche Immunität genießende Funktionsträger von der Verfolgungsermächtigung
umfasst sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich um
Funktionsträger von Vertragsstaaten des Römischen Statuts
oder von Drittstaaten handelt. Mit einer Resolution des UNSicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta i.V.m. Art. 13
lit. b IStGH-Statut werden also völkerrechtliche Immunitäten
etwaiger Beschuldigter implizit für unbeachtlich erklärt.
Einen damit verbundenen Eingriff in seine völkerrechtlichen
Rechtspositionen muss der Staat, in dessen Interesse eine
Immunität gewährt wird, nach Art. 25 UN-Charta akzeptieren.
Sämtliche völkerrechtlichen Exemtionen sind mithin für
den IStGH unbeachtlich, wenn ein Strafverfahren auf einen
Tätigwerden des UN-Sicherheitsrates nach Art. 13 lit. b
IStGH-Statut beruht und der Sicherheitsrat in der betreffenden Resolution nicht ausdrücklich bestimmte Einschränkungen der Verfolgungszuständigkeit festgelegt hat.12 In solchen
Fällen hat Art. 27 IStGH-Statut lediglich deklaratorische
Bedeutung.
Praktische Relevanz kann der Exemtionsausschluss durch
UN-Resolutionen nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut aber lediglich für die Immunitäten von Funktionsträgern von NichtVertragsstaaten des Römischen Statuts erlangen, weil für
Funktionsträger von Vertragsstaaten bereits der oben dargelegte pauschale Exemtionsverzicht durch Ratifikation des
Statuts eingreift.
Unter anderem mit der hier skizzierten Argumentation hat
die Vorverfahrenskammer I des IStGH in ihrer Haftbefehlsentscheidung vom 4.3.2009 – zutreffend – eine Immunität
des amtierenden Staatspräsidenten des Sudan al Bashir verneint:13 Da der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1593 (2005)
dem IStGH die Situation in Darfur unterbreitet hat, ohne
Funktionsträger des Sudan von der Verfolgungsermächtigung
auszunehmen, stand ungeachtet des Umstandes, dass der
12
Ebenso Akande, AJIL 98 (2004), 407 (417); Gaeta, JICJ 1
(2003), 186 (192 f.); Kreicker, HuV-I 2008, 157 (161 f.);
Kreß, GA 2003, 25 (39); Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397
(427); Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (41 f., 55);
Wirth, CLF 12 (2001), 429 (442). Ähnlich auch Alebeek,
Immunity of States and Their Officials, 2008, S. 278, 290.
Diese Argumentation greift allerdings nicht in Bezug auf
Funktionsträger der Staaten, die keine UN-Mitgliedsstaaten
sind. Dies sind aber lediglich das Kosovo, die Republik China (Taiwan) und die Vatikanstadt.
13
Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of
Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009,
ICC-02/05-01/09-3, Ziff. 45. Vgl. diesbezüglich auch Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (128 f.); Kreicker, HuV-I 2008,
157 (161 f.).
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351
Helmut Kreicker
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Sudan das Römische Statut nicht ratifiziert hat, dem am
14.7.2008 vom Ankläger des IStGH gemäß Art. 58 IStGHStatut beantragten Erlass eines Haftbefehls gegen al Bashir
keine völkerrechtliche Immunität, insbesondere keine Immunität als Staatsoberhaupt, entgegen. Auf die – noch zu diskutierende – Frage, ob die Immunität amtierender Staatsoberhäupter bei Verfahren vor dem IStGH eine völkergewohnheitsrechtliche Ausnahme erfährt, kam es im Fall al Bashir
deshalb nicht an.
IV. Immunitäten für Funktionsträger von Drittstaaten
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut vermag nicht mit konstitutiver
Wirkung die Unwirksamkeit von Immunitäten der Funktionsträger von Nicht-Vertragsstaaten festzulegen; dem steht das
allgemeine Verbot von Verträgen zu Lasten Dritter (Art. 34
WVRK) entgegen (pacta tertiis nec nocent ne prosunt).14 Für
Drittstaaten, also Staaten, die das Römische Statut nicht ratifiziert haben, stellt dieses eine unverbindliche res inter alios
acta dar; ihnen gegenüber kann der IStGH keine Rechte – wie
das Recht auf Nichtbeachtung völkerrechtlicher Immunitäten
– geltend machen, die sich nicht entweder aus einer – durch
Delegation auf den IStGH übertragenen – völkerrechtlichen
Kompetenz eines Vertragsstaates oder aus dem auch für
Drittstaaten verbindlichen Völker(gewohnheits-)recht ergeben.
Zur Beantwortung der Frage, inwieweit Exemtionen von
Funktionsträgern von Drittstaaten für den IStGH beachtlich
sind, muss deshalb – sofern nicht der UN-Sicherheitsrat nach
Art. 13 lit. b IStGH-Statut tätig geworden ist – zwischen den
verschiedenen völkerrechtlichen Exemtionen differenziert
werden.15
1. Die Staatenimmunität als Strafverfolgungshindernis
a) Der Grundsatz der Staatenimmunität
Aus dem völkerrechtlichen Fundamentalprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta) folgt die
– auch als eigenständiger Rechtssatz des Völkergewohnheitsrechts geltende – Staatenimmunität: Grundsätzlich darf kein
Staat einen anderen Staat seiner nationalen Gerichtsbarkeit
unterwerfen.16 Damit nämlich würde er sich gegenüber dem
anderen Staat eine höherrangige Stellung anmaßen. Die Staatenimmunität untersagt in erster Linie zivilrechtliche Klagen
gegen einen Staat vor Gerichten eines anderen Staates. Allerdings gilt sie heutzutage nur für hoheitlich-staatliche Tätigkeit (acta iure imperii), nicht jedoch für privatwirtschaftliches
Handeln der Staaten (acta iure gestionis).17
Die Staatenimmunität erstreckt sich auch auf natürliche
Personen. Diese sind in Bezug auf ihr hoheitliches Handeln
14
Akande, AJIL 98 (2004), 407 (418 f., 421); Kreß, GA 2003,
25 (39 f.); Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (35 ff.).
15
Auf die besondere Rechtsstellung von Soldaten wird unten
unter VI. gesondert eingegangen.
16
Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, Rn. 658 ff.; Epping,
in: Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 26 Rn. 17 ff.
17
BVerfGE 16, 27 (33 ff., 51 f., 61) = NJW 1963, 1732
(1732 f., 1735).
für einen Staat fremder Gerichtsbarkeit grundsätzlich entzogen, und zwar unabhängig davon, ob sie – etwa als Beamte
oder Soldaten – in einem festen Dienstverhältnis zu einem
Staat stehen oder nicht.18 Denn mit der Inanspruchnahme von
Personen für Handlungen, die einem anderen Staat als hoheitliches Handeln zurechenbar sind, würde man indirekt Gerichtsbarkeit über einen fremden Staat ausüben.19
Für das Strafrecht bedeutet dies, dass die Staatenimmunität einer Strafverfolgung staatlicher Funktionsträger wegen
hoheitlicher Handlungen, die als Handlungen in Ausübung
ihres Amtes einem anderen Staat zuzurechnen sind, prinzipiell entgegensteht.20 Die Staatenimmunität ist auch in ihrer
Ausprägung als Strafverfolgungshindernis völkergewohnheitsrechtlich anerkannt.21 Sie ist eine Immunität ratione
materiae (handlungsbezogene Immunität), da sie nicht bestimmte Personen als solche von fremder Gerichtsbarkeit
befreit, sondern „nur“ eine Strafverfolgung wegen hoheitlicher Amtshandlungen für einen anderen Staat untersagt,
dafür aber für alle staatlichen Funktionsträger gleichermaßen
gilt.
b) Nichtgeltung der Staatenimmunität bei völkerrechtlichen
Verbrechen
Die völkerrechtlichen Verbrechen, die der Gerichtsbarkeit
des IStGH unterfallen – Völkermord, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und, vorbehaltlich einer
Einigung über die Verbrechensdefinition, das Verbrechen der
18
BGH NJW 1979, 1101 (1102); Ambos, in: Joecks/Miebach
(Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 1,
2003, Vor § 3 Rn. 106; Folz/Soppe, NStZ 1996, 576 (576,
578); Kreicker (Fn. 5), S. 51 f., 109 ff. m.w.N.; Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (400 ff., 411 f.). Die Staatenimmunität in ihrer Ausprägung als Immunität natürlicher Personen wird häufig auch als „Act of State-Doktrin“ bezeichnet;
vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 298 f.
19
Die Staatenimmunität in ihrer Ausprägung als Immunität
natürlicher Personen ist seit dem „McLeod-Fall“ aus dem
Jahr 1837 (hierzu Kreicker [Fn. 5], S. 110 f.) in der Völkerrechtspraxis anerkannt.
20
BVerfGE 96, 68 (85, 91) = NJW 1998, 50 (53 f.); BGHSt
39, 260 (263) = NJW 1993, 3147 (3147); House of Lords,
2. Entscheidung im Fall Pinochet vom 24.3.1999, Votum von
Lord Browne-Wilkinson, HRLJ 1999, 61 (69), Votum von
Lord Millet, HRLJ 1999, 61 (98); Ambos (Fn. 6), § 7
Rn. 106; ders. (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 106; Cryer et al., International Criminal Law, 2007, S. 423. Ausführlich zur strafrechtlichen Relevanz der Staatenimmunität Kreicker (Fn. 5),
S. 49 ff.
21
ICTY, Prosecutor v. Blaškić, 29.10.1997 (IT-94-1AR108bis),
Ziff. 38, 41: „State officials acting in their official capacity
[…] are mere instruments of a State and their official action
can only be attributed to the State. They cannot be the subject
of sanctions or penalties for conduct that is not private but
undertaken on behalf of a State. […] they enjoy so-called
‘functional immunity’. This is a well established rule of customary international law […] and is based on the sovereign
equality of States (par in parem non habet imperium).“
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ZIS 7/2009
352
Immunität und IStGH
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Aggression (Art. 5 IStGH-Statut) – werden typischerweise
nicht als Privathandlungen der einzelnen Täter, sondern mit
staatlicher Unterstützung bzw. sogar in staatlichem Auftrag
begangen. Sie sind also in aller Regel einem Staat zurechenbare acta iure imperii. Doch gilt die Staatenimmunität bei
völkerrechtlichen Verbrechen generell nicht.22 Diese Immunitätsausnahme folgt zwangsläufig aus dem Charakter völkerrechtlicher Verbrechen: Die Staatenimmunität soll die Souveränität der Staaten schützen. Ein Staat, dessen Funktionsträger Völkerstraftaten begehen, verletzt jedoch in eklatanter
Weise das Völkerrecht. Solche Straftaten berühren – wie es
in der Präambel des Römischen Statuts heißt – die internationale Gemeinschaft als Ganzes. Eine strafrechtliche Ahndung
völkerrechtlicher Verbrechen stellt damit keine unzulässige
Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Staates dar,
der „hinter dem Verbrechen steht“, und verletzt keine legitimen Souveränitätsinteressen dieses Staates.
Die Ausnahme von der Staatenimmunität bei völkerrechtlichen Verbrechen ist seit langem völkergewohnheitsrechtlich
anerkannt. Sie ist in den Nürnberger Prozessen zum Ausdruck gebracht worden23 und von der Völkerrechtspraxis
seither immer wieder bestätigt worden.24 Hinzuweisen ist auf
eine Entscheidung des ICTY aus dem Jahr 1997, in der es
bezogen auf die Staatenimmunität heißt: „[…] exceptions
arise from the norms of international criminal law prohibiting
war crimes, crimes against humanity and genocide. Under
these norms, those responsible for such crimes cannot invoke
immunity from national or international jurisdiction even if
they perpetrated such crimes while acting in their official
capacity“.25
22
BVerfGE 96, 68 (84 f.) = NJW 1998, 50 (52 f.); Alebeek
(Fn. 12), S. 209 f., 222 ff.; Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 111; ders.
(Fn. 18), Vor § 3 Rn. 135 ff.; Cassese, International Criminal
Law, 2. Aufl. 2008, S. 304 ff.; ders., JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.);
Cryer et al. (Fn. 20), S. 428, 432 f.; Gaeta (Fn. 2), S. 982;
Frulli, Immunities of Persons, in: Cassese (Hrsg.), Oxford
Companion to International Criminal Justice, 2009, S. 368;
Kreicker (Fn. 5), S. 156 ff. m.w.N. in Fn. 85; Kreß, GA 2003,
25 (35); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 16, 18; Werle (Fn. 6),
Rn. 609 ff.; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (433 ff., 457).
23
Im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofs von
Nürnberg (Internationaler Militärgerichtshof, Der Prozess
gegen die Hauptkriegsverbrecher, Bd. 1, Nürnberg 1947,
S. 189) heißt es: „Jener Grundsatz des Völkerrechts, der unter
gewissen Umständen dem Repräsentanten eines Staates
Schutz gewährt, kann nicht auf Taten Anwendung finden, die
durch das Völkerrecht als verbrecherisch gebrandmarkt werden. Diejenigen, die solche Handlungen begangen haben,
können sich nicht hinter ihrer Amtsstellung verstecken, um in
ordentlichen Gerichtsverfahren der Bestrafung zu entgehen.
[…] Derjenige, der das Kriegsrecht verletzt, kann nicht Straffreiheit deswegen erlangen, weil er auf Grund der Staatshoheit handelte, wenn der Staat Handlungen gutheißt, die sich
außerhalb der Schranken des Völkerrechts bewegen.“
24
Nachweise bei Kreicker (Fn. 5), S. 187 ff.
25
ICTY, Prosecutor v. Blaškić, 29.10.1997 (IT-94-1AR108bis),
Ziff. 41.
Hieraus folgt, dass Art. 27 IStGH-Statut in Bezug auf die
Staatenimmunität deklaratorisch ist und sich auch Funktionsträger von Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts gegenüber dem IStGH nicht auf die Staatenimmunität berufen
können.26
2. Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern
a) Allgemeines zum Immunitätsumfang
Amtierenden Staatsoberhäuptern kommt – neben der Staatenimmunität – Immunität ratione personae (statusbezogene
Immunität) zu: Staatsoberhäupter genießen während ihrer
Amtszeit umfassende Immunität von fremder Gerichtsbarkeit, die nicht nur vor einer Strafverfolgung wegen Handlungen in Ausübung des Amtes schützt, sondern auch Privathandlungen und Taten erfasst, die vor der Amtsübernahme
begangen wurden, also die Person des Staatsoberhauptes
wegen ihres Status fremder Strafgerichtsbarkeit vollständig
entzieht.27 Diese völkergewohnheitsrechtliche28 Immunität
von Staatsoberhäuptern verdeckt gewissermaßen während der
Amtszeit die allgemeine Staatenimmunität. Sie gilt erga omnes, befreit also grundsätzlich von jeder Strafgerichtsbarkeit
26
Wie hier Akande, JICJ 1 (2003), 618 (637 ff.). Zum Teil
wird argumentiert, die Staatenimmunität könne schon deshalb
einer Strafverfolgung durch den IStGH keine Schranke setzen, weil sie auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit
der Staaten beruhe und deshalb nur fremdstaatliche Gerichtsbarkeit untersage; überstaatliche Instanzen könnten von
vornherein durch die Staatenimmunität nicht gebunden werden. So etwa Epping (Fn. 16), § 26 Rn. 39; Frulli, JICJ 2
(2004), 1118 (1122); Gaeta, JICJ 1 (2003), 186 (194); König,
Legitimation der Strafgewalt internationaler Strafjustiz, 2003,
S. 400; Werle (Fn. 6), Rn. 613 Fn. 549. Diese These greift
aber zu kurz, denn sie verkennt, dass der IStGH kein von den
Vertragsstaaten losgelöstes, genuin supranationales Gericht
ist, sondern – wie bereits dargelegt – auf einem völkerrechtlichen Vertrag einzelner Staaten beruht, die jeweils Adressaten
der Staatenimmunität sind. Deshalb ist der IStGH grundsätzlich in gleicher Weise an die Staatenimmunität von Funktionsträgern von Drittstaaten gebunden wie die einzelnen Vertragsstaaten. Ebenso Akande, AJIL 98 (2004), 407 (417). Vgl.
insofern auch Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (36 f.).
27
Vgl. Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 106; Cassese, EJIL 13 (2002),
853 (864); ders. (Fn. 22), S. 302 ff.; ders., JICJ 1 (2003), 437
(440); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1/1,
2. Aufl. 1989, S. 252 f.; Gornig (Fn. 3), S. 457 (460 ff.);
Kreicker (Fn. 5), S. 707 ff.; Tangermann, Immunität von
Staatsoberhäuptern, 2002, S. 116 ff., 207 f.; UerpmannWittzack, AVR 44 (2006), 33 (33 f.); Watts, RdC 247 (1994
III), S. 9 (51 ff.); Weiß, JZ 2002, 696 (701); Werle (Fn. 6),
Rn. 607, 614; Wirth, EJIL 13 (2002), 877 (883 ff.).
28
Eine universelle völkervertragliche Regelung der Immunität von Staatsoberhäuptern gibt es nicht. Allerdings setzt
Art. 21 der Convention on Special Missions vom 8.12.1969
(UNTS 1400, 213 = ILM 9 [1970], 127) mittelbar eine gewohnheitsrechtliche Immunität ratione personae von Staatsoberhäuptern voraus. Vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 712 f.
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Helmut Kreicker
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außer der des eigenen Landes. Bereits die Einleitung eines
Strafverfahrens – nicht etwa nur eine Inhaftierung – ist untersagt, und zwar unabhängig davon, ob sich die betreffende
Person im Hoheitsgebiet eines strafverfolgungswilligen Staates aufhält oder nicht.29 Die umfassende Immunität der
Staatsoberhäupter wurde erst in jüngerer Zeit durch internationale und nationale Judikate eindrucksvoll bestätigt. Zu erwähnen sind die Urteile des britischen House of Lords im
Fall Pinochet,30 die Entscheidung der französischen Cour de
Cassation im Fall Gaddafi vom 13.3.2001,31 ein Beschluss
des OLG Köln im Fall Saddam Hussein vom 16.5.200032 und
das Urteil des IGH im Verfahren Demokratische Republik
Kongo gegen Belgien33.
Inwieweit neben Staatsoberhäuptern auch Regierungsmitglieder – Regierungschefs und Minister der Zentralregierung
eines Staates – Immunität ratione personae genießen, ist nach
wie vor nicht abschließend geklärt.34 Der IGH hat – im Er29
BGHSt 33, 97 (97 f.) = NJW 1985, 639 (639); OLG Köln
NStZ 2000, 667 (667).
30
Lord Nicholls of Birkenhead, 1. Pinochet-Urteil vom
25.11.1998, HRLJ 1998, 436 (438 f.): „[…] there can be no
doubt that if Senator Pinochet had still been head of the Chilean State, he would have been entitled to immunity. […] I
have no doubt that a current head of state is immune from
criminal process under customary international law.“ Lord
Steyn, 1. Pinochet-Urteil vom 25.11.1998, HRLJ 1998, 439
(440): „It is common ground that a Head of State while in
office has an absolute immunity against civil or criminal
proceedings.“ Lord Browne-Wilkinson, 3. Pinochet-Urteil
vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 61 (67): „[…] personal immunity of the head of state persists to the present day. […] This
immunity enjoyed by a head of state in power […] is a complete immunity attaching to the person of the head of state
[…] and rendering him immune from all actions and prosecutions whether or not they relate to matters done for the benefit
of the state.“ Lord Saville of Newdigate, 3. Pinochet-Urteil
vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 96 (96): „In general, under customary international law serving heads of state enjoy immunity from criminal proceedings in other countries by virtue of
holding that office. This form of immunity is known as immunity ratione personae. It covers all conduct of the head of
state while the person concerned holds that office and thus
draws no distinction between what the head of state does in
his official capacity […] and what he does in his private
capacity.“
31
Arrêt Nr. 1414. In englischer Übersetzung wiedergegeben
in ILR 125, 490. Siehe auch Ambos (Fn. 18), Vor § 3 Rn. 141
mit Fn. 780; Zappalá, EJIL 12 (2001), 595 (595 ff.).
32
OLG Köln NStZ 2000, 667 (667) mit Anm. Wirth in NStZ
2001, 665 (665 ff.).
33
Urteil vom 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3; deutsche Übersetzung in EuGRZ 2003, 536. Diese Entscheidung betraf
zwar den völkerrechtlichen Status von Außenministern, doch
gelten die Erwägungen für Staatsoberhäupter in gleicher
Weise (so auch Weiß, JZ 2002, 696 [698]).
34
Bejahend etwa Steinberger-Fraunhofer, Internationaler
Strafgerichtshof und Drittstaaten, 2008, S. 201; Watts, RdC
gebnis zu Recht – in der vorstehend genannten Entscheidung
eine umfassende völkergewohnheitsrechtliche Immunität
ratione personae von Außenministern wegen ihrer vielfältigen Auslandskontakte bejaht.35 Zwar ist diese Feststellung
kritisiert worden,36 da der IGH die Immunität von Außenministern nicht durch den Nachweis einer entsprechenden, von
Rechtsüberzeugung getragenen Staatenpraxis belegt hat,
sondern teleologisch argumentierte, doch wird man angesichts des erreichten Entwicklungsstandes des Völkerrechts
die Ableitung einzelner Rechtssätze aus Strukturprinzipien
des Völkerrechts für zulässig erachten müssen. Wenn aber
Außenministern vollständige Immunität zukommt, so kann –
a minore ad maius – die Rechtslage für Regierungschefs nicht
anders sein, zumal Art. 7 Abs. 2 lit. a WVRK Staatsoberhäuptern, Regierungschefs und Außenministern identische
völkerrechtliche Vertretungsbefugnisse zuerkennt. Die belgische Cour de Cassation hat denn auch im Fall Sharon eine
umfassende Immunität von Regierungschefs anerkannt.37
Eine Immunität anderer Regierungsmitglieder als dem Regierungschef und Außenminister wird in der Literatur vielfach
verneint.38 Doch wird diese Auffassung der Realität der modernen internationalen Beziehungen nicht gerecht. Einzelne
Fachminister sind heutzutage wie Außenminister auf dem
internationalen Parkett tätig. Sie sind mithin völkerrechtlich
ebenso schutzwürdig und schutzbedürftig wie Außenminister.
Wenn man deshalb die teleologische Argumentation des IGH
akzeptiert, so muss man zu dem Schluss kommen, dass auch
andere amtierende Fachminister der Zentralregierung eines
Staates umfassende Immunität ratione personae genießen.39
Zu Recht hat deshalb ein britisches Gericht im Jahr 2004 den
Erlass eines Haftbefehls gegen den israelischen Verteidi-
247 (1994 III), 9 (105 ff.); Wirth, CLF 12 (2001), 429 (432).
Verneinend z.B. Bothe, ZaöRV 31 (1971), 246 (264);
Folz/Soppe, NStZ 1996, 576 (577); Lüke, Immunität staatlicher Funktionsträger, 2000, S. 104 ff.; Ruffert, NILR 2001,
171 (180 f.). Vgl. ferner Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397
(404 ff.).
35
ICJ-Reports 2002, 3 (23 ff.), Ziff. 54 ff.
36
Vgl. Kreß, GA 2003, 25 (31 f.); Wouters, LJIL 16 (2003),
253 (256 ff.); Zeichen/Hebenstreit, AVR 41 (2003), 182 (188 f.).
Zustimmend aber Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (855).
37
Hierzu Cassese, JICJ 1 (2003), 437 (437 ff.); Rau, HuV-I
2003, 92 (93 ff.).
38
So etwa Kreß, GA 2003, 25 (32 f.).
39
Ebenso Köck, in: Neuhold u.a. (Hrsg.), Österreichisches
Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 4. Aufl. 2004, Rn. 1765;
Steinberger-Fraunhofer (Fn. 34), S. 201 und wohl auch Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 264 f., wenn er
allgemein „senior members of cabinet“ Immunität zuspricht.
Ferner wird eine Immunität ratione personae amtierender
Regierungsmitglieder ohne Differenzierung anerkannt von
Simma/Paulus, in: NZZ vom 27.11.1998, S. 7 und Vogel, in:
ders./Grotz, Perspektiven des internationalen Strafprozessrechts, 2004, S. 1 (31 f.). Näher zu dieser Problematik Kreicker (Fn. 5), S. 723 ff. m.w.N.
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ZIS 7/2009
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Immunität und IStGH
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gungsminister Mofaz unter Verweis auf dessen völkerrechtliche Immunität ratione personae abgelehnt.40
Die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern dient der Verhinderung zwischenstaatlicher Konflikte, die eine Strafverfolgung wohl zwangsläufig mit sich
brächte, und schützt die Funktionsfähigkeit der internationalen Beziehungen, da sie Reisen in andere Staaten ohne Furcht
vor – politisch motivierter bzw. mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbarer – Strafverfolgung ermöglicht. Sie dient
also nicht zuletzt der Friedenssicherung und hat so eine hinreichende Legitimationsbasis.
b) Immunitätsausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen
Hinsichtlich der hier interessierenden Frage der Beachtlichkeit der Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern für den IStGH ist zunächst zu klären, ob diese
Immunität – ebenso wie die von ihr streng zu unterscheidende Staatenimmunität – bei völkerrechtlichen Verbrechen eine
generelle Ausnahme erfährt. Bezogen auf nationale Strafverfolgungen durch einzelne Staaten fällt die Antwort klar negativ aus: Die jüngere Staatenpraxis in Form von Entscheidungen nationaler und internationaler Gerichte hat die Geltung
dieser Immunität ratione personae auch bei Verfahren wegen
völkerrechtlicher Verbrechen bestätigt. Die bereits erwähnten
Gerichtsentscheidungen in den Fällen Pinochet und Gaddafi
gehen von einer absoluten Geltung der Immunität in Bezug
auf nationale Strafverfolgungen aus, die auch bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme erfährt.41 In seinem Urteil im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen
Belgien vom 14.2.200242 hat der IGH ausgeführt:
„58. The Court has carefully examined State practice, including national legislation and those few decisions of national higher courts, such as the House of Lords or the French
Court of Cassation. It has been unable to deduce from this
practice that there exists under customary international law
any form of exception to the rule according immunity from
criminal jurisdiction and inviolability to incumbent Ministers
of Foreign Affairs, where they are suspected of having committed war crimes or crimes against humanity. The Court has
also examined the rules concerning immunity or criminal
responsibility of persons having an official capacity contained in the legal instruments creating international criminal
tribunals, and which are specifically applicable to the latter
[…]. It finds that these rules likewise do not enable it to conclude that any such an exception exits in customary international law in regard to national courts.“
Ganz zu Recht wird deshalb auch in der Literatur überwiegend angenommen, die Immunität amtierender Staatsoberhäupter (und Regierungsmitglieder) gelte in Bezug auf
nationale Strafverfolgungen uneingeschränkt, also auch bei
völkerrechtlichen Verbrechen.43 Völkerrechtliche Strafverfolgungspflichten treten insofern zurück.44
40
Hierzu Warbrick, ICLQ 53 (2004), 769 (771 ff.).
Vgl. oben Fn. 30 und Fn. 31.
42
Vgl. oben Fn. 33.
43
Akande, AJIL 98 (2004), 407 (411); Alebeek (Fn. 12),
S. 265 ff.; Ambos, JZ 1999, 16 (23); Cassese, EJIL 13 (2002),
41
Auf den ersten Blick scheint es, als sei die Immunität amtierender Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder von
Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts deshalb auch
für den IStGH beachtlich: Diese Immunität gilt erga omnes;
sie ist von allen Staaten außer dem eigenen Staat eines
Staatsoberhauptes oder Regierungsmitgliedes zu beachten.
Mithin kann kein Vertragsstaat eine eigene Verfolgungskompetenz an den IStGH delegieren. In der Literatur ist Art. 27
IStGH-Statut daher insofern, als die Unbeachtlichkeit der
Immunität von Staatsoberhäuptern von Drittstaaten ausgesprochen wird, für völkerrechtswidrig erachtet worden.45
Doch ist fraglich, ob man zu einem solchen Verdikt wirklich kommen muss. Es ist vielmehr zu klären, ob sich mittlerweile Völkergewohnheitsrecht dahingehend herausgebildet
hat, dass die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern gegenüber internationalen Gerichten wie
dem IStGH nicht gilt.46 An derartiges Völkergewohnheitsrecht wären auch Nicht-Vertragsstaaten des Römischen Statuts gebunden. Eine solche Immunitätsausnahme lässt sich
nicht schon mit dem Argument verneinen, dass – wie gezeigt
– die Immunität gegenüber nationalen Strafverfolgungen
auch bei völkerrechtlichen Verbrechen gilt. Denn bei einer
einzelstaatlichen Strafverfolgung, die – da bei völkerrechtlichen Verbrechen das Weltrechtsprinzip gilt47 – von jedem
Staat durchgeführt werden könnte, lässt sich die Gefahr einer
politisch motivierten, parteiischen oder sonst mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbaren Verfolgung nicht immer
von der Hand weisen. Deshalb verwundert es nicht, dass eine
Immunitätsausnahme gegenüber fremdstaatlicher Strafver853 (865 ff.); ders. (Fn. 22), S. 304, 310; Cryer et al. (Fn. 20),
S. 434 ff.; Kreicker (Fn. 5), S. 729 ff. m.w.N. in Fn. 85; Kreß,
GA 2003, 25 (33); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 20;
Schmalenbach, ZÖR 61 (2006), 397 (425); Werle (Fn. 6),
Rn. 608, 614, 619; Wirth, EJIL 13 (2002), 877 (883, 888 f.).
A.A. Triffterer, in: Buffard u.a. (Hrsg.), International Law
between Universalism and Fragmentation, Festschrift in
Honour of Gerhard Hafner, 2008, S. 571 (575 ff.). Eine Ausnahme von der uneingeschränkten Immunität amtierender
Staatsoberhäupter normiert allerdings Art. IV der Völkermordkonvention vom 9.12.1948 (BGBl. 1954 II, S. 730),
doch gilt diese gemäß Art. VI nur bei Strafverfolgungen
durch den Tatortstaat; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 741 f.
44
IGH, Demokratische Republik Kongo gegen Belgien, Urt.
v. 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3 (25 f.), Ziff. 59.
45
Wirth, CLF 12 (2001), 429 (453). Vgl. auch Akande, AJIL
98 (2004), 407 (418 f.).
46
Methodisch unzulänglich wäre es, eine Nichtgeltung der
Immunität gegenüber internationalen Gerichten schlicht damit zu begründen, es lasse sich keine positive gewohnheitsrechtliche Regel dahingehend feststellen, dass die Immunität
auch gegenüber internationalen Gerichten gilt. Denn die
Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern befreit von jeglicher fremder Hoheitsgewalt, so dass es
für die Nichtgeltung gegenüber internationalen Gerichten
einer Ausnahmevorschrift bedarf. So auch UerpmannWittzack, AVR 44 (2006), 33 (35 ff.).
47
Vgl. oben Fn. 9.
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Helmut Kreicker
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folgung in der Staatenpraxis keine Anerkennung findet. Derartige Gefahren bestehen jedoch bei einem auf Universalität
angelegten, an die Vereinten Nationen angebundenen, mit
Richtern aus allen Teilen der Welt besetzten sowie von einzelnen Staaten unabhängigen und strengen rechtsstaatlichen
Grundsätzen verpflichteten Gericht wie dem IStGH nicht.
Für eine solche Immunitätsausnahme lässt sich auf eine
durchaus beachtliche Staatenpraxis verweisen: 1999 erhob
der Ankläger des ICTY Anklage gegen den damaligen
Staatspräsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan
Milosević. Die Bundesrepublik Jugoslawien war aber zu
diesem Zeitpunkt nicht Mitglied der Vereinten Nationen, so
dass das ICTY-Statut (Art. 7 Abs. 2) eine Immunität von
Milosević nicht konstitutiv ausschließen konnte.48 2001 begründete der ICTY die Nichtgeltung einer Immunität von
Milosević damit, der Immunitätsausschluss in Art. 7 Abs. 2
ICTY-Statut spiegele Völkergewohnheitsrecht wider.49 Der
Sondergerichtshof für Sierra Leone erklärte 2004 die Erhebung einer Anklage und den Erlass eines Haftbefehls gegen
den zum Zeitpunkt der Anklageerhebung und des Erlasses
des Haftbefehls noch amtierenden Staatspräsidenten von
Liberia, Charles Taylor, mit dem Argument für rechtmäßig,
amtierende Staatsoberhäupter genössen keine Immunität
gegenüber (bestimmten Anforderungen genügenden) internationalen Strafgerichtshöfen – und als ein solcher sei der Sondergerichtshof für Sierra Leone zu klassifizieren.50 Im Urteil
Demokratische Republik Kongo gegen Belgien ist offenbar
auch der IGH von einer solchen Immunitätsausnahme ausgegangen, heißt es doch dort: „[…] an uncumbent or former
Minister for Foreign Affairs may be subject to criminal proceedings before certain international criminal courts, where
they have jurisdiction.“51
Der Haftbefehlsentscheidung des IStGH vom 4.3.200952
kommt im vorliegenden Kontext besondere Bedeutung zu:
Die Vorverfahrenskammer I hat die Irrelevanz der Immunität
al Bashirs als Staatsoberhaupt des Sudans für den IStGH
nicht nur – wie erwähnt – mit dem Verfolgungsersuchen
durch den UN-Sicherheitsrat begründet, sondern in erster
Linie darauf abgestellt, dass es Ziel des Römischen Statuts
sei, eine Straflosigkeit der für Völkerstraftaten Verantwortlichen zu verhindern.53 Ferner hat die Kammer ausgeführt, das
Statut normiere mit Art. 27 einen generellen Exemtionsausschluss; andere Regeln des Völkerrechts – also auch die
völkergewohnheitsrechtlich geltende Immunität von Staats48
Vgl. hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 762.
ICTY, Prosecutor v. Milosević, 8.11.2001 (IT-02-54), Ziff. 28.
50
Decision on Immunity from Jurisdiction vom 31.5.2004 im
Verfahren SCSL-2003-01-I, Ziff. 34 ff. Vgl. zu dieser Entscheidung Deen-Racsmány, LJIL 18 (2005), 299 (299 ff.);
Frulli, JICJ 2 (2004), 1118 (1118 ff.); Nouwen, LJIL 18
(2005), 645 (645 ff.).
51
IGH, Demokratische Republik Kongo gegen Belgien, Urt.
v. 14.2.2002, ICJ-Reports 2002, 3 (26 f.), Ziff. 61.
52
Vgl. oben Fn. 13.
53
Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of
Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009
(vgl. oben Fn. 13), Ziff. 42.
49
oberhäuptern – seien gemäß Art. 21 Abs. 1 lit. b IStGHStatut nur maßgeblich, wenn das Statut eine Regelungslücke
aufweise.54 Dies aber ist im Hinblick auf die Regelung des
Art. 27 gerade nicht der Fall.
Auch wenn diese Argumentation enttäuschend schwach
und ungenügend ist, da sie außer Acht lässt, dass das Römische Statut als „normaler“ völkerrechtlicher Vertrag gemäß
Art. 34 WVRK nicht die völkergewohnheitsrechtlich geltenden Rechtspositionen von Drittstaaten zu beschränken vermag, so ist doch auch diese Entscheidung der Vorverfahrenskammer I des IStGH von Rechtsüberzeugung getragene völkerrechtliche Übung und damit maßgeblich für die Begründung neuen Völkergewohnheitsrechts – hier eines völkergewohnheitsrechtlich geltenden Rechtssatzes des Inhalts, dass
die Immunität von Staatsoberhäuptern (und Regierungsmitgliedern) gegenüber supranationalen Strafgerichten wie dem
IStGH nicht gilt.
Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Statuten aller
internationalen Strafgerichtshöfe vom IMT-Statut des Nürnberger Militärgerichtshofs über das ICTY- und ICTR-Statut
bis hin zum IStGH-Statut sämtliche Immunitäten und damit
auch die Immunität von Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern für unbeachtlich erklären. Bedenkt man, dass das
IStGH-Statut von 109 Staaten und damit mehr als der Hälfte
der Staaten der Welt ratifiziert worden ist, so finden die genannten Gerichtsentscheidungen Unterstützung in einer breiten Verbalpraxis der Staaten.
Deswegen wird man mittlerweile davon auszugehen haben, dass die Immunität amtierender Staatsoberhäupter und
Regierungsmitglieder gegenüber internationalen Strafgerichtshöfen wie dem IStGH eine völkergewohnheitsrechtlich
anerkannte Ausnahme erfährt.55 Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut
ist also auch hinsichtlich amtierender Staatsoberhäupter und
Regierungsmitglieder aus Drittstaaten völkerrechtskonform
und anwendbar.
c) Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder
Ehemaligen Staatsoberhäuptern und Regierungsmitgliedern
kommt keine besondere völkerrechtliche Immunität mehr zu:
Unbestritten endet die Immunität ratione personae mit dem
Amtsverlust.56 Da diese Immunität nicht als persönliche
54
Decision on the Prosecution’s Application for a Warrant of
Arrest against Omar Hassan Ahmad Al Bashir vom 4.3.2009
(vgl. oben Fn. 13), Ziff. 43 f.
55
Wie hier Lord Slynn of Hadley, 1. Pinochet-Urteil vom
25.11.1998, HRLJ 1998, 419 (425); Ambos, JZ 1999, 16 (20);
ders. (Fn. 6), § 7 Rn. 109; Cassese (Fn. 22), S. 311 f.; Frulli,
JICJ 2 (2004), 1118 (1127 f.); Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98
Rn. 20 ff.; Triffterer, in: ders. (Hrsg.), Commentary on the
Rome Statute, 2. Aufl. 2008, Art. 27 Rn. 12 f.; Werle (Fn. 6),
Rn. 616, 620; Zahar/Sluiter, International Criminal Law,
2008, S. 504. Siehe zudem Kreicker (Fn. 5), S. 761 ff.
m.w.N. in Fn. 212. A.A. aber Alebeek (Fn. 12), S. 275 ff.;
Uerpmann-Wittzack, AVR 44 (2006), 33 (45 ff.).
56
Vgl. nur Lord Browne-Wilkinson, 3. Pinochet-Urteil vom
24.3.1999, HRLJ 1999, 61 (68); Lord Goff of Chieveley,
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ZIS 7/2009
356
Immunität und IStGH
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Wohltat gewährt wird, sondern allein, damit die geschützte
Person ihr Amt ungehindert ausüben kann, ist für eine über
die Amtszeit hinausreichende Immunität ratione personae
kein Raum. Allerdings wird immer wieder darauf hingewiesen, dass ehemalige Staatsoberhäupter (und Regierungsmitglieder) zeitlich unbegrenzt Immunität für ihre früheren
Amtshandlungen genössen, da es insoweit um ihrem Staat
zuzurechnende Handlungen gehe.57 Diese Begründung zeigt,
dass die fortbestehende Immunität ehemaliger Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder für frühere Amtshandlungen nichts anderes ist als die jedem Funktionsträger zukommende Staatenimmunität, die während der Amtszeit lediglich
von der umfassenden Immunität ratione personae überdeckt
wird.58 Die Staatenimmunität aber erfährt – wie dargelegt –
bei Völkerstraftaten eine Ausnahme. Ehemalige Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder genießen deshalb bei einer
Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen nicht
nur gegenüber dem IStGH, sondern auch gegenüber der nationalen Strafgerichtsbarkeit einzelner Staaten keine Immunität.59 Auch in Bezug auf ehemalige Staatsoberhäupter und
Regierungsmitglieder ist Art. 27 IStGH-Statut somit völkerrechtskonform.
3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999, HRLJ 1999, 69 (71); Lord
Saville of Newdigate, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999,
HRLJ 1999, 96 (96); Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (864);
ders. (Fn. 22), S. 302, 304; Doehring (Fn. 16), Rn. 672; Werle (Fn. 6), Rn. 607, 615.
57
Vgl. die in Fn. 56 zitierten Voten im 3. Pinochet-Urteil
sowie Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 254; Doehring
(Fn. 16), Rn. 672; Gornig (Fn. 3), S. 457 (484).
58
So auch Lord Millett, 3. Pinochet-Urteil vom 24.3.1999,
HRLJ 1999, 97 (98); OLG Köln NStZ 2000, 667 (667); Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (862 ff.); Wirth, EJIL 13 (2002),
877 (883, 888 ff.); Zappalà, EJIL 12 (2001), 595 (598 ff.).
59
Im Ergebnis ganz h.M.; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 747 ff.
m.w.N. in Fn. 165. Daher braucht man, um die Zulässigkeit
nationaler Strafverfolgungen ehemaliger Staatsoberhäupter
und Regierungsmitglieder wegen Völkerstraftaten zu begründen, nicht die – realitätsferne und unrechtsrelativierende –
These zu bemühen, solche Taten seien – zumindest in immunitätsrechtlicher Hinsicht – als Privathandlungen zu werten.
So aber z.B. Alebeek (Fn. 12), S. 222 ff.; Ambos, JZ 1999, 16
(23); Kreß, GA 2003, 25 (36). Siehe zu dieser Diskussion
auch Kreicker (Fn. 5), S. 120 ff., 751 ff. m.w.N. Die Ausführungen des IGH im Urteil Demokratische Republik Kongo
gegen Belgien, wonach ehemalige Außenminister von fremden Staaten wegen solcher während der Amtszeit verübter
Straftaten verfolgt werden dürfen, die als Privathandlungen
zu werten sind (ICJ-Reports 2002, 3 [26], Ziff. 61), steht der
hier vertretenen Auffassung nicht entgegen, da diese Passage
des Urteils nur Beispiele für eine zulässige Strafverfolgung
(ehemaliger) höchster staatlicher Funktionsträger nennt; vgl.
Kreicker (Fn. 5), S. 755 f. Für völkerrechtswidrig, weil die
Nichtgeltung der Immunität ehemaliger höchster staatlicher
Funktionsträger bei völkerrechtlichen Verbrechen außer Acht
lassend, halten das IGH-Urteil u.a. Ambos (Fn. 18), Vor § 3
Rn. 143 und Cassese, EJIL 13 (2002), 853 (866 ff.).
3. Diplomatische und konsularische Immunitäten
a) Allgemeines zum Immunitätsumfang
Die Immunitäten der Mitglieder diplomatischer und konsularischer Vertretungen gehören zu den wenigen völkervertraglich normieren Exemtionen: Sie sind im Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen (WÜD) von
196160 und im Wiener Übereinkommen über konsularische
Beziehungen (WÜK) von 196361 geregelt, deren Bestimmungen aufgrund ihrer herausragenden Akzeptanz auch völkergewohnheitsrechtlich und damit universell gelten.62
Diplomaten und ihre Familienmitglieder63 genießen während der Dienstzeit des Diplomaten umfassende Immunität
ratione personae, die auch Privathandlungen sowie vor
Dienstantritt begangene Taten erfasst, also eine vollständige
Strafgerichtsbarkeitsbefreiung bewirkt (Art. 31 Abs. 1 S. 1,
Art. 37 Abs. 1 WÜD). In gleichem Umfang privilegiert sind
Mitglieder des Verwaltungs- und technischen Personals diplomatischer Missionen sowie deren Familienangehörige
(Art. 37 Abs. 2 WÜD). Anders als die Immunität ratione
personae der Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder gilt
die diplomatische Immunität aber nicht erga omnes, sondern
lediglich im jeweiligen Empfangsstaat.64 Die diplomatische
Immunität ratione personae endet mit der endgültigen Ausreise aus dem Empfangsstaat nach Beendigung der dienstlichen
Tätigkeit (Art. 39 Abs. 2 S. 1 WÜD). Allerdings gilt – als
Teilmenge der Immunität ratione personae – für die während
der Amtszeit vorgenommenen Diensthandlungen gemäß
Art. 39 Abs. 2 S. 2 WÜD eine Immunität ratione materiae
zeitlich unbegrenzt fort.65
Konsularbeamten, Bediensteten des Verwaltungs- oder
technischen Personals einer konsularischen Vertretung sowie
den Mitgliedern des dienstlichen Hauspersonals diplomatischer Missionen kommt „nur“ Immunität ratione materiae zu,
die ebenfalls allein den jeweiligen Empfangstaat verpflichtet:
Lediglich Strafverfahren wegen in Ausübung der dienstlichen
Tätigkeit vorgenommener Handlungen sind untersagt (Art. 43
Abs. 1, Art. 58 Abs. 2 WÜK, Art. 37 Abs. 3 WÜD), dafür ist
die Immunität allerdings zeitlich nicht befristet (Art. 53
Abs. 4 WÜK). Jedoch genießen Berufskonsularbeamte während ihrer Dienstzeit neben ihrer Immunität ratione materiae
noch eine – für „private Taten“ relevante – weitreichende
Unverletzlichkeit (Art. 41 Abs. 1 WÜK): Mit einer Freiheitsentziehung verbundene Maßnahmen sind nur wegen schwerer
60
BGBl. 1964 II, S. 957.
BGBl. 1969 II, S. 1585.
62
Vgl. IGH, ICJ-Reports 1979, 7 (19 f.) und ICJ-Reports
1980, 3 (24, 31).
63
Zum Begriffsgehalt siehe Kreicker (Fn. 5), S. 421 ff.
64
Fischer, in: Ipsen (Fn. 16), 5. Aufl. 2004, § 35 Rn. 34 f.,
42, 44. Ausführlich zum Gehalt der diplomatischen und konsularischen Immunitäten Kreicker (Fn. 5), S. 383 ff.
65
BVerfGE 96, 68 (80, 89) = NJW 1998, 50 (51, 54); Böttcher, in: Rieß (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 7, 25. Aufl.
2003, § 18 GVG Rn. 8, § 19 GVG Rn. 12.
61
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357
Helmut Kreicker
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strafbarer Handlungen statthaft – dies sind bezogen auf
Deutschland Verbrechen im Sinne des § 12 StGB.66
Anderen Beschäftigten diplomatischer und konsularischer
Vertretungen stehen nach dem WÜD und WÜK keine besonderen Exemtionen zu. Sie können sich allerdings – wie jeder
staatliche Funktionsträger – in Bezug auf ihre hoheitlichdienstlichen Handlungen auf die allgemeine Staatenimmunität berufen.67
In Drittstaaten kommt Mitgliedern diplomatischer und
konsularischer Vertretungen keine Immunität, sondern –
beschränkt auf dienstlich motivierte Durchreisen – nur Unverletzlichkeit, also Befreiung von strafprozessualer Zwangsgewalt zu (Art. 40 WÜD, Art. 54 WÜK).68
Besonderheiten gelten für Diplomaten und Konsularbeamte, die – wie regelmäßig Honorarkonsuln – Angehörige
des Empfangsstaates oder in diesem ständig ansässig sind:
Diese genießen lediglich – zeitlich unbegrenzt – Immunität
ratione materiae, die aber – anders als die Immunität ratione
materiae der entsandten Konsularbeamten und die fortbestehende Immunität ehemaliger Diplomaten – nicht alle Handlungen in Ausübung des Dienstes erfasst, sondern nur die
unmittelbaren Amtshandlungen (Art. 38 Abs. 1 WÜD, Art. 71
Abs. 1 WÜK).69
Schon daran wird – und dies ist für die Frage der Geltung
der Exemtionen bei völkerrechtlichen Verbrechen von zentraler Bedeutung – deutlich: Anders als in der Literatur vielfach
behauptet wird, handelt es sich bei den Immunitäten ratione
materiae um kein einheitliches Rechtsinstitut. Der Begriff
„Immunität ratione materiae“ ist eine Sammelbezeichnung
für verschiedene Exemtionen mit unterschiedlicher sachlicher
und räumlicher Reichweite, die nicht mehr vereint, als dass
sie auf (bestimmte) dienstliche Handlungen bezogen sind.70
So gilt beispielsweise – wie dargelegt – die Staatenimmunität
einerseits erga omnes, also gegenüber allen fremden Staaten,
erfasst andererseits aber lediglich hoheitlich-dienstliche
Handlungen (acta iure imperii). Die Immunitäten ratione
materiae von Konsularbeamten und ehemaligen Diplomaten
dagegen gelten – wie ausgeführt – allein im Empfangsstaat
der betreffenden Person, erfassen dafür aber auch acta iure
gestionis, so dass die Staatenimmunität und die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae nicht
identisch sind.71
66
Kreicker (Fn. 5), S. 444 ff., insbesondere S. 456 f.
Denza, Diplomatic Law, 2. Aufl. 1998, S. 342; Kreicker
(Fn. 5), S. 438 mit Fn. 161.
68
Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 285; Kreicker (Fn. 5),
S. 598 ff.
69
AG Hannover NdsRpfl. 1975, 127 (127); Böttcher (Fn. 65),
§ 19 GVG Rn. 5; Denza (Fn. 67), S. 342; Kreicker (Fn. 5),
S. 429 ff., 467 ff., 476 f., 492 ff.; Richtsteig, Übereinkommen
über diplomatische und konsularische Beziehungen, 1994,
S. 216, 252, 268.
70
Ebenso Seidenberger, Diplomatische und konsularische
Immunitäten, 1994, S. 114.
71
BVerfGE 96, 68 (85) = NJW 1998, 50 (53); Kreicker
(Fn. 5), S. 490 ff., 551 ff.; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (447);
ders., EJIL 13 (2002), 877 (883 f.). A.A. etwa Cassese, EJIL
67
b) Immunitätsausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen
Für die hier interessierende Frage der Exemtionsgeltung
gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof ist zunächst
zu klären, ob die diplomatischen und konsularischen Immunitäten eine generelle Ausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen erfahren. Denn dann könnten sie – wie die Staatenimmunität – der Gerichtsbarkeit des IStGH von vornherein
keine Schranken setzen.
Weitgehende Einigkeit besteht dahingehend, dass jedenfalls für die Immunitäten ratione personae des Diplomatenrechts eine solche Ausnahme nicht gilt.72 Weder lässt sich
dem WÜD eine derartige Immunitätsausnahme entnehmen
noch gibt es entsprechende Staatenpraxis. Amtierende Diplomaten genießen gegenüber der Strafgerichtsbarkeit ihres
Empfangsstaates also auch dann Immunität, wenn ihnen
Völkerstraftaten zur Last gelegt werden.
Soweit in der Literatur behauptet wird, die Immunitäten
ratione materiae des Diplomaten- und Konsularrechts gälten
bei völkerrechtlichen Verbrechen nicht, liegt dem die verfehlte und deshalb zu Recht vom BVerfG zurückgewiesene73
These einer Identität dieser Exemtionen mit der Staatenimmunität zu Grunde und wird deshalb schlicht die – völkergewohnheitsrechtlich anerkannte – Immunitätsausnahme bei der
Staatenimmunität für einschlägig erachtet.74 Eine genaue
Analyse der Völkerrechtspraxis zeigt jedoch, dass auch die
diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione
materiae – im Rahmen ihrer sehr begrenzten räumlichen
Reichweite – vor einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher Verbrechen schützen.75 Insofern ist zunächst auf das
WÜD und WÜK zu verweisen: In diesen Verträgen ist keine
Immunitätsausnahme für Völkerstraftaten normiert, obwohl
dies, hätten die Staaten eine solche Ausnahme gewollt, zu
erwarten gewesen wäre.76 Denn bei der Ausarbeitung des
WÜD und WÜK lag die im Rahmen der Nürnberger Prozesse
geführte Diskussion über die Geltung von Immunitäten bei
völkerrechtlichen Verbrechen noch nicht lange zurück; zudem waren kurz nach dem zweiten Weltkrieg einige – vereinzelt gebliebene – Judikate ergangen, mit denen Gerichte eine
13 (2002), 853 (862 ff.); Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68
(70, 74 f., 96 f.); Faßbender, NStZ 1998, 144 (145); Werle
(Fn. 6), Rn. 606 ff.
72
Vgl. nur Alebeek (Fn. 12), S. 265 ff.; Cassese (Fn. 22),
S. 304, 310; ders., JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.); Cryer et al.
(Fn. 20), S. 434 ff.; Gaeta (Fn. 2), S. 975 (975 ff.); Werle
(Fn. 6), Rn. 614, 619. A.A. Triffterer (Fn. 43), S. 571 (575 ff.)
und teilweise auch Ambos (Fn. 6), § 7 Rn. 111.
73
Vgl. oben Fn. 71.
74
So etwa Cassese, JICJ 1 (2003), 437 (445 ff.); ders. (Fn. 22),
S. 302 ff.; Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68 (83 f); Gaeta
(Fn. 2), S. 975 ff.; Werle (Fn. 6), Rn. 609.
75
Wie hier BVerfGE 96, 68 (82) = NJW 1998, 50 (52);
Dinstein, ICLQ 15 (1966), 76 (87 f.); ders., Consular Immunity, 1966, S. 51 f.; Nahlik, RdC 1990 III, 187 (254); Rüping,
in: Gössel u.a. (Hrsg.), Strafverfahren im Rechtsstaat, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 397 (S. 404 f.).
Ausführlich Kreicker (Fn. 5), S. 570 ff.
76
So auch Nahlik, RdC 1990 III, 187 (254).
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ZIS 7/2009
358
Immunität und IStGH
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Berufung auf diplomatische Immunität im Zusammenhang
mit völkerrechtlichen Verbrechen zurückgewiesen hatten –
ohne allerdings deutlich zu machen, ob sie von einer völkerrechtlichen Immunitätsausnahme ausgingen.77 Einschlägige
Gerichtsentscheidungen aus jüngerer Zeit gibt es – soweit
ersichtlich – nicht; Entscheidungen, die auf die Staatenimmunität bezogen sind, sind nach dem Vorstehenden für eine
etwaige Ausnahme von den Immunitäten des Diplomatenund Konsularrechts ohne Belang. Rückschlüsse von der Staatenimmunität auf die Immunitäten ratione materiae des Diplomaten- und Konsularrechts verbieten sich angesichts der
Unterschiede zwischen beiden Exemtionen, die auch darin
liegen, dass die Staatenimmunität allein dem Schutz staatlicher Souveränität dient, die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae dagegen auch den Schutz
der Funktionsfähigkeit der internationalen Beziehungen und
deshalb den Schutz der handelnden Akteure bezwecken.78
Auch die völkerrechtlichen Bestrafungspflichten bei Völkerstraftaten – wie sie etwa in den Genfer Abkommen normiert
sind – vermögen die Exemtionsregelungen des WÜD und
WÜK nicht zu verdrängen. Denn letztgenannte Normen sind,
da sie anders als die Bestrafungspflichten auf einen ganz
engen Personenkreis bezogen sind, leges speciales. In seinem
Urteil im Verfahren Demokratische Republik Kongo gegen
Belgien hat der IGH ausdrücklich betont, völkerrechtliche
Bestrafungspflichten seien nachrangig gegenüber Immunitätsgewährleistungen.79 Hinzu kommt, dass der IGH in seinem Urteil im „Teheraner Geiselfall“ das Diplomatenrecht
als „self-contained-regime“ klassifiziert hat, also als ein geschlossenes System aufeinander bezogener Rechtsregeln, das
nicht durch Rückgriff auf sonstige völkerrechtliche Normen
überwunden werden könne.80 Deshalb lässt sich auch nicht
argumentieren, Mitglieder diplomatischer oder konsularischer
Vertretungen, die völkerrechtliche Verbrechen begingen,
verwirkten die ihnen bzw. ihrem Staat zukommenden Vorrechte.81 Auch der Umstand, dass die Statuten aller internationalen Strafgerichtshöfe diplomatische und konsularische
Immunitäten für unbeachtlich erklären, spricht nicht für eine
allgemeine, also auch in Bezug auf nationale Strafverfolgungen geltende völkergewohnheitsrechtliche Immunitätsausnahme. Denn von einer Immunitätsausnahme in Bezug auf
höchsten rechtsstaatlichen Ansprüchen genügende, von den
Vereinten Nationen bzw. einer großen Mehrzahl der Staaten
77
Entscheidung des Obersten Gerichts Dänemarks im Fall
Best vom 17.3.1950, ILR 17, 434; Urteil der französischen
Cour de Cassation im Fall Abetz vom 28.7.1950, ILR 17, 279.
78
BVerfGE 96, 68 (84 f.) = NJW 1998, 50 (52 f.): „Einem
Schluss von der Staatenimmunität auf die diplomatische
Immunität ratione materiae steht das personale Element jeder
diplomatischen Immunität entgegen, das nicht den Entsendestaat, sondern den Diplomaten als handelndes Organ persönlich schützt.“
79
Vgl. oben Fn. 44.
80
IGH, ICJ-Reports 1980, 3 (40). Ebenso BVerfGE 96, 68
(82 f.) = NJW 1998, 50 (52).
81
Vgl. diesbezüglich Doehring (Fn. 16), Rn. 684; Doehring/Ress, AVR 37 (1999), 68 (85 ff.).
getragene internationale Strafgerichtshöfe kann nicht darauf
geschlossen werden, dass die völkerrechtlichen Akteure mit
einer Strafverfolgung Immunität genießender Personen wegen völkerrechtlicher Verbrechen durch irgendeinen einzelnen Staat ebenso einverstanden sind.82 Schließlich ergibt sich
mittelbar aus Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut, dass die diplomatischen und konsularischen Exemtionen keine generelle Ausnahme bei völkerrechtlichen Verbrechen erfahren.
Der jeweilige Empfangsstaat kann deshalb durch die diplomatischen und konsularischen Exemtionen unter Umständen an einer Strafverfolgung wegen völkerrechtlicher
Verbrechen gehindert sein kann; in Bezug auf Strafverfolgungen durch den Empfangsstaat gibt es für die diplomatischen und konsularischen Immunitäten keine Ausnahme bei
Völkerstraftaten.
c) Spezielle Immunitätsausnahme für den Internationalen
Strafgerichtshof
Die vorstehenden Feststellungen bedeuten aber nicht, dass
auch der IStGH diplomatische und konsularische Exemtionen
zu beachten hat, also Art. 27 Abs. 2 IStGH insofern, als die
Irrelevanz von Immunitäten für Diplomaten und Konsularbedienstete aus Drittstaaten festgelegt wird, völkerrechtswidrig
ist.
Auf den ersten Blick erscheint es einfach, die Relevanz
diplomatischer und konsularischer Exemtionen für den
IStGH auch für Fälle zu verneinen, in denen es um Beschuldigte geht, deren Entsendestaat nicht Vertragsstaat des IStGH
ist: Man könnte argumentieren, die Exemtionsregelungen des
WÜD und WÜK sowie des parallelen Völkergewohnheitsrechts richteten sich lediglich an Staaten; nur Staaten – nämlich der jeweilige Empfangsstaat – würden durch die Exemtionsregelungen verpflichtet. Der IStGH ist jedoch kein staatliches, sondern ein supranationales Gericht. Einer Strafverfolgung durch den IStGH könnten daher die an Staaten adressierten Immunitätsregelungen des Diplomaten- und Konsularrechts von vornherein keine Schranke setzen.83 Doch vermag
diese Argumentation nicht zu überzeugen, und zwar deshalb
nicht, weil der IStGH – wie eingangs bereits ausgeführt –
keine von den einzelnen Staaten losgelöste Einrichtung ist,
sondern von den Vertragsstaaten auf der Basis eines völkerrechtlichen Vertrages gegründet wurde, so dass sich die Befugnisse des Gerichtshofs aus den Kompetenzen der Vertragsstaaten bzw. dem Völkergewohnheitsrecht ableiten.
Grundsätzlich sind deshalb die für einzelne Staaten beachtlichen völkerrechtlichen Immunitäten auch für den IStGH
maßgeblich; die Jurisdiktionskompetenz des IStGH reicht
grundsätzlich nicht über diejenige der Vertragsstaaten hinaus.
In dieser Feststellung liegt aber zugleich der Schlüssel für
die Erkenntnis, dass die diplomatischen und konsularischen
Immunitäten einer Strafverfolgung durch den IStGH auch
dann nicht entgegenstehen, wenn der Entsendestaat des Beschuldigten nicht Vertragsstaat des Statuts ist. Denn wie
bereits dargelegt, verpflichten die diplomatischen und konsu82
Ebenso Maierhöfer, EuGRZ 2003, 545 (552).
So offenbar der Gedankengang von Fischer (Fn. 64), § 35
Rn. 44 und Gaeta (Fn. 2), S. 975 (991).
83
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359
Helmut Kreicker
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larischen Immunitäten nur den jeweiligen Empfangsstaat.
Dies heißt, dass nur der jeweilige Empfangsstaat aufgrund
diplomatischer oder konsularischer Exemtionen gehindert
sein kann, dem IStGH eine Strafverfolgungskompetenz zu
übertragen, und der IStGH seine Ahndungskompetenz nicht
auf eine von diesem Staat (der selbst an einer Verfolgung des
konkreten Beschuldigten gehindert ist) an ihn delegierte
Strafverfolgungskompetenz stützen kann. Völkerrechtliche
Verbrechen können jedoch unabhängig vom Tatort und der
Staatsangehörigkeit des Täters von jedem Staat nach dem
Weltrechtsprinzip geahndet werden.84 Wenn aber jeder Staat
jedes völkerrechtliches Verbrechen strafrechtlich ahnden
darf, so haben dann, wenn der Empfangsstaat durch eine
diplomatische oder konsularische Immunität an einer Strafverfolgung wegen eines bestimmten völkerrechtlichen
Verbrechens gehindert ist, stets noch alle anderen Staaten
eine Strafverfolgungskompetenz, die sie an den IStGH delegieren können. Da der IStGH von insgesamt 109 Staaten
getragen wird, ist es unschädlich, wenn in einem konkreten
Fall ein Staat – der Empfangsstaat der betreffenden Person –
aufgrund einer diplomatischen oder konsularischen Immunität an einer nationalen Strafverfolgung gehindert ist. Denn in
einem solchen Fall kann der IStGH seine Strafverfolgungskompetenz und die Zulässigkeit einer Ausübung seiner Gerichtsbarkeit immer noch auf die – an ihn delegierte – Strafverfolgungskompetenz aller übrigen Vertragsstaaten stützen.85
Als Ergebnis ist mithin festzustellen, dass die diplomatischen und konsularischen Immunitäten generell einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegenstehen. Dies gilt
unabhängig davon, ob die beschuldigte Person Auslandsvertreter eines Mitgliedsstaates des Römischen Statuts oder aber
eines Staates ist, der das Statut nicht ratifiziert hat.86
4. Exemtionen für Sonderbotschafter
Staaten agieren im völkerrechtlichen Verkehr nicht nur durch
ihre Staatsoberhäupter und Regierungsmitglieder sowie ihre
ständigen diplomatischen und konsularischen Vertreter, sondern auch durch die kurzzeitige Entsendung sonstiger Funktionsträger in andere Staaten zur Erledigung spezieller Aufgaben. Im Völkerrecht spricht man von „Spezialmissionen“
84
Vgl. oben Fn. 9.
Näher hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 626 ff. Die von Wirth,
CLF 12 (2001), 429 (453) vertretene These, diplomatische
Immunitäten ratione personae von Diplomaten aus NichtVertragsstaaten des Römischen Statuts seien auch für den
IStGH beachtlich und Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut sei insofern einschränkend zu interpretieren, geht nach dem hier
Gesagten fehl. Denn auch die diplomatischen Immunitäten
ratione personae verpflichten Drittstaaten nicht und hindern
daher diese nicht, eine ihnen bei völkerrechtlichen Verbrechen nach dem Weltrechtsprinzip zukommende Strafverfolgungskompetenz auf den IStGH zu übertragen.
86
So auch Alebeek (Fn. 12), S. 275; Gaeta (Fn. 2), S. 990 ff.;
Triffterer (Fn. 55), Art. 27 Rn. 11 ff. Generell für eine Irrelevanz diplomatischer Exemtionen für internationale Gerichte
Fischer (Fn. 64), § 35 Rn. 44.
oder „Sondermissionen“, die Akteure werden vielfach als
„Sonderbotschafter“ tituliert.87 Die Frage, inwieweit Staatenvertreter, die zur Erledigung besonderer Aufgaben – etwa für
politische Konsultationen – temporär in das Ausland entsandt
werden, völkerrechtliche Exemtionen genießen, ist umstritten. Die 1969 von den Vereinten Nationen in enger Anlehnung an das WÜD ausgearbeitete Konvention über Spezialmissionen88 hat nur marginale Bedeutung erlangt; Deutschland hat die Konvention – ebenso wie die meisten anderen
Staaten – nicht ratifiziert. Maßgeblich ist deshalb das Völkergewohnheitsrecht. Dessen Stand aber ist, weil es nur in sehr
wenigen Fällen zu Streit über den völkerrechtlichen Status
von Mitgliedern einer Spezialmission gekommen ist und
vielfach zwischen den beteiligten Staaten einzelfallbezogene
bilaterale Vereinbarungen getroffen werden, schwer festzustellen. Die in der Literatur vertretenen Auffassungen reichen
von der Ablehnung einer völkergewohnheitsrechtlichen Exemtion89 bis hin zur Annahme umfassender Immunität ratione personae90. Zutreffend dürfte, wenn man die Gründe für
die geringe Akzeptanz der Konvention über Spezialmissionen
und die spärliche Staatenpraxis analysiert,91 eine vermittelnde
Auffassung sein: Zum einen genießen nur hochrangige, von
der Zentralregierung eines Staates zum Zwecke politischer
Konsultationen entsandte „Ad-hoc-Botschafter“ nach Völkergewohnheitsrecht Befreiung von fremder Staatsgewalt,
nicht jedoch subalterne Funktionsträger, die zur Klärung
technischer oder organisatorischer Einzelfragen in das Ausland entsandt werden. Zum anderen ist die Exemtion hochrangiger „Ad-hoc-Botschafter“ beschränkt auf das zum Zwecke der Aufgabenerledigung unbedingt erforderliche Maß.
Dies bedeutet, dass nur eine persönliche Unverletzlichkeit im
Sinne einer Befreiung von fremder (strafprozessualer)
Zwangsgewalt, nicht jedoch eine Immunität im Sinne eines
Verfolgungshindernisses gewährt wird. Hinzu kommt, dass
Adressat dieser Unverletzlichkeit allein der jeweilige Empfangsstaat des Sonderbotschafters ist. Die räumliche Reichweite dieser Exemtion entspricht also derjenigen der diplomatischen und konsularischen Immunitäten.92 Allerdings
können sich auch Sonderbotschafter – wie alle staatlichen
Funktionsträger – auf die allgemeine Staatenimmunität berufen.
Aus der auf den jeweiligen Empfangsstaat beschränkten
räumlichen Reichweite der Exemtion von Sonderbotschaftern
85
87
Vgl. OLG Düsseldorf EuGRZ 1983, 160 (161); LG Düsseldorf EuGRZ 1983, 159 (159).
88
Convention on Special Missions vom 8.12.1969, Resolution der UN-Generalversammlung 2530 (XXIV), UNTS 1400,
213 = ILM 9 (1970), 127. Ausführlich hierzu Kreicker
(Fn. 5), S. 778 ff.
89
Fischer (Fn. 64), § 36 Rn. 1.
90
Bröhmer, LJIL 12 (1999), 361 (367); Engel, JZ 1983, 627
(628); Doehring (Fn. 16), Rn. 492, 513 f., 673.
91
Siehe diesbezüglich Kreicker (Fn. 5), S. 800 ff.
92
Vgl. zum Exemtionsumfang Kreicker (Fn. 5), S. 820 ff.
Wie hier auch Brownlie, Principles of Public International
Law, 6. Aufl. 2003, S. 357; Quarch, Immunität der Sondermissionen, 1991, S. 35 f.
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ZIS 7/2009
360
Immunität und IStGH
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folgt, dass auch diese völkerrechtliche Straffreistellung für
den IStGH generell unbeachtlich ist. Art. 27 Abs. 2 IStGHStatut ist also auch in Bezug auf Sonderbotschafter von Drittstaaten völkerrechtskonform. Insofern kann auf die Ausführungen zur Unbeachtlichkeit diplomatischer und konsularischer Immunitäten für den IStGH (oben IV.3.c) verwiesen
werden: Der IStGH kann seine Strafverfolgungskompetenz
stets auf eine Delegation durch die Vertragsstaaten des Römischen Statuts stützen, die im konkreten Fall nicht Empfangsstaat des betreffenden Sonderbotschafters sind.
V. Immunitäten für Bedienstete internationaler Organisationen
1. Allgemeines zum Immunitätsumfang
Immunitäten von strafrechtlicher Verantwortlichkeit genießen – in aller Regel – auch Bedienstete internationaler Organisationen. Völkergewohnheitsrechtliche Normen haben sich
insoweit aber (noch) nicht herausgebildet.93 Zudem ist der
Versuch der International Law Commission (ILC), organisationsübergreifende völkervertragliche Regeln zu schaffen,
ohne Erfolg geblieben.94 Daher bestimmen sich die völkerrechtlichen Immunitäten für Funktionsträger internationaler
Organisationen ausschließlich nach den für die jeweilige
Organisation geltenden völkerrechtlichen Verträgen. Bei
einigen internationalen Organisationen sind Immunitäten
bereits im Gründungsvertrag geregelt.95 Überwiegend aber
finden sich Bestimmungen zur Immunität der Funktionsträger
einer Organisation in einem von den Mitgliedsstaaten geschlossenen gesonderten Vertrag.96
Schon aus dem Regelungsort der Immunitäten folgt, dass
die Exemtionen für Bedienstete internationaler Organisationen nur die Strafgewalt der jeweiligen Mitgliedsstaaten beschränken. Für Drittstaaten sind diese Immunitäten unbeachtlich, schließlich haben diese die betreffenden Verträge nicht
ratifiziert.97
Auch wenn die Immunitäten für jede internationale Organisation speziell normiert sind, so weisen die Regelungen
doch inhaltlich große Übereinstimmung auf. Üblicherweise
wird den Bediensteten internationaler Organisationen (lediglich) Immunität ratione materiae, also Immunität in Bezug
auf ihre dienstlichen Handlungen für die betreffende Organisation, gewährt. Strafverfolgungen wegen Privathandlungen
sind damit nicht untersagt.98 Nur den Leitern internationaler
Organisationen und – beschränkt auf den Zeitraum ihres
tatsächlichen dienstlichen Tätigwerdens – Richtern internationaler Gerichte kommt üblicherweise eine umfassende, auch
private Taten erfassende Immunität ratione personae zu.99
Während die sachliche Reichweite der Immunitäten für Bedienstete internationaler Organisationen damit hinter der für
Diplomaten zurückbleibt, ist ihre räumliche Reichweite größer: Die Exemtionen für Bedienstete internationaler Organisationen schränken nicht nur die Strafgerichtsbarkeit des
jeweiligen Sitzstaates der Organisation ein, sondern gelten
für alle Mitgliedsstaaten in gleicher Weise.100 Denn es muss
sichergestellt sein, dass kein Mitgliedsstaat durch eine Strafverfolgung von Funktionsträgern wegen dienstlicher Handlungen für die Organisation unlauteren Einfluss auf die Arbeit der Organisation ausüben kann.
Die Immunitäten im Bereich internationaler Organisationen, und zwar auch die üblicherweise gewährten Immunitäten ratione materiae, gelten unabhängig von der Art der einem Bediensteten zur Last gelegten Straftat. Sie erfahren
mithin selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme.101 Insofern gilt hier das in Bezug auf die diplomatischen und konsularischen Immunitäten ratione materiae Gesagte entsprechend. Die Mitgliedsstaaten einer internationalen Organisation sind also selbst dann an einer nationalen
Strafverfolgung gehindert, wenn dem beschuldigten Bediensteten der Organisation eine im Rahmen seiner dienstlichen
Tätigkeit begangene Völkerstraftat zur Last gelegt wird.
2. Geltung der Immunität gegenüber dem IStGH
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut erfasst zwar dem Wortlaut nach
auch die Immunitäten von Bediensteten internationaler Organisationen, doch stellt sich auch hier die Frage, inwieweit
dieser Immunitätsausschluss völkerrechtskonform und damit
wirksam ist.
Diese Frage kann zunächst einmal für die Immunitäten
von Funktionsträgern solcher internationaler Organisationen
bejaht werden, deren Mitgliedsstaaten alle zugleich auch
Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. Dann wird man
annehmen dürfen, dass sich alle Mitgliedsstaaten der Organisation mit ihrer Ratifikation des Römischen Statuts auch mit
dem Immunitätsausschluss des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut
einverstanden erklärt haben, also gewissermaßen auf die
Immunität für die Bediensteten der Organisation, über die sie
als Träger der Organisation gemeinsam und einvernehmlich
93
Doehring (Fn. 16), Rn. 208, 686; Hailbronner, JZ 1998,
283 (285).
94
Hierzu Kreicker (Fn. 5), S. 871 ff.
95
So etwa für die Vereinten Nationen in Art. 105 UN-Charta
und für den IStGH in Art. 48 IStGH-Statut.
96
Vgl. für die Vereinten Nationen das Übereinkommen über
die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen vom
13.2.1946 (BGBl. 1980 II, S. 943) und für den IStGH das
Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten des
Internationalen Strafgerichtshofs vom 9.9.2002 (BGBl. 2004
II, S. 1139).
97
Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 221.
98
Doehring (Fn. 16), Rn. 208, 688, 690; Kreicker (Fn. 5),
S. 906 ff.; Meron, RdC 167 (1980-II), 285 (332).
99
Seidl-Hohenveldern/Loibl, Recht der Internationalen Organisationen, 7. Aufl. 2000, Rn. 1917, 1921. Zur Stellung der
Richter internationaler Gerichte vgl. Koster, Immunität internationaler Richter, 2002, S. 128 ff., 151 ff.; Kreicker (Fn. 5),
S. 947 ff.
100
IGH, ICJ-Reports 1989, 177 (195, Ziff. 51); Dahm/Delbrück/Wolfrum (Fn. 27), S. 222.
101
Kreicker (Fn. 5), S. 911 f.
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Helmut Kreicker
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disponieren dürfen, hinsichtlich der Gerichtsbarkeit des
IStGH „verzichtet“ haben.102
Diese „Verzichtsargumentation“ greift aber dann nicht,
wenn ein oder mehrere Mitgliedsstaaten einer Organisation
nicht zugleich Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind.
Gleichwohl sind auch in einem solchen Fall – von einer noch
zu erläuternden Ausnahme abgesehen – die Immunitäten für
Bedienstete der internationalen Organisation für den IStGH
unbeachtlich. Dies liegt daran, dass diese Immunitäten nur
die Mitgliedsstaaten der betreffenden Organisation als Parteien des Vertrages verpflichten, in dem die Exemtionen normiert sind. Wenn man nun davon ausgeht, dass jeder Staat
nach dem Weltrechtsprinzip zu einer nationalen Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen berechtigt ist,103 so darf
grundsätzlich jeder Drittstaat Funktionsträger einer internationalen Organisation ungeachtet der ihnen zukommenden,
aber den Drittstaat nicht bindenden Immunität wegen völkerrechtlicher Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Damit
aber kann er diese ihm zukommende Strafverfolgungskompetenz an den IStGH delegieren. In dem Fall, dass nicht alle
Mitgliedsstaaten einer internationalen Organisation gleichzeitig auch Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind, können
zwar diese selbst aufgrund der sie verpflichtenden völkervertraglichen Immunitäten keine Verfolgungskompetenz an den
IStGH delegieren. Der IStGH kann in einem solchen Fall
seine Verfolgungskompetenz aber immer noch aus der nationalen Verfolgungskompetenz derjenigen seiner Mitgliedstaaten ableiten, die in Bezug auf die in Frage stehende internationale Organisation Drittstaaten sind. Da mittlerweile 109
Staaten aus allen Regionen der Welt das Römische Statut
ratifiziert haben, internationale Organisationen aber regelmäßig einen sehr begrenzten Mitgliederkreis haben, dürfte in
fast allen Konstellationen ein Staat „zu finden sein“, der nicht
Mitgliedsstaat der Organisation ist, um dessen Funktionsträger es geht, wohl aber Vertragsstaat des Römischen Statuts.
Diese Begründung für die Irrelevanz der Immunitäten von
Bediensteten internationaler Organisationen für den IStGH
und damit für die Völkerrechtskonformität des Art. 27 Abs. 2
IStGH-Statut geht allerdings dann ins Leere, wenn eine internationale Organisation über einen so großen Mitgliederkreis
verfügt, dass kein Drittstaat mehr „übrig bleibt“, der an die
völkervertraglichen Immunitäten für die Funktionsträger
dieser Organisation nicht gebunden ist, aber Mitglied des
IStGH-Statuts ist und so diesem seine eigene – unbeschränkte
– Strafverfolgungskompetenz übertragen kann, gleichwohl
aber nicht alle Mitgliedsstaaten der Organisation auch Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind. Wenn – umgekehrt
gesprochen – alle Staaten, die Vertragsparteien des Römischen Statuts sind, auch Mitglieder der Organisation sind, um
deren Funktionsträger es geht, diese aber zudem über Mitglieder verfügt, die das Römische Statut nicht ratifiziert haben, dann kann der IStGH seine Strafkompetenz nur aus der
Strafgewalt der Mitgliedsstaaten der Organisation ableiten;
diese aber haben aufgrund der für sie bindenden Immunität
keine Kompetenz, den Funktionsträger zu verfolgen. Damit
102
103
A.A. aber Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430).
Vgl. hierzu oben Fn. 9.
darf auch der IStGH keine Strafverfolgung betreiben, sondern
ist – ungeachtet des Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut – zur Beachtung der Immunität verpflichtet.
Eine solche Konstellation besteht hinsichtlich der Vereinten Nationen. Bis auf das Kosovo, die Republik China (Taiwan) und die Vatikanstadt sind alle Staaten der Welt Mitglieder der Vereinten Nationen und damit an die Immunitäten für
die Funktionsträger der Vereinten Nationen zumindest über
Art. 105 Abs. 2 UN-Charta gebunden. Die drei NichtMitglieder sind jedoch nicht Vertragsstaaten des Römischen
Statuts. Diese Konstellation kann anhand eines Beispiels
verdeutlicht werden: Die USA haben das IStGH-Statut nicht
ratifiziert. Sie sind aber Mitglied der Vereinten Nationen. Als
solches haben sie gegenüber allen anderen UN-Staaten einen
Anspruch darauf, dass diese die den Funktionsträgern der
Vereinten Nationen aufgrund von Art. 105 Abs. 2 UN-Charta
zukommenden Immunitäten beachten und keine Strafverfolgung im Widerspruch zu diesen Immunitäten durchführen.
Andere Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen können also
nicht einfach dadurch, dass sie ohne Mitwirkung zumindest
eines „Nicht-UN-Staates“ ein internationales Gericht – den
IStGH – gründen und dieses mit Strafverfolgungskompetenzen ausstatten, die sie selber nicht haben, die ihnen (den USA
gegenüber) obliegende Pflicht zur Gewährung von Immunitäten umgehen.104
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut muss deshalb völkerrechtskonform dahingehend eingeschränkt werden, dass dieser
Immunitätsausschluss für Funktionsträger der Vereinten
Nationen nicht gilt.105 Bedienstete der Vereinten Nationen
dürfen mithin, sofern die ihnen vorgeworfene Tat von einer
ihnen zukommenden Immunität erfasst wird, nur dann vom
IStGH verfolgt werden, wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen zuvor auf die Immunität verzichtet hat.
Diese Rechtslage hat auch der Internationale Strafgerichtshof anerkannt und akzeptiert. Denn das Relationship
Agreement between the International Criminal Court and the
United Nations vom 4.10.2004106 verpflichtet in Art. 19 die
Vereinten Nationen, einen Immunitätsverzicht zu erklären,
sofern der IStGH einen Funktionsträger der Vereinten Nationen verfolgen will.107 Damit aber wird implizit zugleich die
grundsätzliche Geltung der Immunität von Funktionsträgern
der Vereinten Nationen auch gegenüber dem IStGH bestätigt.
Art. 19 des Agreements lautet:
„If the Court seeks to exercise its jurisdiction over a person who is alleged to be criminally responsible for a crime
within the jurisdiction of the Court and if, in the circumstances, such person enjoys, according to the Convention on
104
Ebenso Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (870).
So auch Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (869 f.,
880 ff.). Vgl. ferner Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430);
Kreicker (Fn. 5), S. 989 ff.
106
UN-Dokument A/58/874 (Annex). Ausführlich zu den
Regelungen über die Immunitäten der Vereinten Nationen im
Relationship Agreement Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001),
867 (868 ff.).
107
Akande, AJIL 98 (2004), 407 (430); Szasz/Ingadottir,
LJIL 14 (2001), 867 (882).
105
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Immunität und IStGH
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the Privileges and Immunities of the United Nations and the
relevant rules of international law, any privileges and immunities as are necessary for the independent exercise of his or
her work for the United Nations, the United Nations undertakes to cooperate fully with the Court and to take all necessary measures to allow the Court to exercise its jurisdiction,
in particular by waiving such privileges and immunities in
accordance with the Convention on the Privileges and Immunities of the United Nations and the relevant rules of international law.“
Praktische Relevanz dürfte die hier erörterte Problematik
wohl allenfalls für UN-(Blauhelm-)Soldaten erlangen können
(vgl. hierzu unten VI.3.).
VI. Exemtionen für Soldaten
Besondere Beachtung in der wissenschaftlichen Diskussion
hat – wegen ihrer hohen potentiellen Relevanz für den IStGH
– die Frage erlangt, inwieweit Soldaten völkerrechtliche
Exemtionen von der Gerichtsbarkeit des IStGH genießen. Ihr
soll an dieser Stelle gesondert nachgegangen werden, und
zwar auch deshalb, weil bei Soldaten danach zu differenzieren ist, ob es sich um Militärangehörige ohne Anbindung an
die Vereinten Nationen (1.), um Mitglieder von nationalen
Streitkräften, die durch eine UN-Sicherheitsratsresolution
mandatiert worden sind (2.), oder um Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen (3.) handelt.
1. Soldaten ohne Anbindung an die Vereinten Nationen
Soldaten genießen keinerlei völkerrechtliche Immunität allein
aufgrund des Umstandes, dass sie Soldaten sind.108 Eine
irgendwie geartete völkergewohnheitsrechtliche Immunität
speziell für Militärangehörige gibt es nicht; anders als dies
früher vereinzelt angenommen wurde,109 existiert auch keine
gewohnheitsrechtliche Regel des Inhalts, dass Soldaten, die
mit Einverständnis eines anderen Staates in diesem stationiert
sind oder sich dort sonst dienstlich aufhalten, Immunität von
dessen Strafgerichtsbarkeit zukommt. Soldaten können sich
allerdings – wie alle anderen staatlichen Funktionsträger –
auf die allgemeine Staatenimmunität berufen.110 Diese erfährt
jedoch – wie ausgeführt – bei völkerrechtlichen Verbrechen
eine Ausnahme und ist deshalb für den IStGH, dessen Zuständigkeit auf Völkerstraftaten beschränkt ist, irrelevant.
Im Rahmen ihrer militärischen Kooperation haben viele
Staaten völkerrechtliche Verträge ratifiziert, die eine (begrenzte) Immunität von Militärangehörigen eines Vertrags108
BGH NStZ 2004, 402 (402); OLG Nürnberg NJW 1975,
2151 (2152); Beling, Strafrechtliche Bedeutung der Exterritorialität, 1896, S. 135 ff.; Kissel/Mayer, Gerichtsverfassungsgesetz, 5. Aufl. 2008, § 20 Rn. 13; Sennekamp, NJW 1983,
2731 (2732); Witzsch, Strafgerichtsbarkeit über die Mitglieder der U.S.-Streitkräfte, 1970, S. 12. Vgl. auch Kreicker
(Fn. 5), S. 1031 ff. m.w.N.
109
RGSt 52, 167 (168). Siehe auch Dahm/Delbrück/Wolfrum
(Fn. 27), S. 481.
110
So auch Sennekamp, NJW 1983, 2731 (2732); Wirth, CLF
12 (2001), 429 (450, 458).
staates (des sogenannten „Entsendestaates“) von der Strafgerichtsbarkeit eines anderen Vertragsstaates (des sogenannten
„Aufnahmestaates“) vorsehen, in dessen Hoheitsgebiet sich
die Soldaten mit dessen Einverständnis dienstlich aufhalten,
etwa im Rahmen gemeinsamer Übungen oder als Stationierungsstreitkräfte („Status of Forces Agreements“ – SOFA’s).
So legt Art. VII Abs. 1 lit. b des NATO-Truppenstatuts111
fest, dass der Aufnahmestaat lediglich solche Straftaten der
dienstlich in seinem Hoheitsgebiet befindlichen Soldaten
eines anderen NATO-Staates verfolgen darf, die auf seinem
Staatsgebiet begangen wurden. Umgekehrt gesprochen ergibt
sich aus Art. VII Abs. 1 lit. b NATO-Truppenstatut eine
umfassende Immunität für Auslandstaten.112 Diese erfährt
auch bei völkerrechtlichen Verbrechen keine Ausnahme.113
Das bedeutet beispielsweise, dass Deutschland USamerikanische Soldaten, die im Ausland Kriegsverbrechen
begangen haben, nicht nach dem VStGB zur Verantwortung
ziehen darf, sofern und solange sie sich dienstlich, also in
ihrer Funktion als Mitglieder der US-Truppen, in Deutschland aufhalten. Hinsichtlich Inlandstaten, also im Gebiet des
jeweiligen Aufnahmestaates begangener Taten, normiert
Art. VII Abs. 3 NATO-Truppenstatut keine echte Immunität,
sondern legt fest, dass der Aufnahmestaat in Bezug auf Straftaten im Rahmen von Diensthandlungen sowie Straftaten, die
gegen das Vermögen des Entsendestaates oder gegen die
Person oder das Vermögen eines anderen Truppenmitglieds
des Entsendestaates („inter-se-Taten“) gerichtet waren, nur
nachrangig Strafgerichtsbarkeit ausüben darf, und zwar nur
dann, wenn der Entsendestaat von der ihm erteilten Befugnis,
innerhalb des Hoheitsgebiets des Aufnahmestaates strafverfolgend tätig zu werden, keinen Gebrauch macht. Hinsichtlich sonstiger Straftaten, die im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates verübt wurden, steht dagegen dem Aufnahmestaat das
Vorrecht auf Ausübung von Strafgerichtsbarkeit zu.114
Doch auch solche völkervertraglichen Exemtionen von
Soldaten auf der Basis von SOFA’s sind für den IStGH irrelevant. Soweit der Staat, zu dessen Streitkräften der betreffende Soldat gehört, Vertragsstaat des Römischen Statuts ist,
ergibt sich dies bereits aus dem oben unter II. dargelegten
Pauschalverzicht der Vertragsstaaten auf Immunitäten ihrer
Funktionsträger, der implizit mit der Ratifikation des Römischen Statuts erklärt wurde. Hinsichtlich der NichtVertragsstaaten des IStGH-Statuts folgt die Irrelevanz völkervertraglicher Immunitäten von Soldaten für den IStGH aus
dem Umstand, dass diese Immunitäten lediglich den jeweiligen Aufnahmestaat verpflichten, nicht jedoch alle anderen
Staaten. Alle anderen Staaten konnten damit, soweit sie Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind, ihre – nicht durch
Immunität eingeschränkte und wegen der Geltung des Universalitätsprinzips bei Völkerstraftaten auch räumlich unbe111
BGBl. 1961 II, S. 1190.
Birke, Strafverfolgung nach dem NATO-Truppenstatut,
2004, S. 84; Kreicker (Fn. 5), S. 1076 ff.
113
Dies zeigt Art. 98 Abs. 2 IStGH-Statut.
114
Vgl. im Einzelnen Ambos (Fn. 18), vor § 3 Rn. 118; Kissel/Mayer (Fn. 108), § 20 Rn. 28 f.; Kreicker (Fn. 5), S. 1080 ff.
m.w.N.
112
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grenzte – (materielle und formelle) Strafgewalt an den IStGH
delegieren. Insofern gilt das Gleiche wie bei den diplomatischen und konsularischen Immunitäten, die – wie oben unter
IV.3.c) dargelegt – für den IStGH ebenfalls selbst dann unbeachtlich sind, wenn es um Funktionsträger von Drittstaaten
geht.
Soldaten, die weder mit einem Mandat der Vereinten Nationen tätig sind noch Streitkräften der Vereinten Nationen
angehören, kommt also gegenüber dem IStGH keine Immunität zu, und zwar auch dann nicht, wenn sie Mitglieder der
Truppe eines Nicht-Vertragsstaates des IStGH-Statuts sind.
In Bezug auf solche Soldaten ist der Immunitätsausschluss
des Art. 27 IStGH-Statut mithin völkerrechtskonform und
rechtswirksam.
2. Mitglieder von nationalen Streitkräften mit Mandat der
Vereinten Nationen
Art. 41 UN-Charta sieht vor, dass der UN-Sicherheitsrat auf
bewaffnete Konflikte dadurch reagieren kann, dass er einzelne Staaten oder Staatengruppen ermächtigt, mit ihren Streitkräften militärisch einzugreifen. Ein militärisches Vorgehen
mit einem solchen Mandat des UN-Sicherheitsrates nach
Kapitel VII UN-Charta ist eine völkerrechtlich legalisierte
Gewaltanwendung durch die ermächtigten Staaten; die eingesetzten Streitkräfte werden dabei nicht als UN-Truppen, sondern als nationales Militär tätig. Dies bedeutet, dass die
Rechtsstellung der einzelnen Soldaten bei Einsätzen mit
einem Mandat des UN-Sicherheitsrates grundsätzlich dieselbe ist wie bei einem Tätigwerden ohne Anbindung an die
Vereinten Nationen.115 Gegenüber dem IStGH können sich
Soldaten deshalb grundsätzlich auch dann nicht auf eine
Immunität berufen, wenn es um Taten geht, die sie als Angehörige der Streitkräfte eines Staates verübt haben, der auf der
Basis einer Sicherheitsratsresolution nach Art. 41 UN-Charta
militärisch tätig geworden ist.116
Allerdings hat der UN-Sicherheitsrat in jüngerer Vergangenheit wiederholt in Resolutionen nach Kapitel VII UNCharta unmittelbar Immunitäten festgelegt, indem er anordnete, dass Soldaten, die Mitglieder von den Vereinten Nationen autorisierter Streitkräfte bzw. von UN-Streitkräften sind,
in Bezug auf Taten, die in einem Zusammenhang mit dem
Militäreinsatz stehen, ausschließlich der Gerichtsbarkeit ihres
115
Kreicker (Fn. 5), S. 1132 f. Teilweise – so etwa in Afghanistan – erfolgt ein von den Vereinten Nationen mandatierter
Einsatz nationaler Streitkräfte mit Einverständnis des betroffenen Staates. Dann besteht die Möglichkeit, in einem Vertrag zwischen den Staaten, die Truppen stellen, und dem
Aufenthaltsstaat den Status und auch Immunitäten der einzelnen Soldaten zu regeln. So wurde für die ISAF-Truppen in
Afghanistan am 4.1.2002 ein Military Technical Agreement
geschlossen (abgedruckt in ILM 42 [2002], 1032), das vollständige Immunität der Soldaten von der afghanischen Strafgerichtsbarkeit vorsieht; vgl. Kreicker (Fn. 5), S. 1134 ff.
Diese Immunität ist aber für den IStGH unbeachtlich, da sie
nur den Aufenthaltsstaat verpflichtet.
116
Kreicker (Fn. 5), S. 1144 f.
jeweiligen Entsendestaates unterworfen sind.117 Dies geschah
auf Drängen namentlich der USA, die sicherstellen wollten,
dass ihre Soldaten nicht vom IStGH oder von anderen Staaten
wegen Taten im Zusammenhang mit ihrem Einsatz zur Rechenschaft gezogen werden können.118 Eine solche – völkerrechtspolitisch verfehlte119 – Immunitätsregelung ist für alle
UN-Staaten über Art. 25 UN-Charta verbindlich. Damit aber
schränkt sie auch die Gerichtsbarkeit des IStGH ein, da sämtliche Vertragsstaaten des Römischen Statuts auch Mitglieder
der Vereinten Nationen sind, damit gemäß Art. 25 UN-Charta
an die Immunitätsregelung gebunden sind und deshalb keine
Kompetenz haben, eine weitergehende, also von der Immunität unbeschränkte Strafverfolgungszuständigkeit an den
IStGH zu delegieren.
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut ist also insofern unanwendbar, als eine Immunität unmittelbar in einer Resolution des
UN-Sicherheitsrates auf der Basis von Kapitel VII UNCharta verankert ist. Dieser Feststellung steht auch Art. 16
IStGH-Statut nicht entgegen. Zwar kann der UNSicherheitsrat danach eine Strafverfolgung durch den IStGH
„lediglich“ für maximal ein Jahr untersagen.120 Doch vermag
eine Regelung im IStGH-Statut – einem „einfachen“ völkerrechtlichen Vertrag – nicht die (weitergehende) Kompetenz
des UN-Sicherheitsrates nach der vorrangigen UN-Charta zu
beschränken.121
3. Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen verfügen bekanntlich über keine
eigenen ständigen Streitkräfte, da Abkommen im Sinne des
Art. 43 UN-Charta nie zustande gekommen sind. Allerdings
hat schon bald nach Gründung der Vereinten Nationen eine
so in der UN-Charta nicht vorgesehene Art des Militäreinsatzes im Rahmen der Vereinten Nationen internationale Anerkennung erfahren, und zwar der Einsatz von „UNPeacekeeping-Forces“ („UN-Friedenstruppen“, „Blauhelmtruppen“). Dabei handelt es sich um militärische Einheiten,
die sich aus Kontingenten einzelner Staaten zusammensetzen,
117
Vgl. Resolution 1497 (2003) vom 1.8.2003 (Liberia);
Resolution 1593 (2005) vom 31.3.2005 (Sudan/Darfur). Siehe
hierzu auch Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (594 ff.);
Kreicker (Fn. 5), S. 1137 ff., 1145 f.; Zappalà, JICJ 1 (2003),
671 (672 ff.).
118
Diese Stoßrichtung zeigt sich daran, dass die Resolutionen
die Immunität explizit auf Soldaten von Staaten beschränken,
die keine Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind.
119
Zu Recht kritisch Zappalà, JICJ 1 (2003), 671 (672 ff.).
120
Vgl. zu Art. 16 IStGH-Statut und der zu dieser Norm
ergangenen Resolution 1422 (2002) des UN-Sicherheitsrats
vom 12.7.2002 (abgedruckt in EuGRZ 2002, 664) Herbst,
EuGRZ 2002, 581 ff.; Kreicker (Fn. 5), S. 1151 ff. m.w.N. in
Fn. 460; Kreß, BdiP 2002, 1087 ff.
121
Zutreffend weist Lavalle, CLF 14 (2003), 195 (205) darauf hin, dass der IStGH an alle ihn betreffenden Resolutionen
des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta gebunden ist, unabhängig davon, ob diese mit dem Römischen
Statut, namentlich mit dessen Art. 16, vereinbar sind oder
nicht. Siehe hierzu auch Kreicker (Fn. 5), S. 1155 ff.
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Immunität und IStGH
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aber unter der (militärischen) Führung der Vereinten Nationen stehen. Auch wenn die einzelnen Soldaten weiterhin
Angehörige der Streitkräfte ihres Staates bleiben, so sind sie
doch einer einheitlichen, letztlich auf den UN-Sicherheitsrat
zurückzuführenden Befehlsgewalt der Vereinten Nationen
unterworfen. Sie sind daher funktional Organe der Vereinten
Nationen, was auch an ihrer besonderen Kennzeichnung
durch blaue Helme und durch die Verwendung der UNSymbole deutlich wird.122
In der Regel werden solche UN-Friedenstruppen mit Einverständnis der Konfliktparteien und betroffenen Staaten
eingesetzt. In diesen Fällen werden typischerweise von den
Vereinten Nationen mit dem Staat oder den Staaten, in dem
bzw. denen die Blauhelmsoldaten tätig werden, Verträge
geschlossen, die Einzelheiten des Truppeneinsatzes regeln.
Diese Statusabkommen mit dem Aufenthaltsstaat sehen vor,
dass den einzelnen Blauhelmsoldaten vollständige Immunität
ratione personae von der örtlichen Strafgerichtsbarkeit zukommt.123 Da solche Verträge allein den jeweiligen Aufenthaltsstaat zur Immunitätsgewährung verpflichten, sind sie
jedoch für den IStGH ohne Relevanz. Insofern gilt das Gleiche wie für die Immunitäten, die in SOFA’s wie dem NATOTruppenstatut normiert sind.
Da UN-Friedenstruppen funktional Organe der Vereinten
Nationen sind, genießen Blauhelmsoldaten allerdings unabhängig von vertraglichen Vereinbarungen mit dem Aufenthaltsstaat (auch) Immunitäten als Funktionsträger der Vereinten Nationen. Dies ist vor allem dann von Bedeutung, wenn –
etwa bei einem Einsatz im Gebiet eines „failed state“ – der
Abschluss eines Vertrages mit dem betroffenen Staat nicht
möglich ist. Für UN-Blauhelmsoldaten ist das Übereinkommen über die Vorrechte und Immunitäten der Vereinten Nationen vom 13.2.1946124 einschlägig; sie werden als Experts on
Mission im Sinne des Art. VI des Übereinkommens klassifiziert und genießen deshalb Immunität ratione materiae für
sämtliche Handlungen in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit.125 Diese Immunität, die auch bei völkerrechtlichen
Verbrechen keine Ausnahme erfährt, beschränkt nicht nur die
Strafgewalt des jeweiligen Aufenthaltsstaates, sondern die
aller UN-Staaten. Damit aber ist sie – wie bereits oben unter
V.2. dargelegt – auch für den IStGH bindend.
Wie schon ausgeführt, muss Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut
völkerrechtskonform dahingehend eingeschränkt werden,
dass dieser Immunitätsausschluss für Funktionsträger der
Vereinten Nationen nicht gilt; diese dürfen vom IStGH – wie
sich auch aus Art. 19 des Relationship Agreement between
the International Criminal Court and the United Nations vom
4.10.2004 ergibt126 – nur nach einem vorherigen Immunitätsverzicht durch den UN-Generalsekretär wegen völkerrechtlicher Verbrechen verfolgt werden. Mithin dürfen auch Mitglieder von Streitkräften der Vereinten Nationen (UNBlauhelmsoldaten) für völkerrechtliche Verbrechen (etwa
Kriegsverbrechen), die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als UNSoldaten verübt haben, vom IStGH nur bei Vorliegen eines
Immunitätsverzichts durch den UN-Generalsekretär verfolgt
werden.127
VII. Relevanz von Exemtionen bei Rechtshilfemaßnahmen
Da der IStGH über keine eigenen Vollzugsorgane verfügt, ist
er – etwa bei der Vollstreckung eines Haftbefehls – auf eine
Unterstützung durch die Staaten angewiesen. Ohne eine Kooperation der Staaten liefe die Gerichtsbarkeit des IStGH
faktisch leer. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit die
einzelnen Staaten durch die für sie (im Falle einer nationalen
Strafverfolgung) selbst bei völkerrechtlichen Verbrechen
relevanten Immunitäten – etwa durch die Immunität für amtierende Staatsoberhäupter oder die Immunität von Diplomaten – an einer Zusammenarbeit mit dem IStGH gehindert
sind.
Art. 27 Abs. 2 IStGH-Statut ist insofern nicht einschlägig;
diese Norm betrifft allein die Ausübung von Strafgerichtsbarkeit durch den IStGH. Rechtshilfemaßnahmen einzelner
Staaten sind jedoch, auch wenn sie für den IStGH ergriffen
werden, keine Maßnahmen in Ausübung von Strafgerichtsbarkeit des IStGH, sondern völkerrechtlich als nationale
Hoheitsakte des betreffenden Staates einzustufen.
Grundsätzlich gilt, dass völkerrechtliche Immunitäten, die
einen Staat an einer eigenen nationalen Strafverfolgung hindern, diesem Staat auch untersagen, Rechtshilfemaßnahmen
für eine Strafverfolgung durch dritte Staaten oder internationale Gerichte zu ergreifen.128 Denn dem Zweck der Immunitäten laufen Rechtshilfemaßnahmen – etwa eine Überstellung
an einen anderen Staat zum Zwecke der dortigen Strafverfolgung – ebenso zuwider wie Strafverfolgungen durch Gerichte
des betreffenden Staates. Insofern ist als Grundsatz festzuhalten, dass Immunitäten den Staaten in dem Umfang, in dem
sie einer nationalen Strafverfolgung entgegenstehen, auch
untersagen, Rechtshilfemaßnahmen für den IStGH zu ergreifen.129
126
122
Vgl. Bothe/Dörschel, in: Fleck (Hrsg.), Handbook of the
Law of Visiting Forces, 2001, S. 490, 496; Hermsdörfer,
NZWehrr 1997, 100 (104 f.); Schotten, HuV-I 1997, 222 (224 f.).
123
Bothe/Dörschel (Fn. 122), S. 492 ff. Der UN-Generalsekretär
hat 1990 ein entsprechendes Musterabkommen vorgelegt
(UN-Dokument A/45/594). Vgl. hierzu Hermsdörfer,
NZWehrr 1997, 100 (107 f.); Schotten, HuV-I 1997, 222 (226).
124
Vgl. oben Fn. 96.
125
Gerster/Rotenberg, in: Simma (Hrsg.), Charter of the
United Nations, 2. Aufl. 2002, Art. 105 Rn. 29 f.; Hermsdörfer, NZWehrr 1997, 100 (105 f.); Kreicker (Fn. 5), S. 1127 ff.;
Schotten, HuV-I 1997, 222 (226 f.).
Vgl. oben Fn. 106 mit dazugehörigem Text.
So auch Szasz/Ingadottir, LJIL 14 (2001), 867 (880 f.).
A.A., jedoch ohne substantielle Begründung, Stahn, EJIL 14
(2003), 85 (94 f.).
128
Kissel/Mayer (Fn. 108), § 21 Rn. 15.
129
Akande, JICJ 1 (2003), 618 (642); Ambos (Fn. 6), § 8
Rn. 66; Kreicker (Fn. 5), S. 1374 ff., insbesondere S. 1386 ff.
A.A. Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 14, 23 mit dem Argument, die für den IStGH geltenden Immunitätsausnahmen –
etwa von der Immunität der Staatsoberhäupter – gälten auch,
soweit es um Unterstützungsmaßnahmen einzelner Staaten
für den IStGH gehe. Rückhalt in der Völkerrechtspraxis oder
im IStGH-Statut findet diese These jedoch – bislang – nicht.
127
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Diese Rechtslage wird auch vom IStGH-Statut anerkannt.
Ihr trägt Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut Rechnung, der lautet:
„Der Gerichtshof darf kein Überstellungs- oder Rechtshilfeersuchen stellen, das vom ersuchten Staat verlangen würde,
in Bezug auf die Staatenimmunität oder die diplomatische
Immunität einer Person oder des Eigentums eines Drittstaats
entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln, sofern der Gerichtshof nicht zuvor die Zusammenarbeit
des Drittstaats im Hinblick auf den Verzicht auf Immunität
erreichen kann.“
Diese – unglücklich formulierte – Norm akzeptiert die
Verpflichtung der Staaten, keine Rechtshilfemaßnahmen für
den IStGH zu ergreifen, sofern die betreffende Person gegenüber der nationalen Gerichtsbarkeit völkerrechtliche Immunität genießt. Dem IStGH wird aufgegeben, ein Rechtshilfeersuchen, dem eine Immunität entgegensteht, nur dann zu stellen, wenn zuvor – vom IStGH – ein Immunitätsverzicht des
immunitätsberechtigten Staates herbeigeführt werden konnte.130 Die Vorschrift gilt ungeachtet ihres Wortlauts für sämtliche völkerrechtlichen Immunitäten.131
Obwohl völkerrechtliche Immunitäten mit Ausnahme der
Immunitäten für Funktionsträger der Vereinten Nationen für
den IStGH selbst irrelevant sind, vermögen sie mithin unter
Umständen faktisch eine Ahndung völkerrechtlicher Verbrechen durch den IStGH zu verhindern, weil sie einzelnen Staaten erforderliche Unterstützungsmaßnahmen untersagen.
Allerdings ist Folgendes zu bedenken: Sofern der UNSicherheitsrat durch eine Resolution auf der Basis von Kapitel VII UN-Charta i.V.m. Art. 13 lit. b IStGH-Statut ein
Strafverfahren vor dem IStGH initiiert – wie dies mit der
bereits erwähnten Resolution 1593 (2005) hinsichtlich des
Geschehens im sudanesischen Darfur und damit im Fall des
sudanesischen Staatspräsidenten al Bashir geschehen ist –,
wird damit vom UN-Sicherheitsrat zumindest implizit zum
Ausdruck gebracht, dass eine Strafverfolgung stattfinden und
nicht durch völkerrechtliche Immunitäten gehindert sein soll.
Dies bedeutet, dass eine derartige Sicherheitsratsresolution
nicht nur – wie oben unter III. dargelegt – aufgrund ihrer
Bindungskraft nach Art. 25 UN-Charta mit Rechtswirkung
für den immunitätsberechtigten Staat sämtliche völkerrechtlichen Immunitäten insofern implizit für unwirksam erklärt, als
130
Akande, JICJ 1 (2003), 618 (640 f.); Ambos (Fn. 6), § 8
Rn. 66; Gaeta (Fn. 2), S. 992 ff.; Meißner (Fn. 6), S. 120 ff.
Bedeutsam ist, dass die Entscheidungskompetenz darüber, ob
im Einzelfall eine völkerrechtliche Immunität der Erledigung
eines Rechtshilfeersuchens entgegensteht, dem IStGH, nicht
aber dem ersuchten Staat zukommt; vgl. Kreß, in: Grützner/Pötz/ders., Internationaler Rechtshilfeverkehr, 56. Lfg.
2002, Vor III 26, Rn. 242; Meißner, HuV-I 2002, 35 (35 ff.).
Ein vom IStGH um Rechtshilfe – etwa um Vollstreckung
eines Haftbefehls – ersuchter Staat darf mithin, ungeachtet
seiner etwaigen völkerrechtlichen Verantwortlichkeit dem
immunitätsberechtigten Staat gegenüber, ein Ersuchen des
IStGH nicht unter Hinweis auf eine (vermeintliche) Immunität zurückweisen. Dem trägt für Deutschland § 21 GVG
Rechnung.
131
Ambos (Fn. 6), § 8 Rn. 66.
es um die Strafgerichtsbarkeit des IStGH selbst geht, sondern
auch insofern, als es Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten – auch Nicht-Vertragsstaaten – für den IStGH betrifft.132
Bei einer Verfahrensinitiierung durch den UN-Sicherheitsrat
nach Art. 13 lit. b IStGH-Statut stehen mithin Immunitäten
etwaigen Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten nicht
entgegen.133 Aus diesem Grunde durfte der IStGH im Fall al
Bashir die Staaten ohne Rücksicht auf die einer nationalen
Strafverfolgung entgegenstehende Immunität al Bashirs als
Staatsoberhaupt ersuchen, diesen zu verhaften und an den
Gerichtshof zu überstellen;134 die Vertragsstaaten des Römischen Statuts sind verpflichtet, dem Ersuchen des IStGH um
Vollstreckung des Haftbefehls vom 4.3.2009 nachzukommen.
Zudem stellt sich die Frage, ob eventuell die Immunitäten, die von den Staaten zu Gunsten von Vertragsstaaten des
Römischen Statuts zu gewähren sind, Rechtshilfemaßnahmen
einzelner Staaten für den IStGH keine Schranke setzen, und
zwar deshalb nicht, weil die Vertragsstaaten durch Ratifizierung des Römischen Statuts nicht nur gegenüber dem IStGH
auf ihnen zustehende Immunitäten verzichtet haben (vgl.
hierzu oben II.), sondern auch in Bezug auf Rechtshilfemaßnahmen anderer Staaten für den IStGH. Ein solcher Verzicht
wäre ohne weiteres möglich und statthaft, müsste sich aber
zumindest mittelbar aus dem Römischen Statut ergeben.
132
Dies gilt in Bezug auf die Darfur-Resolution 1593 (2005)
und den Haftbefehl gegen al Bashir ungeachtet des Umstandes, dass die Darfur-Resolution des UN-Sicherheitsrats „lediglich“ den Sudan zu einer Zusammenarbeit mit dem IStGH
verpflichtet, an die anderen Staaten dagegen nur appelliert,
mit dem IStGH, etwa durch eine Verhaftung al Bashirs, zu
kooperieren (vgl. unten Fn. 134), und zwar deshalb, weil die
Resolution gerade den Sudan in die Pflicht nimmt und es im
Fall al Bashir um eine dem Sudan zustehende Immunität
geht. A.A. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (140 f.).
133
Gaeta (Fn. 2), S. 989; Kreicker, HuV-I 2008, 157 (163);
Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 24. Vgl. auch Alebeek
(Fn. 12), S. 280. A.A. Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126
(140 f.). Eine Ausnahme von der hier vertretenen Wirkkraft
von UN-Sicherheitsratsresolutionen, die aber praktisch kaum
relevant werden dürfte, besteht in Bezug auf Immunitäten,
die zu Gunsten von Staaten zu gewähren sind, die nicht Mitglieder der Vereinten Nationen sind.
134
Vgl. Request to all States Parties to the Rome Statute for
Arrest and Surrender of Omar al Bashir vom 6.3.2009, ICC02/05-01/09-7. Weitere Verhaftungs- und Überstellungsersuchen ergingen an den Sudan selbst (ICC-02/05-01/09-5) und
an die UN-Staaten, die nicht Vertragsstaaten des Römischen
Statuts sind (ICC-02/05-01/09-8). Letztere sind allerdings
nicht verpflichtet, dem Ersuchen nachzukommen, da sie nicht
an das Römische Statut gebunden sind und die Sicherheitsratsresolution 1593 (2005) lediglich den Sudan zu einer Zusammenarbeit mit dem IStGH verpflichtet, die anderen Staaten hingegen nur – unverbindlich – hierzu auffordert; vgl.
Burghardt/Geneuss, ZIS 2009, 126 (140); Condorelli/Ciampi, JICJ 3 (2005), 590 (592 f.).
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ZIS 7/2009
366
Immunität und IStGH
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Anders als zum Teil in der Literatur argumentiert wurde,135
lässt sich ein solcher Verzicht aber nicht damit begründen,
Art. 98 Abs. 1 IStGH-Statut erkläre lediglich die Immunitäten von „Drittstaaten“ für beachtlich. Denn als Drittstaat wird
in Teil 9 des Statuts jeder Staat bezeichnet, der im konkreten
Fall nicht Adressat eines Rechtshilfeersuchens des IStGH
ist.136 Weiter wird in der Literatur argumentiert, der hier
diskutierte Verzicht der Vertragsstaaten auf ihnen zukommende Immunitäten ergebe sich aus Art. 27 Abs. 2 IStGHStatut.137 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Art. 27
Abs. 2 IStGH-Statut – wie schon betont – seinem klaren
Wortlaut nach nur die Gerichtsbarkeit des IStGH selbst betrifft. Auch wenn dies kriminalpolitisch äußerst unbefriedigend ist, so muss doch konstatiert werden, dass dem Römischen Statut ein Immunitätsverzicht der Vertragsstaaten hinsichtlich Rechtshilfemaßnahmen anderer Staaten nicht entnommen werden kann.138 Von den Staaten bei völkerrechtlichen Verbrechen zu beachtende Immunitäten stehen mithin
Rechtshilfemaßnahmen einzelner Staaten auch dann entgegen, wenn es um die Immunität von Funktionsträgern von
Vertragsstaaten des Römischen Statuts geht. Es wäre wünschenswert, wenn im Rahmen einer zukünftigen Revision des
Statuts dessen Art. 98 nicht nur sprachlich neu gefasst, sondern auch inhaltlich durch Festschreibung eines Immunitätsverzichts in Bezug auf Rechtshilfemaßnahmen novelliert
würde.
VIII. Fazit
Lediglich die Exemtionen für Funktionsträger der Vereinten
Nationen, namentlich für UN-Blauhelmsoldaten, und solche
Immunitäten, die explizit in Resolutionen des UNSicherheitsrates nach Kapitel VII UN-Charta festgelegt sind,
vermögen die Gerichtsbarkeit des IStGH zu beschränken;
insofern ist der Immunitätsausschluss des Art. 27 Abs. 2
IStGH-Statut unwirksam.
Alle anderen völkerrechtlichen Immunitäten dagegen stehen einer Strafverfolgung durch den IStGH nicht entgegen.
Dies gilt selbst für die Exemtionen, die – wie etwa die diplomatischen und konsularischen Exemtionen und die Immunität
für amtierende Staatsoberhäupter – in Bezug auf nationale
Strafverfahren auch bei völkerrechtlichen Verbrechen ein
Strafverfolgungshindernis darstellen.
Allerdings können solche Immunitäten insofern für den
IStGH mittelbar von Relevanz sein, als sie unter Umständen
einzelnen Staaten untersagen, Rechtshilfemaßnahmen für den
Gerichtshof zu ergreifen, etwa einen Beschuldigten an den
IStGH zu überstellen.
135
Siehe hierzu Gaeta (Fn. 2), S. 993 f.; Paulus, EJIL 14
(2003), 843 (857); Vierucci, JICJ 2 (2004), 275 (281).
136
Wie hier Kreß (Fn. 130), Vor III 26, Rn. 241; Meißner
(Fn. 6), S. 123.
137
Akande, AJIL 98 (2004), 407 (422 ff., 432 f.); Ambos
(Fn. 6), § 8 Rn. 66; Cryer et al. (Fn. 20), S. 440 f.;
Kreß/Prost (Fn. 6), Art. 98 Rn. 13 f.; Meißner (Fn. 6), S. 123
f., 213; Wirth, CLF 12 (2001), 429 (452, 456).
138
Kreicker (Fn. 5), S. 1391 ff.
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Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas
Una crítica a la utilización excesiva del derecho penal en procesos de transición: no peace without
justice o bien no peace with justice
De Prof. Dr. Ezequiel Malarino, Buenos Aires, Argentina
This paper presents briefly the two main topics in which
Latin American practice has particularly enriched the discussions on transitional justice. On the one hand, the author
refers to the right to truth and to the institutional mechanisms
implemented by national or international instances to exercise this right. On the other hand, he examines the tension
between justice and peace; a tension always existing in the
transitional justice processes. The author criticizes the prohibition of an amnesty for serious crimes established by the
Interamerican Court for Human Rights in the Barrios Altos
case and followed by many tribunals in Latin-American
countries. He makes the case for the use, in certain and
clearly defined cases, of an amnesty to obtain or maintain the
peace. He considers the interest of obtaining and maintaining
the peace more important than an interest to punish the crimes, as a peace situation constitutes the indispensable condition to develop any elementary form of social coexistence,
being at the same time an essential element to the very rule of
law.
El trabajo presenta, esquemáticamente, los dos aspectos en
los cuales la experiencia latinoamericana ha particularmente
enriquecido las discusiones sobre justicia de transición. El
autor se refiere, por un lado, al derecho a la verdad y a los
mecanismos institucionales para ejercerlo y, por el otro, a la
cuestión del rol del derecho penal como herramienta de
superación del pasado, esto es, a la cuestión de la tensión,
siempre presente en los procesos de transición, entre justicia
y paz. Especialmente sobre esta última cuestión el autor
efectúa algunas consideraciones más profundas. El autor
critica la doctrina de los límites absolutos a la facultad de
amnistiar con base en la gravedad de los crímenes
establecida por la CorteIDH en el caso Barrios Altos y
seguida por varios tribunales de países latinoamericanos y
rescata la función que, en ciertas ocasiones, puede cumplir
una amnistía conciliadora para obtener o mantener la paz,
bien que considera superior a la punición de los crímenes en
cuanto constituye la condición indispensable para el
desarrollo de cualquier forma elemental de convivencia
social y por ello también para la existencia misma de un
Estado de derecho.
protección de ciertos valores occidentales y cristianos fueron
los motivos usualmente alegados por las autoridades estatales
-generalmente, aunque no exclusivamente, dictaduras
militares- para justificar su participación en tales episodios.
Guiados ideológicamente por la doctrina de la seguridad
nacional, varios Estados de América Latina dieron inicio así a
una lucha contra la subversión que degeneró en cruentas y
sistemáticas violaciones de los derechos humanos:
detenciones arbitrarias, torturas, asesinatos extrajudiciales,
desaparición de personas fueron moneda corriente del actuar
estatal y signos evidentes de una política de lucha frontal
contra el opositor político. Fue especialmente dicha
criminalidad de estado la que marcó el pasado reciente de
gran parte de los países de la región. Luego de la terminación
del conflicto (restablecimiento de la democracia, finalización
de la guerra) o, a veces, ya en medio de la situación de
conflicto los estados de América Latina han puesto en
práctica diversos mecanismos o políticas para superar,
elaborar o hacer frente a los complejos escenarios de
violaciones sistemáticas a los derechos humanos que habían
vivido; muchos de esos mecanismos continúan hoy siendo
aplicados.
Diferentes estudios sobre la justicia de transición en
América Latina confirman una observación ya clásica: más
allá de ciertas coincidencias, cada experiencia de transición
es diferente de las demás.1 Ello se debe a que diversos
factores, tales como la magnitud y naturaleza del conflicto, la
conformación social y cultural de la sociedad y especialmente
la relación de fuerzas entre facciones políticas, sociales y/o
militares antagonistas existente en un momento dado,
condicionan la elección de los mecanismos concretos de un
proceso de transición. De estos factores dependerá qué
medidas podrá poner en práctica un Estado, qué
características concretas podrán tener tales medidas y en qué
momento podrán ser adoptadas. Si el régimen o los sectores
sociales o políticos que han estado involucrados en las
violaciones de los derechos humanos conservan una amplia
cuota del poder político o militar, entonces la elaboración del
conflicto a través del derecho penal será problemática o
incluso imposible; en estos casos, el precio de la paz será a
1
I. En las últimas décadas del siglo pasado, la mayoría de
los países latinoamericanos han sido el escenario de
sangrientos enfrentamientos entre diversos sectores políticos
y sociales; en algunos casos, Colombia es el ejemplo, esta
situación de conflicto perdura hasta nuestros días. Los
conflictos tuvieron como protagonistas tanto a grupos al
margen de la ley (agrupaciones guerrilleras de diverso tipo,
escuadrones de la muerte, grupos de auto-defensa o
paramilitares), como al mismo Estado. El mantenimiento del
orden, la defensa de la seguridad nacional y, a veces, la
Cfr. los diferentes trabajos contenidos en Kai Ambos/Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (editores), “Justicia de
transición. Con informes de América Latina, Alemania, Italia
y España”, Fundación Konrad Adenauer, Montevideo, 2009 y
también Kai Ambos, El marco jurídico de la transición, traducción de Ezequiel Malarino, Temis, Bogotá, 2008, p. 22 y
la bibliografía allí citada (en nota 46); vers. actualizada
inglesa en K. Ambos/J. Large/M. Wierda (eds.), Building a
Future on Peace and Justice. Studies on Transitional Justice,
Peace and Development. The Nuremberg Declaration on
Peace and Justice, Springer, Berlin 2009, pp. 19 ss.
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ZIS 7/2009
368
Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas
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menudo la renuncia a la persecución penal. Si, en cambio, los
sectores o grupos que han producido las violaciones a los
derechos humanos han perdido completamente toda cuota de
poder, entonces quien diseñe la política de transición
(generalmente, el nuevo gobierno) tendrá un margen mucho
mayor para elegir qué medidas pondrá en práctica para
afrontar el pasado, incluyendo naturalmente la persecución
penal de los autores de delitos.2
Esta sujeción de la política de transición a la realidad
política concreta – también al contexto social y cultural – no
sólo hace que el repertorio de las medidas utilizadas y la
configuración concreta de ellas varíe en cada experiencia de
transición y también en cada momento o etapa que atraviesa
un proceso de transición, sino que dificulta también la
obtención de conclusiones generales confiables sobre la
transición en un sector geopolítico tan vasto y disímil como
América latina. Tales conclusiones globales sólo pueden
obtenerse al costo de enormes simplificaciones, lo que, en
definitiva, pone en duda su utilidad; de otro modo: es posible
extraer conclusiones globales a partir de generalizaciones de
los diferentes procesos de transición, pero tales conclusiones,
al prescindir necesariamente de muchos datos de la realidad
concreta (factores particulares que incidieron, en cada
experiencia, en la adopción de una medida determinada), no
darán más que una imagen superficial y, en ciertos casos,
distorsionada del problema. La correcta valoración de una
medida determinada deberá tener en cuenta las circunstancias
particulares y el contexto global en que ella fue adoptada y
ello sólo es posible en el marco de un análisis pormenorizado
de un proceso de transición concreto.
Por lo dicho, no describiré aquí de manera general cómo
ha sido la transición en América Latina, porque tal grado de
generalización no aportaría ningún provecho a la discusión
sobre justicia de transición, ni tampoco expondré de manera
resumida cómo ha sido cada una de las experiencias
particulares en la región, pues con ello no haría más que
repetir información expuesta con profundidad en
2
Baste aquí con recordar algunos claros ejemplos de la experiencia latinoamericana: En chile, durante los primeros años
de democracia fue imposible siquiera pensar en la responsabilidad penal de los antiguos gobernantes; tal era el poder del
viejo régimen que el antiguo dictador conservó por varios
años el mando supremo de las fuerzas armadas y un cargo
político de importancia (senador vitalicio) y los sectores que
habían apoyado su dictadura conservaron un amplísimo poder
político en la legislatura. Sólo en épocas recientes, cuando
esa cuota de poder de los antiguos gobernantes de facto comenzó a resquebrajarse, han iniciado a tener éxito en amplia
medida los cuestionamientos judiciales del decreto-ley 2.198
de auto-amnistía. La transición argentina muestra otro
clarísimo ejemplo de las vicisitudes que rodearon a la persecución penal debido a la diferente conformación de las
relaciones de poder en cada momento histórico: se pasó de
una etapa de persecución penal (juicios a los ex comandantes,
etc.) a una de impunidad (Leyes de Punto Final y Obediencia
debida; indultos) para retornar luego a la persecución penal
(nulidad de amnistías e indultos).
innumerables trabajos ya publicados. Aquí tan sólo enunciaré
brevemente cuáles son los principales aportes que la
experiencia latinoamericana ha hecho a la discusión sobre
justicia de transición y analizaré luego con más detalle alguno
de estos aspectos. Creo que en dos grandes temas la
experiencia latinoamericana ha particularmente enriquecido
las discusiones sobre justicia de transición. Por un lado, en lo
que se refiere a la verdad como reparación a las víctimas y
como base para la reconciliación y la consolidación de la
nueva sociedad. Por el otro, en lo que atañe al rol del derecho
penal como herramienta de superación del pasado, esto es, a
la cuestión de la tensión, siempre presente en los procesos de
transición, entre justicia y paz, que se refleja en la
contraposición entre el reclamo por la persecución penal de
los crímenes y la necesidad en ciertos casos de conceder
amnistías.
II. Es indudable que la experiencia latinoamericana ha
aportado mucho a la discusión sobre el rol de la verdad en los
procesos de transición; ella ha contribuido tanto a la
consolidación de un derecho a la verdad, como a la de los
mecanismos institucionales para poder ejercerlo.
El derecho a la verdad, enunciado ya en los arts. 32 y 33
del Protocolo Adicional I de 1977 a los Convenios de
Ginebra de 1949,3 se ha consolidado y desarrollado
principalmente en la jurisprudencia de los órganos del
sistema interamericano de protección de los derechos
humanos y de ahí ha pasado a la jurisprudencia de los
Estados latinoamericanos. Ya en sus primeras decisiones la
Corte Interamericana de Derechos humanos (CorteIDH) se
había referido al derecho que asiste a los familiares de las
víctimas a conocer lo sucedido, específicamente a saber cuál
es el destino de la persona desaparecida y, en su caso, dónde
se encuentran los restos.4 En decisiones posteriores, la
CorteIDH reconoció explícitamente el derecho a la verdad
como un derecho de la víctima y a la verdad como un
componente necesario de la reparación. Básicamente, la
CorteIDH entiende el derecho a la verdad como el derecho al
esclarecimiento de los hechos violatorios y de las
responsabilidades correspondientes5; especialmente en las
3
El art. 32 prevé “el derecho que asiste a las familias de
conocer la suerte de sus miembros”. El art. 33 obliga a los
Estados partes a buscar “las personas cuya desaparición haya
señalado una parte adversa” (apartado 1).
4
Cfr., entre otros, CorteIDH, Velásquez Rodríguez contra
Guatemala, sentencia de 29.7.1988, serie C No. 4 , parágrafo
181; CorteIDH, Godínez Cruz contra Guatemala, sentencia
de 20.1.1989, serie C No.5, parágrafo 191.
5
Cfr., CorteIDH, Bámaca Velásquez contra Guatemala, sentencia del 25.11.2000, serie C No. 70 parágrafo 201;
CorteIDH, Barrios Altos contra Perú, sentencia del
14.3.2001, serie C No. 75 parágrafo 48; CorteIDH, Carpio
Nicolle y otros contra Guatemala, sentencia de 22.11.2004,
serie C No. 117 parágrafo 128; CorteIDH, Comunidad Moiwana contra Suriname, sentencia de 15.6.2005, serie C No.
124 parágrafos 203 s; CorteIDH, Masacre de Mapiripán contra Colombia, sentencia de 15.9.2005, serie C No. 134,
parágrafo 297; CorteIDH, Gómez-Palomino contra Perú,
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Ezequiel Malarino
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decisiones más recientes se advierte una estrecha vinculación
entre este derecho y el derecho a la justicia de las víctimas, en
el sentido de que habría una “obligación del Estado de lograr
la verdad a través de procesos judiciales”6. La Comisión
Interamericana de Derechos humanos (ComIDH), por su
parte, ha reconocido el derecho a la verdad como un derecho
individual de la víctima, pero también como un derecho
colectivo de la sociedad. En palabras de la ComIDH el
derecho a la verdad es un “derecho de carácter colectivo que
permite a la sociedad tener acceso a información esencial
para el desarrollo de los sistemas democráticos y a la vez un
derecho particular para los familiares de las víctimas, que
permite una forma de reparación, en particular, en los casos
de aplicación de leyes de amnistía.”7 El derecho a la verdad
también ha sido reconocido en diversas decisiones de
tribunales de países latinoamericanos.8
La experiencia latinoamericana proporciona también varios
ejemplos de mecanismos para ejercitar este derecho a la
verdad. Ante todo, América Latina ha tenido una larga
sentencia de 22.11.2005, serie C No. 136 parágrafos 76 s;
CorteIDH, Blanco-Romero et al contra Venezuela, sentencia
de 28.11.2005, serie C No. 138 parágrafos 95 s; CorteIDH,
Masacre de Pueblo Bello contra Colombia, sentencia de
31.1.2006, serie C No. 140 parágrafos 219, 266; CorteIDH,
Baldeón-García contra Perú, sentencia de 6.4.2006, serie C
No. 147 parágrafo 196; CorteIDH, Masacre de Ituango contra
Colombia, sentencia de 1.7.2006, serie C parágrafo 399;
CorteIDH, Ximenes-Lopes contra Brasil, sentencia de
4.7.2006, serie C No. 149 parágrafo 245; CorteIDH,
Servellón-García et al. contra Honduras, sentencia de
21.9.2006, serie C No. 152, parágrafo 193; CorteIDH, Almonacid-Arellano et al.contra Chile, sentencia de 26.9.2006,
serie C No. 154, parágrafos 148 s; CorteIDH, Penal Miguel
Castro-Castro contra Perú, sentencia de 25.11.2006, serie C
No. 160, parágrafo 440.
6
Cfr. CorteIDH, Almonacid-Arellano et al.contra Chile,
sentencia de 26.9.2006, serie C No. 154, parágrafo 150.
7
Cfr., entre muchos otros, el Informe 136/99 de 22.12.1999
en el caso Ignacio Ellacuría et al., parágrafo 224.
8
Véase especialmente la sentencia de la Corte Constitucional
peruana en el caso Villegas Namuche del 9.12.2004, Expediente 2488-2002-HC/TC, en donde se reconoció una dimensión individual y otra colectiva del derecho a la verdad
(parágrafo 9). Cfr. también las sentencias de la Corte Suprema argentina en los casos Urteaga del 15.10.1998 (derecho a la verdad por medio de la acción de habeas data) y
Hagelin del 8.9.2003 (derecho a la verdad en el proceso penal). Ver también las sentencias de la Corte Constitucional
colombiana C-578/02 de 30.7.2002 y C-580/02 de 31.7.2002
y también T-249/03 del 21.3.2003. Sobre algunas de estas
decisiones hay un pequeño resumen en Ezequiel Malarino,
“Jurisprudencia latinoamericana sobre derecho penal internacional. Conclusiones y consideraciones críticas”, en Kai
Ambos/Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (eds.), Jurisprudencia latinoamericana sobre derecho penal internacional. Con
un informe adicional sobre la jurisprudencia italiana, KAS,
Montevideo, febrero 2008, pp. 421/448.
experiencia en cuanto a comisiones de la verdad. Inició este
camino la “Comisión Nacional de Investigación de
Desaparecidos Forzados” establecida en Bolivia en 1982 que,
si bien fue disuelta antes de emitir su informe, sirvió de
antecedente para la creación de organismos similares en otros
países de la región. La comisión que adquirió mayor
notoriedad en y fuera de Latinoamérica fue seguramente la
“Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas”
(CONADEP), creada en Argentina a finales de 1983 con el
objetivo específico de averiguar el destino de las personas
desaparecidas. Esta Comisión ganó notoriedad por ser la
primera en la región que culminó su tarea con la emisión de
un informe, cuyo título hoy se ha convertido en un lema más
allá de las fronteras argentinas y latinoamericanas: Nunca
más. A partir de allí casi todos los países han contado con
instituciones oficiales similares encargadas de la búsqueda de
la verdad, aunque con ciertas diferencias en cuanto a la
naturaleza, composición, funciones y atribuciones.9
Además de las comisiones de la verdad, la experiencia
latinoamericana nos proporciona otros ejemplos de
mecanismos o instancias para ejercer este derecho, que aquí
me limitaré tan sólo a enunciar. Así, el derecho a la verdad ha
sido exigido en el curso de un procedimiento penal normal10,
a través de instrumentos encaminados a obtener información
del Estado como la acción de habeas data11 o bien a través de
los llamados juicios de la verdad, esto es, procedimientos
ante tribunales penales con la única finalidad de investigar los
hechos y sin aplicación de sanciones penales. Estos juicios
tuvieron lugar en Argentina y fueron la consecuencia de un
acuerdo de solución amistosa entre la ComIDH y el Estado
argentino – plasmado en el Informe 21/00 de la ComIDH12 –;
este acuerdo tuvo lugar en un momento en que la persecución
penal estaba impedida por las llamadas leyes de amnistía.
III. El segundo punto en el que la experiencia
latinoamericana ha aportado a la discusión sobre justicia de
transición se refiere, como he anticipado, al rol del derecho
penal como herramienta de superación del pasado. Las
9
Sobre las diferentes comisiones de la verdad véase cada uno
de los informes nacionales contenidos en Kai Ambos/
Ezequiel Malarino/Gisela Elsner (supra nota 1). Es preciso
destacar, aquí, que muchas de esas comisiones han tenido un
rol importante en la reparación de las víctimas.
10
Esto ha sido señalado en varias decisiones nacionales y
también por la CorteIDH en su decisión en el caso Almonacid-Arellano (ver la cita arriba en la nota 6). Para una convincente crítica del proceso penal como lugar adecuado para
averiguar la verdad y en general para una crítica al llamado
“derecho a la verdad”, cfr. Daniel Pastor, “¿Procesos penales
sólo para conocer la verdad? La experiencia argentina”, en
Eiroa, Pablo y Otero, Juan Manuel (compiladores), Memoria
y derecho penal, Fabián Di Plácido, Buenos Aires, 2008, pp.
325 ss.
11
Éste fue el medio que la Corte Suprema argentina un
primer momento había reconocido para hacer valer el derecho a la verdad (caso Urteaga, sentencia del 15.10.1998).
12
ComIDH, Informe n 21/00, caso 12.059, Carmen Aguiar de
Lapacó, Argentina, 29.2.2000.
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ZIS 7/2009
370
Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas
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reflexiones sobre cómo encarar la tensión entre justicia y paz
y, en particular, cómo resolver la contraposición entre un
derecho a la justicia concebido cada vez más de manera
absoluta y la necesidad en ciertos casos de prescindir de la
persecución penal (amnistías, etc.) o de garantizar
reducciones considerables de pena (derecho penal premial)
han rodeado todas las experiencias de transición
latinoamericanas y en los últimos tiempos han adquirido un
particular fervor. Dos acontecimientos importantes han
llevado a primer plano este tipo de discusiones. El primero es
la aparición el 14.3.2001 de la sentencia de la CorteIDH en el
caso Barrios Altos contra Perú que declaró sin efectos
jurídicos a dos leyes de amnistía peruanas, sentando la
doctrina de los límites absolutos a la facultad de amnistiar en
virtud de la gravedad del crimen.13 Aunque algunos
tribunales nacionales latinoamericanos ya se habían ocupado
de la cuestión de la validez de las leyes de amnistía referidas
a crímenes internacionales o a crímenes graves,14 fue a partir
de la decisión del tribunal interamericano que la tesis de la
prohibición absoluta de amnistiar ciertos crímenes graves se
abrió paso en la jurisprudencia de algunos países.15 El
segundo acontecimiento importante que revitalizó la
discusión sobre la tensión entre justicia y paz en los procesos
de transición fue la entrada en vigor de la Ley 975 de 2005 en
Colombia. Esta ley introdujo una solución de derecho penal
atenuado, que premia con una reducción considerable de pena
a los implicados en violaciones de derechos humanos a
cambio de colaboración en la reconstrucción de los hechos,
reparación a las víctimas, desarme y desmovilización. La
“doctrina Barrios Altos” y la “Ley 975” han respondido de
manera diversa la cuestión de cómo solucionar la tensión
entre justicia y paz. La primera prioriza el derecho a la
justicia y con ello sitúa al derecho penal como herramienta
insustituible de la transición; la segunda, acepta renunciar
parcialmente al derecho penal. Especialmente sobre estas
cuestiones, centrales en todo proceso de transición, quiero
efectuar algunas consideraciones un poco más detalladas. A
ello dedicaré las páginas siguientes.
IV. La fuerte dependencia de la transición de la realidad
política, de la que hablamos al comienzo de este trabajo,
13
Cfr. Barrios Altos contra Perú, sentencia del 14.3.2001,
serie C No. 75 parágrafos 41 ss. Esta jurisprudencia ha sido
reiterada por la CorteIDH en numerosas ocasiones, cfr. tan
sólo Almonacid-Arellano et al. contra Chile, sentencia de
26.9.2006, serie C No. 154, parágrafos 119 s.
14
Cfr. el auto de apertura de instrucción de 18.4.1995 emitido
por la jueza Antonia Saquicuray a cargo del 16 Juzgado Penal
de Lima; la decisión del 6.3.2001 del juez Gabriel Cavallo a
cargo del Juzgado en lo Criminal y Correccional Federal n°4,
secretaria 7 de Buenos Aires en el caso Simón y la decisión
de la Corte de Apelaciones de Santiago de 30.9.1994 en el
caso Uribe Tambley y van Jurick Altamirano (imputado
Romo Mena).
15
Cfr. entre muchas otras la sentencia de la Corte Suprema
argentina del 14.6.2005 en el caso Simón y la decisión del
Tribunal Constitucional peruano del 29.11.2005 en el caso
Barrios Altos.
permite una observación que es la causa de la afirmación
inicial de que cada experiencia de transición es diferente de
las demás: una transición se hace más como se puede que
como se quiere. En otras palabras, un proceso de transición
trata de atender a las necesidades en el marco de las
posibilidades. Y esto es así, porque un proceso de transición,
si quiere lograr su objetivo y tener éxito, no debe arriesgar lo
que ha ganado (transición post-conflicto) o ganaría
(transición durante el conflicto) con la salida del régimen
autoritario (transición a la democracia) o la finalización de la
guerra (transición a la paz). En efecto, si el fin primario de la
transición es superar la situación de conflicto, esto es, pasar
del autoritarismo a la democracia o bien de la guerra a la paz,
entonces las posibilidades de acción de la política de
transición deberán estar siempre limitadas a las medidas que
no pongan en riesgo ese objetivo. De ahí que toda medida
que ponga en peligro ese objetivo – básicamente, que ponga
en riesgo la paz nuevamente conquistada o que busca
conquistarse – deba considerarse fuera del marco de una
verdadera política de transición.16 Ésta debe ser una regla de
oro de todo proceso de transición.
Con esto ya se dice mucho acerca de cómo deberían
decidirse los conflictos entre “justicia y paz” en el marco de
una transición que realmente quiera ser tal. Puedo resumir la
idea con la siguiente fórmula: tanta justicia como paz lo
permita, o bien, sólo puede haber persecución penal si ello no
pone en juego la paz, finalidad básica de la transición y, aún
más, condición indispensable para el desarrollo de cualquier
forma elemental de convivencia social y por ello también
para la misma existencia de un Estado de derecho. De ahí que
en la clásica disputa existente en el ámbito de la justicia de
transición entre “retribucionistas” (que miran hacia atrás) y
“pragmatistas” (que miran hacia delante), o bien entre un
modo “idealista” (todo quien cometió un delito debe ser
castigado) y otro “político” (habrá castigo sólo si con ello no
se compromete la transición) de encarar el problema,17 me
ubique del lado de los últimos. Prefiero la paz a la pena y al
derecho penal. Seguramente el calificativo de “político” –
utilizado, a veces, desde el lado de sus contrincantes de
manera peyorativa – no suene al oído del jurista tan bien
como el de “idealista”, pues, una vez que un delito se ha
cometido, los juristas queremos ver a la política lejos del
derecho penal. Sin embargo, esta pretensión, compartible en
las situaciones de normalidad, deja de ser convincente en
16
Ya lingüísticamente transición significa “acción y efecto de
pasar de un modo de ser o estar a otro distinto” (Diccionario
de la Real Academia Española, 22ª edición, voz: “transición”,
primera acepción). La política que obstaculiza este “pasar” no
busca primariamente, entonces, la transición a la paz o a la
democracia, sino, más bien, otros objetivos.
17
Esta misma contraposición a veces es presentada como
“pragmatismo” versus “fundamentalismo” (cfr. Iván Orozco
Abad, “Sobre el castigo y el perdón”, en Jon Elster et al,
Seminario Internacional Justicia transicional en la resolución
de conflictos y secuestro. Memorias, Vicepresidencia de la
República; Universidad Nacional de Colombia, Bogotá,
2007, p. 97.
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Ezequiel Malarino
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situaciones límite en las cuales la punición – o su intentopondría en riesgo la paz – y con ello la vida de los
ciudadanos- y es por ello que el derecho ha ideado ciertos
institutos, como las amnistías, para estas situaciones
excepcionales. Para evitar cualquier tipo de confusión, en
esto debemos ser bien claros: de lo que se trata es de la
alternativa entre el bien paz y el bien punición, cuando no se
pueden conseguir ambos a la vez. Cuando, en cambio, es
posible el castigo del culpable sin comprometer la paz,
entonces no hay conflicto entre “justicia y paz” y quien
cometió un hecho punible debe ser castigado. Con riesgo para
la paz, por otra parte, no me refiero a un individuo rebelde o
grupo de individuos que amenazan con producir lesiones a
bienes jurídicos si se quiere iniciar contra ellos una acción
penal, sino a situaciones en las que está en juego la
convivencia pacífica de la sociedad en un sentido amplio,
situaciones que importan el riesgo a una guerra abierta o el
retorno de un Estado criminal. Por eso, en este contexto lo
que se menciona como idealismo no es otra cosa que un
idealismo por la pena al costo de la paz. Un idealismo así ya
no suena tan convincente y a él puede oponerse otro mucho
más defendible: un idealismo por la paz al costo de la
punición.18
Vistas las cosas de este modo, sólo un pan-penalismo
desenfrenado e hipócrita puede crear y creer en un eslogan,
refutado por la experiencia, que dice no peace without justice.
¿O es que en España, Italia y muchos otros países que
cerraron las puertas a la justicia penal luego de crímenes
estatales gravísimos no reina la paz y no se respira
democracia? O bien ¿es que el déficit de democraticidad que
en ellos pudiera haber, si es que lo hay, se debe a esta
ausencia de punición? ¿Es que la ejecución por ahorcamiento
de Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, von Ribbentrop, Streicher y
otros tantos más contribuyó a la democracia alemana de
modo que habría que esperar que el ahorcamiento de Hussein
contribuya a la paz y a la democracia en Irak? ¿Fue
efectivamente el castigo de los jerarcas nazis y nipones lo que
llevó la democracia a esos países? ¿o lo fue más bien el
colapso de esos estados criminales, la vergüenza colectiva
por lo sucedido y el enorme bienestar económico que esos
países, no sin notable ayuda externa, lograron a partir de esa
época?
La consolidación de la paz y de la democracia tiene
mucho menos que ver con el derecho penal de lo que
18
Por ello, no debemos dejarnos confundir por las etiquetas.
Los calificativos con los que se mencionan las posiciones
contrapuestas analizadas, por sí solos, no dicen mucho.
Podrán sonar mal o bien, peor o mejor, ser más o menos
persuasivos, pero en definitiva son conceptos vacíos. Esto lo
demuestra el hecho de que la misma posición es señalada a
veces como “idealista” – con una clara connotación positive –
y otras como “fundamentalista” – con connotación negative –
(ver la distinción de Orozco Abad en la nota anterior). Lo que
hay que tener siempre en claro para no caer en un engaño de
etiquetas es a qué se refiere el idealismo o el fundamentalismo o que valor está detrás de la visión pragmatista o política.
El resto es pura retórica.
habitualmente se cree. Es ingenuo ver en el derecho penal un
“sanalotodo”19 de los problemas sociales. La consecución de
la paz, la reconciliación social y la democracia deben
buscarse principalmente con otros medios. Son, más bien,
ciertas condiciones económicas, sociales y culturales lo que
hace que estos valores sean deseados, aceptados y respetados.
El derecho penal sólo contribuye en una medida mínima – y
sólo ante el fracaso de otras medidas prioritarias – a
garantizar la paz social a través de predisponer una reacción
ante la lesión de valores elementales de convivencia; y, en
este sentido, sólo de manera secundaria contribuye a la
obtención de esos fines. En otras palabras, el derecho penal
coadyuva a la conservación de la paz, de la convivencia
social pacífica, pero él es tan sólo un instrumento subsidiario
y de segundo orden para el logro de este objetivo. Pero aun
quien le asigne a la pena una función principalísima en la
obtención de este objetivo, no debería confiar más en sus
bondades cuando su aplicación, en lugar de asegurar la vida
social pacífica, la pone en juego y con ello pone en juego la
razón primaria del derecho penal. Por ello, es posible sostener
que siempre que la utilización del derecho penal frustre la
finalidad básica que él está llamado a cumplir, entonces ya no
está justificado.20 ¿Sigue teniendo sentido el recurso al
derecho penal cuando contribuye a una quiebra de la paz en
lugar de a su conservación o consolidación? Muchas veces,
mal que nos pese, valdrá el eslogan opuesto al antes
mencionado: no peace with justice.
Sin embargo, existe un argumento bastante usual a favor
de no ceder tan sólo un ápice en exigencias de justicia. Se
dice que el castigo ineludible de los responsables de los
crímenes actuales tendría un efecto disuasivo sobre futuros
dictadores: al saber éstos lo que les espera, se abstendrían de
comportamientos criminales.21 Pero este argumento presenta
serios problemas. En un plano estrictamente moral no parece
convincente arriesgar la vida e incolumidad física de los
habitantes de una región para advertir a futuros y eventuales
dictadores lo que les sucederá si emprenden el camino del
delito. Esto equivaldría a proteger a personas frente daños
futuros eventuales al costo de exponer a otras a daños
actuales ciertos. Pero además, como todo argumento basado
en la disuasión, tiene el problema de que es difícil conocer
con certeza en qué medida la condena de delincuentes
19
La frase es de Daniel R. Pastor, El poder penal internacional. Una aproximación jurídica crítica a los fundamentos del
Estatuto de Roma, Atelier, Barcelona, 2006, p. 75.
20
Ezequiel Malarino, “Il volto repressivo della recente giurisprudenza argentina sulle gravi violazioni dei diritti umani.
Un'analisi della sentenza della Corte Suprema della Nazione
del 14 giugno 2005 nel caso Simón”, en Gabriele Fornasari
y Emanuela Fronza (dir.), Il superamento del passato e il
superamento del presente: l'esperienza argentina e colombiana a confronto (en curso de publicación), § 2, punto XV.
21
Cfr. Ambos, marco jurídico, supra notal, p. 36 y la bibliografía allí citada (en nota 80). También, pero desde un punto
de vista crítico, James Fearon, “Comentarios acerca del
problema del antes y el después en la justicia transicional”, en
Jon Elster et al, supra nota 17, p. 136.
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Breves reflexiones sobre la justicia de transición a partir de las experiencias latinoamericanas
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ayudará a frenar a otros del delito. Creer que un dictador no
dará un golpe de Estado o no luchará contra los opositores
políticos a los cuales normalmente considera como los
causantes de los males de la tierra por la existencia de un
deber de perseguir y sancionar absoluto, es confiar demasiado
en los efectos disuasivos de la pena.22 Es una visión muy
optimista – y simplista – creer que quien lleva las riendas de
una dictadura criminal – especialmente en el momento de
apogeo- se dejará amedrentar por una posible pena futura.
Pero si este dictador ya ha cometido los crímenes, la
imposibilidad de pactar una salida del poder sin
consecuencias penales para él y su grupo, lo llevará
normalmente a derramar hasta la última gota de sangre para
no ceder ese poder que le asegura la libertad. Un deber de
punición a ultranza puede provocar en muchas ocasiones,
como correctamente fue advertido, el efecto contrario al
buscado.23
La fórmula antes señalada de tanta justicia como paz lo
permita tiene en cuenta que en determinadas situaciones es
preferible renunciar al derecho penal en pos del interés
superior de la paz. Por ello, la finalidad esencial y primaria
del proceso de transición es la de obtener y conservar la paz
(poner fin a una guerra o a un estado criminal; evitar la
reanudación de la guerra o el retorno del estado criminal).
Esta paz, definida negativamente como situación de “no
guerra” o de “no violaciones sistemáticas a los derechos
humanos”, es el primer pilar que debe construir un proceso de
transición y debe ser un pilar lo más resistente posible –
aunque en un comienzo por lo general será débil y precario-,
pues de él dependerá toda la suerte de la transición. Los
restantes objetivos del proceso de transición son secundarios
respecto de la obtención de la paz, en el sentido de que sólo
pueden lograrse si ésta está garantizada. La reconciliación
social, a través de la reanudación de las relaciones y
consolidación de los vínculos entre los sectores sociales en
conflicto y del cierre de las heridas sociales, es otro objetivo
22
Ver la objeción usual en contra de prevención general
negativa tan sólo en Günter Stratenwerth, Derecho Penal,
parte general I, El hecho punible, 4ta edición, traducción de
Manuel Cancio Melia y Marcelo A. Sancinetti, Hammurabi,
2005, p. 42.
23
Friedrich Dencker, “Crímenes de lesa humanidad y derecho penal internacional. Observaciones críticas”, en Estudios
sobre Justicia Penal, Homenaje al Profesor Julio B. J. Maier,
Editores del Puerto, Buenos Aires, 2005, p. 636 s. Por tal
razón, si la Corte Penal Internacional (CPI) no respetara una
amnistía que ha sido el fruto de las negociaciones de las partes para poner fin a un conflicto sangriento, ello probablemente traería más perjuicios que beneficios para la comunidad internacional, pues los dictadores ya no confiarán más en
que la palabra dada en una mesa de negociaciones será respetada y preferirán luchar hasta el fin que sentarse a negociar.
Indudablemente, una posición de este tipo por parte de la CPI
desconocería que el objetivo básico de la comunidad internacional es la mantención de la paz, tal como lo expresa el
preámbulo y el art. 1 de la Carta de la Organización de Naciones Unidas.
importantísimo de un proceso de transición, pero este
objetivo sólo puede ser logrado en una sociedad que vive en
paz. Lo mismo debe predicarse de la consolidación de las
instituciones democráticas y de la vigencia plena de un
Estado de derecho.
De este modo, en la afirmación bastante recurrente en el
contexto de la justicia de transición de que hay situaciones en
las que “la persecución penal puede prometer más para
facilitar la reconciliación y la construcción nacional y hasta
puede ser un prerequisito para la verdadera reconciliación”24
debería estar presupuesto que esa persecución penal no daña
la paz, pues sin ella no es posible ningún tipo de
reconciliación. Es cierto que una paz sostenible sólo es
posible si hay reconciliación, pero también lo es que sólo
puede haber reconciliación si hay paz, al menos, paz
entendida como ausencia de agresión. Esto pone en claro que
el primer objetivo que debe buscar un proceso de transición,
como ya he señalado, es la consecución de una situación de
paz, para luego, a partir de allí, buscar la reconciliación social
y lograr de ese modo que esa paz en principio precaria se
vuelva duradera. Es precisamente sobre esta situación de paz
que podrán asentarse todas las restantes medidas del proceso
de transición y sólo sobre ella podrá comenzar a construirse,
como ya he anticipado, un Estado de derecho.
Estos son los motivos por los cuales estimo, en contra de
una opinión muy difundida, que no puede haber un equilibrio
o compromiso entre justicia y paz. Sostener que en un
proceso de transición es “crucial encontrar el justo equilibrio
entre los valores contrapuestos de paz y justicia”25 significa,
por un lado, reconocer que las pretensiones de justicia puedan
ceder a las de paz (para obtenerla o conservarla), pero, por el
otro, también que las pretensiones de paz puedan hacerlo en
nombre de la justicia. En la idea del equilibrio, el
compromiso, la transacción o la ponderación entre justicia y
paz está implícito, lógicamente, una posibilidad de renuncia a
la paz. Tal idea acepta entonces que en determinadas
situaciones pueda ser preferible la sanción de los
responsables de delitos a la evitación de una situación de
guerra o del retorno de un estado criminal. Y esto es algo que
ningún estado de derecho debería permitir; aún más: es algo
que ningún estado de derecho podría permitir si no quiere
poner en juego la base sobre la cual asienta su existencia.
Por ello, el fin de un proceso de transición no debe ser la
búsqueda de un equilibrio entre justicia y paz. Entre estos dos
24
Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 16 s. (notas omitidas), con cita de la opinión en el mismo sentido de Darryl
Robinson, Serving the interests of justice: amnesties, truth
commissions and the International Criminal Court, (2003) 14
EJIL 481, p. 489; Héctor Olásolo, The prosecutor of the ICC
before the initiation of investigations: A quasi-judicial or a
political body?, (2003) 3 ICLR 87, p. 139 y Rodrigo Uprimny
y María Paula Saffon, “Justicia transicional y justicia restaurativa: tensiones y complementariedades”, en A. Rettberg
(ed.), Entre el perdón y el paredón. Preguntas y dilemas de la
Justicia Transicional (Ediciones Uniandes, Bogotá 2005), pp.
211, 224, 229.
25
Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 22 s. y pp. 75 ss.
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valores no debería haber una negociación (trade off) en el
sentido de que se debe renunciar parcialmente a cada uno de
ellos para encontrar el justo medio. Esta imagen
mercantilista, usual en las discusiones de justicia de
transición, es extremadamente peligrosa, pues acepta
quiebras de la paz para lograr la punición; para ponerlo de
modo brutal: justifica muertes para obtener castigo. Es
indudable que un proceso de transición presupone una
tensión entre justicia y paz, pero la solución de esta tensión
no puede resolverse por medio de una ponderación. La paz es
siempre un interés prioritario frente a la persecución y
punición de hechos ilícitos, pues la conservación de una
situación de paz es la finalidad básica de cualquier forma de
asociación política entre ciudadanos y el presupuesto de la
convivencia entre seres humanos. Lo que sí, en cambio,
deben evaluar las autoridades estatales con la mayor
prudencia es si efectivamente la realización de juicios penales
contra los responsables de hechos ilícitos pondría en riesgo la
paz o si, dado el caso, la paz podría garantizarse sin una
renuncia total a la persecución penal. Brevemente: lo único
que se puede transar y negociar es la justicia. La situación
ideal será entonces “paz y justicia”; la situación menos
conveniente, en cambio, “paz sin justicia”; entre estos polos
podrán darse diversas combinaciones de “paz y algo de
justicia” (derecho penal de premios, derecho penal selectivo,
exenciones de responsabilidad parciales, etc.).
Para la protección del bien supremo de la paz, los
ordenamientos jurídicos disponen de instrumentos que
permiten, en situaciones especiales y extremas, renunciar a la
pena o al proceso penal. La amnistía es el caso paradigmático
de este tipo de instrumentos. Ella opera, básicamente, en
situaciones límite de anormalidad en donde la propia
supervivencia del Estado de derecho está comprometida y por
ello, bien puede ser concebida como una cláusula de
supervivencia del Estado.26 Aunque es un instrumento que
26
En situaciones normales el Estado debe perseguir los delitos y por ello sí podrían existir reglas que excluyan de la
amnistía a delitos comunes tales como el homicidio, el robo,
etc., porque ellos no representan riesgo alguno para la paz
social en el sentido amplio al que se ha hecho referencia
arriba en el texto. Un Estado no perece porque existan ladrones o asesinos. Si no están dadas las condiciones excepcionales para el dictado de una amnistía, entonces el Estado no
tiene ninguna necesidad de ceder en la persecución de los
delitos. Es claro que me estoy refiriendo únicamente a una
amnistía finalizada a la obtención o conservación de la paz.
No me ocuparé aquí de amnistías concedidas para el logro de
otros fines, como, por ejemplo, las amnistías previstas para
descargar la administración de justicia o bien aquellas concedidas por razones económicas, como fue la llamada “amnistía impositiva” alemana del 1.6.1933 a favor del evasor
que contribuía económicamente – con un monto al menos
igual a la mitad del importe evadido – a un fondo destinado a
luchar contra la desocupación o bien la “amnistía por delitos
monetarios o de divisas” del 15.12.1936 concedida al infractor de normas penales sobre divisas bajo la condición de que
repatriara valores conservados en el exterior o depositara en
pone en evidencia que el Estado no puede hacer lo que debe
hacer o puede hacerlo sólo con costos altísimos, la amnistía
es una herramienta valiosísima para un Estado de derecho,
pues protege la condición sin la cual éste no sería posible.
En los últimos tiempos, sin embargo, son cada vez más
las voces a favor de establecer límites a la posibilidad de
amnistiar crímenes graves y en general a favor de establecer
reglas jurídicas estrictas para la transición que limiten la
discreción de los negociadores.27 En mi opinión, este objetivo
no tiene grandes posibilidades de éxito y, en ciertos casos,
puede ser incluso contraproducente. Por más bien
intencionado que sea el tratar de establecer reglas jurídicas
preestablecidas, incluso estándares internacionales, acerca de
cómo debe ser una transición o bien qué medidas puedan
emplearse y con qué presupuestos, condiciones o requisitos,
en definitiva tales reglas serán seguidas sólo allí donde la
relación de fuerzas entre el viejo sistema y el nuevo, entre
quienes serán objeto de las medidas la transición y quienes
las diseñan, lo permita. Establecer que una amnistía sólo será
válida si se otorga a la sudafricana en el marco de una
comisión de la verdad que analice caso por caso la petición
de amnistía y evalúe la colaboración de la persona a la
reconstrucción de los hechos, puede ser, a lo más, una
propuesta interesante, pero nada asegura que tenga
posibilidades de éxito en el caso concreto. Menos
posibilidades de ser implementada en una situación de
conflicto tendrá una regla que establezca límites absolutos e
infranqueables a la facultad de amnistiar crímenes graves,
como la afirmada por la CorteIDH en el caso Barrios Altos y
saludada desde varios sectores. La afirmación de un deber de
investigar a ultranza y una prohibición absoluta de amnistías
puede no ocasionar problemas políticos – jurídicos muchas
veces sí, cuando esta afirmación es hecha para justificar la
quiebra de principios constitucionales superiores – en
situaciones donde el conflicto quedó atrás y quienes
cometieron crímenes gravísimos perdieron el poder. Pero,
¿quién estaría dispuesto a afirmar que deba aplicarse a
rajatabla la doctrina Barrios Altos cuando militares golpistas
que poseen el control sobre las fuerzas armadas están
apuntando sus tanques a los centros urbanos y están
dispuestos a avanzar hasta derrocar el gobierno constitucional
e incluso abrir fuego contra la población civil si no consiguen
garantías de impunidad por crímenes pasados? En una
situación así sólo un mártir principista (porque no cede al
principio retribucionista de ‘a cada cual lo que se merece’) e
irresponsable (porque haciendo ello pone en riesgo a la
sociedad) seguirá estos “estándares internacionales”
preestablecidos. En la situación concreta tales estándares no
el Banco del Imperio valores escondidos – en negro – en
territorio alemán. Sobre este tipo de amnistías y otros más,
puede verse un resumen en Klaus Marxen, Rechtliche Grenzen der Amnestie, 1984, pp. 11 ss.
27
Cfr. el Informe del Secretario general de la ONU sobre The
rule of law and transitional justice in conflict and postconflict societies. Report of the Secretary-General,
S/2004/616, 23.8.2004, par. 9 ss. Este objetivo es perseguido
por Ambos, marco jurídico, supra nota 1, pp. 25 s.
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serán cumplidos (porque nadie, por fortuna, querrá asumir el
rol del mártir principista) o serán contraproducentes (porque
el mártir existió y puso en riesgo a la sociedad o porque el
dictador alargó su dictadura por temor a dicho mártir
principista o a la comunidad internacional – por ejemplo, si la
CPI se vuelca hacia el idealismo retribucionista-). Tales
límites absolutos al dictado de amnistías sólo tendrán éxito –
con éxito me refiero sólo a que no comprometen la paz- si
son utilizados de manera atemporal, esto es, si se los aplica,
como en la sentencia de 14 de junio de 2005 en el caso Simón
de la Corte Suprema argentina, para anular una amnistía en
un momento en que la situación crítica de conflicto ya no
existe. Aquí el problema no es político (no hay ya riesgo de
una reanudación de la guerra o de una vuelta del Estado
criminal), sino en muchas ocasiones jurídico, pues el
derribamiento de amnistías puede implicar como costo la
lesión de principios básicos del orden constitucional.28 Pero
durante la situación de conflicto, tales límites o bien serán
inútiles (porque no
serán respetados) o bien
contraproducentes (porque el dictador tratará de hacer todo lo
posible para no dejar el poder o bien para recuperarlo apenas
note que el nuevo gobierno pretende iniciar un procedimiento
penal).
Sólo las circunstancias de cada caso concreto y las
relaciones de poder que existen en una sociedad en un
momento histórico dado podrán determinar si se debe
renunciar a la justicia, a cuánto de justicia y bajo qué
condiciones para conservar la paz. Por ello, en ciertas
ocasiones extremas puede estar justificada una amnistía total
por crímenes graves; en otras, en cambio, el nuevo sistema
será lo suficientemente fuerte como para poder llevar a cabo,
sin poner en riesgo la convivencia pacífica, juicios penales
contra el grupo de los líderes; en este caso, bastará entonces
con una amnistía parcial que abarque sólo a los subordinados.
En ciertas ocasiones, las amnistías podrán estar
condicionadas al cumplimiento de prestaciones por parte de
los autores y en otras no podrán estarlo. En otros casos, una
amnistía puede no ser necesaria para evitar un retorno a -o
salir de- la guerra o un estado criminal y la paz ya puede ser
garantizada con medidas menos drásticas, como, por ejemplo,
un derecho penal atenuado, en donde la contribución al
proceso de paz (en forma de aportes a la reconstrucción de la
verdad, desarme y desmovilización, reparación a la víctima,
etc.) sea premiada con descuentos de pena.29 Finalmente,
también habrá casos en los que la persecución de los
28
Éste es un problema diferente que aquí no será abordado.
Sólo quiero poner en evidencia que esta situación causa un
sinsabor implacable: cuando las condiciones políticas para la
persecución y sanción de los responsables de crímenes gravísimos no están dadas, las jurídicas normalmente sí lo están.
Cuando, en cambio, están dadas las condiciones políticas, las
jurídicas ya no lo están. El caso argentino proporciona un
ejemplo clarísimo; al respecto cfr. Malarino, supra nota 20,
passim.
29
No voy a referirme aquí a los problemas jurídicos que
puede conllevar un derecho penal de premios, pues esto excedería en mucho el marco de este trabajo.
responsables puede ser llevada a cabo sin comprometer la paz
y en este supuesto ninguna merma en persecución penal
debería estar autorizada.
La elección entre una u otra solución dependerá de las
circunstancias del caso concreto. Aquí, el nuevo estado o
quienes diseñen la política de la transición deberían guiarse y
tratar de cumplir de la mejor manera posible la fórmula antes
expresada: tanta justicia como paz lo permita. Muchas veces
será muy difícil determinar si pueden llevarse a cabo medidas
menos drásticas sin arriesgar el proceso de transición. Ésta es
una dificultad propia del proceso de transición; es un riesgo
que sólo puede minimizarse con un adecuado análisis de la
situación política, pero no excluirse. En todo caso, una
renuncia a la punición, por grande que sea, es un costo que
una sociedad puede afrontar. Lo que un Estado no puede
arriesgar es la pérdida de la paz, pues ésta es una condición
indispensable para el desarrollo de cualquier forma elemental
de convivencia social y por ello también para la existencia de
un Estado de derecho. Pérdida de la paz significa guerra, sea
abierta o encubierta, y guerra significa muerte. La obtención,
conservación y protección de la paz es una función
primordial de un estado moderno, pues el deber primario de
una sociedad es defender la vida e incolumidad de la
población. Sin ella, además, las demás funciones estatales
perderían mucho de su sentido o serían de imposible
realización. Es por ello que no puede existir una ponderación
entre justicia y paz, de modo que según el caso concreto se
pudiera priorizar uno u otro bien. La paz es siempre un
interés prioritario frente a la persecución y punición de
hechos ilícitos, de modo que una ponderación entre estos
bienes está excluida. La única evaluación permitida es si es
necesario renunciar al castigo para conservar la paz y, en su
caso, en qué medida lo es. La decisión final sobre una
renuncia al castigo, total o parcial, si es que ella es necesaria,
debería estar confiada, como normalmente lo está, al órgano
estatal que más directamente representa la soberanía popular:
el parlamento.
Soy conciente de que en este trabajo he defendido una
tesis muy impopular para los tiempos que corren en los que la
idea de retribuir cueste lo que cueste ha ganado terreno y
enceguecido a muchos defensores de los derechos humanos.
Las corrientes modernas que anatematizan la amnistía,
imponiéndole límites absolutos precisamente en el ámbito
central de aplicación30, desconocen los beneficios que este
instrumento aporta.31 Estas modernas corrientes que
enarbolan la bandara de los derechos humanos olvidan que
sancionar sin excepciones podría implicar en ciertos casos “el
sufrimiento, la miseria y la muerte de muchos seres
humanos”.32
30
Ver este argumento en relación con la declaración de invalidez de las leyes argentinas en Malarino, supra nota 20,
§ 15.
31
Me refiero, obviamente y como ya quedó claro de la exposición, únicamente a la amnistías conciliadoras y no a las
auto-amnistías. Véase algunas de las razones de la prohibición de auto-amnistías en Marxen, supra nota 26, pp. 38 ss.
32
Dencker, supra nota 23, p. 637.
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375
Dehne-Niemann
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09
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E nt s ch ei d ung s a n me r ku ng
Zu den Voraussetzungen des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a
StGB nach Vollendung einer Raubtat
Schwere Misshandlungen nach Vollendung einer Raubtat
können den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2
Nr. 3 lit. a StGB nur dann erfüllen, wenn sie weiterhin
von Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht getragen
sind, insbesondere der Beutesicherung oder der Erlangung weiterer Beute dienen (im Anschluss an BGHSt 20,
194; BGH NJW 2008, 3651, zur Veröffentlichung in
BGHSt bestimmt).
(Amtlicher Leitsatz)
StGB § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09 (LG Berlin)
Aus den Gründen:
Rn. 2:
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Rn. 3:
a) Die Angeklagten hatten sich am Abend vor der Tat in
der Wohnung des Angeklagten R. getroffen und dort gemeinsam mit zwei Mädchen alkoholische Getränke konsumiert.
Um Nachschub zu besorgen, begaben sie sich zu einem
„Spätkauf“. Da ihr Geld nicht ausreichte, machte letztlich der
Angeklagte Z. den Vorschlag, jemanden „abzuziehen“. Diesem Vorhaben schloss sich der Angeklagte Se. ohne Zögern
an, während sich der Angeklagte R. zunächst nicht beteiligen
wollte und mit den Mädchen in einigem Abstand hinter den
beiden herlief. Auf der Straße begegneten die Angeklagten
den Geschädigten Si. und Kö. In Ausführung ihres Planes
beraubten Z. und Se. zunächst den Zeugen Si. Unter Einsatz
von Faustschlägen und Tritten nahmen sie ihm eine Schachtel
Zigaretten weg.
Rn. 4:
Während dieser Tat hatte sich der Zeuge Kö. ängstlich
entfernt. Der Angeklagte verfolgte ihn und versperrte ihm mit
ausgestreckten Armen den Weg. Die beiden anderen Angeklagten kamen hinzu und bauten sich, ihren Tatplan wieder
aufgreifend, vor dem Zeugen auf. Sie schubsten ihn und
verlangten Geld von ihm, verbunden mit der Drohung, ihn im
Falle der Weigerung „abzustechen“. Nachdem der inzwischen „panische“ Zeuge sich auf ihr Geheiß auf die Eingangsstufen eines Hauses gesetzt und dem Angeklagten Se.
seine Geldbörse ausgehändigt hatte, trat dieser zur Seite, um
sie zu durchsuchen. Als der Geschädigte nun aufstehen und
sich entfernen wollte, hinderten R. und Z. ihn daran. Sie
versetzten ihm so heftige Tritte, dass er zu Boden ging. Beide
Angeklagte traten mehrfach gegen den Kopf des Zeugen.
Nachdem der Angeklagte Se. der Geldbörse des Kö. einen
Fünf-Euro-Schein entnommen hatte, beteiligte er sich ebenfalls an den Misshandlungen und trat wiederholt ins Gesicht
des am Boden Liegenden. Die Angeklagten ließen den Geschädigten schließlich bewusstlos zurück.
Rn. 5:
b) Das Landgericht hat die Tat gegen den Zeugen Kö. als
(besonders) schwere räuberische Erpressung in Tateinheit mit
gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1
Nr. 4, §§ 253, 255, 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a, § 25 Abs. 2, § 52
StGB) gewertet. Der Umstand, dass die körperlichen Misshandlungen erst nach Herausgabe der Geldbörse erfolgten,
stehe der Annahme des Qualifikationsmerkmals des § 250
Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB nicht entgegen. Denn anders als bei
den Zwangsmitteln des Grundtatbestandes bedürfe es insoweit keiner finalkausalen Verknüpfung. Vielmehr reiche nach
dem Gesetzeswortlaut eine Misshandlung „bei der Tat“, d.h.
zu irgendeinem Zeitpunkt während des Tathergangs aus.
Rn. 6:
2. Diese Begründung ist unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten zu beanstanden.
Rn. 7:
a) Zwar trifft es im Ansatz zu, dass eine Verwirklichung
des Qualifikationstatbestandes des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a
StGB auch noch in der Phase zwischen Vollendung und Beendigung der Raubtat möglich ist (Fischer, StGB 56. Aufl.
§ 250 Rdn. 26). Dies hat der Bundesgerichtshof für den ähnlichen Fall des Verwendens einer Waffe „bei der Tat“ im
Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (vgl. BGH NStZ-RR
2008, 342; BGH NJW 2008, 3651, zur Veröffentlichung in
BGHSt bestimmt) im Einklang mit seiner Rechtsprechung zu
§ 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. (vgl. BGHSt 20, 194, 197)
mehrfach bejaht. Danach genügt es zur Anwendung des
§ 250 StGB, dass die Waffe dem Täter zu irgendeinem Zeitpunkt des Tathergangs zur Verfügung steht. Unter Tathergang ist dabei nicht nur die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale bis zur Vollendung des Raubes zu verstehen, sondern das gesamte Geschehen bis zu dessen tatsächlicher Beendigung. Allerdings hat der Bundesgerichtshof stets darauf
abgestellt, dass der Täter die Waffe zwischen Vollendung
und Beendigung des Raubes zur weiteren Verwirklichung
seiner Zueignungsabsicht und in diesem Abschnitt der Tat
insbesondere zur Beutesicherung eingesetzt hat. Nichts anderes hat zu gelten, wenn nach Vollendung einer räuberischen
Erpressung der Waffeneinsatz in Frage steht. Er muss entsprechend zur weiteren Verwirklichung der Bereicherungsabsicht erfolgt sein.
Rn. 8:
b) Der schlichte räumlich-zeitliche Zusammenhang zwischen einem – vollendeten – Raub oder einer räuberischen
Erpressung und einer unmittelbar nachfolgenden schweren
Misshandlung genügt für die Annahme des Tatbestandsmerkmals „bei der Tat“ im Sinne des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a
StGB nicht. Dem steht schon der systematische Zusammenhang entgegen, in dem der Tatbestand steht. Da die Raubdelikte durch die finale Verknüpfung von Gewalt und rechtswidriger Vermögensverfügung geprägt sind, bezieht sich das
Merkmal „bei der Tat“ auf eben diese Verknüpfung. Hierfür
spricht auch die Regelung des räuberischen Diebstahls gemäß
§ 252 StGB, wonach der auf frischer Tat betroffene Dieb nur
dann gleich einem Räuber – mit den entsprechenden Qualifikationen – bestraft werden kann, wenn er die Gewalt einsetzt,
um sich im Besitz der Beute zu erhalten. Die Qualifikation
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BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09
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betrifft deshalb bei den übrigen Raubtatbeständen auch nur
die besondere Form oder Intensität des Gewalteinsatzes, der
für die Herbeiführung der Vermögensverfügung aufgewendet
wird. Dabei ist – wie der Generalbundesanwalt in seinem
Terminsantrag zutreffend ausgeführt hat – bei der Auslegung
des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB maßgeblich zu berücksichtigen, dass die Vorschrift gegenüber den als Vergleichsmaßstab heranzuziehenden Strafbestimmungen der §§ 224 und
226 StGB eine deutlich angehobene Strafrahmenuntergrenze
aufweist. Das bloße Übergehen zur schweren körperlichen
Misshandlung nur bei Gelegenheit eines bereits vollendeten
Raubes vermag diese signifikante Anhebung der Mindeststrafe nicht zu rechtfertigen.
Rn. 9:
Zwar erscheint es vom Wortlaut her möglich, im weiteren
Zusammenhang mit einem vollendeten Raub oder einer räuberischen Erpressung stehende Körperverletzungen – etwa
aus Wut über eine zu geringe Beute ausgeführte schwere
Misshandlung – der Qualifikation des § 250 Abs. 2 Nr. 3
lit. a StGB zu unterstellen. Der besondere Schutzzweck des
Raub- und Erpressungstatbestandes erfordert indes, dass die
als schwere Misshandlung zu qualifizierende Körperverletzung von einer weiteren Verwirklichung der Zueignungsoder Bereicherungsabsicht getragen ist (vgl. BGHSt 20, 194,
197; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. § 250 Rdn.
12; a.A. Fischer aaO).
Rn. 10:
c) So liegt es hier aber nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nicht. Die massiven, zur Ohnmacht des
Opfers führenden Verletzungshandlungen der Angeklagten
standen in keinem Zusammenhang mit der Erpressungstat.
Der Angeklagte Se. hatte die aus fünf Euro bestehende Tatbeute bereits an sich genommen und die offensichtlich für
wertlos gehaltene Geldbörse des Opfers weggeworfen. Die
Angeklagten hatten keinen Anlass für die Annahme, der
Geschädigte werde versuchen, seine Geldbörse wieder zu
erlangen. Des Weiteren ist nicht festgestellt, dass die Angeklagten den Geschädigten durch die Misshandlungen etwa
noch zur Herausgabe weiterer Wertgegenstände veranlassen
wollten.
3. […]
Anmerkung:
Der Entscheidung des 5. Strafsenats ist im Ergebnis zuzustimmen; das Urteil ist aber in der Begründung ergänzungsbedürftig. Der Senat hat die Schuldsprüche der Angeklagten
wegen der Tat gegen den Zeugen Kö. zu Recht dahin abgeändert, dass in den Tritten gegen den Kopf des Kö. keine
schwere körperliche Misshandlung i.S.d. §§ 255, 250 Abs. 2
Nr. 3 lit. a StGB liegt und die Angeklagten insofern also
„nur“ wegen (einfacher) räuberischer Erpressung zu verurteilen sind. So zutreffend es ist, dass bloß bei Gelegenheit eines
Raubes bzw. – im vorliegenden Fall – einer räuberischen
Erpressung vorgenommene körperliche Misshandlungen
nicht unter § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB fallen, so sehr verwundert es, dass der Senat, offensichtlich „im Prinzip“ an der
gefestigten Rechtsprechung festhaltend, wonach die Verwirklichung von Raubqualifikationen auch in der Phase zwischen
formeller Vollendung und materieller Beendigung (sog. Beendigungsphase) der §§ 249, 255 StGB möglich sein soll, für
die Verneinung des § 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB im vorliegend entschiedenen Sachverhalt jedoch ausgerechnet auf
§ 252 StGB rekurriert hat.1
1. Beizupflichten ist dem Senat zunächst in seiner Rechtsauffassung, dass für die Verwirklichung des § 250 Abs. 2
Nr. 3 lit. a StGB der bloße Übergang zu einer schweren körperlichen Misshandlung nicht ausreicht, die nach Begehung
eines Raubes bzw. (vorliegend) einer räuberischen Erpressung „nur bei Gelegenheit“ der bereits vollendeten Tat vorgenommen wird. Zwar hat die Rechtsprechung bislang kein
Problem darin gesehen, die Qualifikationsverwirklichung erst
in der Beendigungsphase zuzulassen, jedoch reichte dafür –
zumeist – nicht aus, dass der Täter bei der Gewaltanwendung
nicht mehr, wie von §§ 249, 255 StGB vorausgesetzt, in der
Absicht rechtswidriger Zueignung oder Bereicherung handelte. So hat in der vom Senat in Bezug genommenen2 Entscheidung des 1. Strafsenats, BGHSt 20, 1943, dieser den Angeklagten deshalb für aus der Qualifikation des § 250 Abs. 1
Nr. 1 StGB a.F. strafbar gehalten, weil er nach Raubvollendung „durch die Schläge erreichen (wollte), dass er mit dem
soeben weggenommen Geld entweichen konnte“4, also maßgeblich darauf abgestellt, dass der Angeklagte „in der weiteren Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht“ bewaffnete
Gewalt zum Zwecke der Beutesicherung verübt hat. Dass der
1. Senat das von ihm gewünschte Ergebnis – Strafbarkeit aus
§ 250 Abs. 1 Nr. 1 StGB a.F. –, worauf Weber5 hingewiesen
hat, in gleicher Weise und systematisch besser auch über
§ 252 StGB hätte erreichen können, sei nur am Rande erwähnt.
Auch in der Entscheidung des 4. Strafsenats, BGHSt 22,
2276, stellte der BGH für das Vorliegen des Qualifikationsmerkmals der Begehung auf öffentlicher Straße i.S.d. § 250
Abs. 1 Nr. 3 StGB a.F. erst in der Beendigungsphase darauf
ab, dass es „keinen Unterschied [macht], ob der Täter die
erpresserische Nötigung selbst oder erst die mit ihr in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehende,
der Sicherung des durch die Nötigung Erlangten dienenden
Handlung auf einem öffentlichen Weg […] begeht.7 Im Gegenteil sei der Existenz des § 252 StGB zu entnehmen, „dass
es der Wille des Gesetzgebers ist, die Bestrafung des Erpressers „gleich einem Räuber“ auch dann zu ermöglichen, wenn
erst nach Vollendung, aber vor Beendigung der Tat die Voraussetzungen der §§ 255, 249 ff. StGB gegeben sind“8. Obgleich also hier die Voraussetzungen des § 252 StGB gerade
nicht vorlagen – es fehlt an einem Diebstahl als tauglicher
1
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7 f.
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7.
3
BGHSt 20, 194 (= NJW 1965, 1235 = JZ 1965, 417 m. krit.
Anm. Weber).
4
BGHSt 20, 194 (197) – Rechtschreibung angepasst.
5
Weber, JZ 1965, 418 f.
6
BGHSt 22, 227 (= NJW 1968, 2252 = JZ 1968, 606 m. krit.
Anm. Hruschka).
7
BGHSt 22, 227 (229).
8
BGHSt 22, 227 (229 f.) – Rechtschreibung angepasst.
2
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BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09
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Vortat – betonte der BGH die in Form der Beutesicherungsabsicht fortbestehende Bereicherungsabsicht und hielt daher
den Weg in den Strafrahmen der §§ 249, 250 Abs. 1 Nr. 3
StGB a.F. für eröffnet.
Die damit etablierte „verschämte“ Prüfung des dem systematisch die Beendigungsphase regelnden Tatbestand des
§ 252 StGB entstammenden Merkmals der Besitzerhaltungsabsicht hat der BGH allerdings nicht konsequent durchgehalten: In einer späteren Entscheidung, die sich mit einer erst in
der Beendigungsphase angewandten, zur Todesfolge i.S.d.
§ 251 StGB führenden Gewalthandlung befasste, hat der
BGH nämlich auf das Kriterium der Beutesicherungs- bzw.
Besitzerhaltungsabsicht verzichtet und es ausreichen lassen,
dass der Täter in der Raubbeendigungsphase Gewalt (allein)
angewandt hat, „um sich zu befreien“ bzw. „um loszukommen“9.
Ähnlich wie in der Entscheidung BGHSt 22, 227 hat der
BGH nun abermals mit einer räuberischen Erpressung als
„Vortat“ zu tun gehabt. Wenn der 5. Senat nun darauf abhebt,
dass bei einem Raub (§ 249 StGB) die vom Täter in der Beendigungsphase verwirklichte Qualifikation „zur weiteren
Verwirklichung seiner Zueignungsabsicht und in diesem
Abschnitt der Tat insbesondere zur Beutesicherung eingesetzt“ werden müsse10 – womit der Senat die Besitzerhaltungsabsicht in § 249 StGB hineinliest –, so ist die Nennung
der Zueignungsabsicht redundant, denn bei § 252 StGB muss
zum Zeitpunkt des Täterhandelns in der Nachtatphase die
Zueignungsabsicht als in die Besitzerhaltungsabsicht hinein
verlängerte überschießende Innentendenz ohnehin stets vorliegen, ist doch heutzutage weitestgehend anerkannt, dass der
räuberische Diebstahl von demjenigen Zueignungsstreben
geleitet sein muss, welches auch schon die Vortat leitet.11 Die
sich damit zugleich erhebende Frage, warum dieses Postulat
des Vorliegens von Beutesicherungsabsicht nach Deliktsvollendung auch dann Gültigkeit beansprucht, wenn es sich bei
der „Vortat“ um ein i.S.d. § 252 StGB nicht vortatfähiges
Delikt (wie vorliegend die räuberische Erpressung) handelt,
also Erwägungen zu § 252 StGB in der Beendigungsphase
des § 255 StGB eigentlich ohnehin nicht von Relevanz sein
dürften, hat der Senat bedauerlicherweise nicht beantwortet,
vielmehr dieses Postulat vorausgesetzt, indem er lapidar
darauf abgestellt hat, dass die „massiven […] Verletzungshandlungen der Angeklagten […] in keinem inneren Zusammenhang mit der Erpressungstat“ standen und dass kein „Anlass für die Annahme (bestand), der Geschädigte werde versuchen, seine Geldbörse wieder zu erlangen“.12 Schon aus
Gründen des Koinzidenzerfordernisses (schwere körperliche
Misshandlung „bei der Tat“) wird man aber auch bei § 255
9
BGH StV 2000, 74 m. Anm. Schroth, NStZ 1999, 554;
Momsen, JR 2000, 29 u. abl. Bespr. Hefendehl, StV 2000,
107; vgl. auch BGH NJW 1998, 3361.
10
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7.
11
Vgl. zuletzt etwa BGH NJW 2008, 3651 (3652); Deiters,
ZJS 2008, 672 (674); Dehne-Niemann, Jura 2008, 745 f. m.
Fn. 51.
12
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 10.
StGB – insofern hat der 5. Senat, immer auf der Grundlage
seiner Prämisse, dass Qualifikationen in der Beendigungsphase verwirklicht werden können, also Recht13 – das Vorliegen von Bereicherungsabsicht verlangen müssen. Mit dem
Fehlen der Beutesicherungsabsicht in der Beendigungsphase
des § 255 StGB lässt sich dieses Ergebnis logisch jedoch
nicht begründen: Da für die Tatbestandsmäßigkeit des § 255
StGB das Vorliegen von Beutesicherungs-/Besitzerhaltungsabsicht nicht notwendige Bedingung ist, kann nicht das Fehlen von Beutesicherungs-/Besitzerhaltungsabsicht hinreichende Bedingung für mangelnde Tatbestandsmäßigkeit des § 255
StGB sein. Insofern zeigt die Argumentation des Senats mit
§ 252 im Bereich des § 255 StGB, wie brüchig die Prämisse
des BGH ist, unter Berufung auf § 252 StGB – trotz Fehlens
einer tauglichen Vortat – das Fortbestehen der Vortatinnentendenz in der Beendigungsphase zu verlangen, anstatt § 252
StGB ausschließlich als Nachtat des Diebstahls bzw. des
Raubes zu behandeln und die Problematik der Qualifikationsverwirklichung bei § 255 StGB unabhängig von § 252
StGB zu erörtern.
2. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Aussage des Senats, die Raubdelikte seien „geprägt durch die finale Verknüpfung von Gewalt und rechtswidriger Vermögensverfügung“14; hierbei dürfte es sich in doppelter Hinsicht um einen
lapsus linguae handeln. Nicht zu erwarten steht trotz der
Verwendung des Begriffs „Vermögensverfügung“, dass der
BGH zu § 255 StGB künftig das von Teilen der Literatur15
aufgestellte Erfordernis der Vermögensverfügung als Abgrenzungskriterium zu § 249 StGB adaptieren wird; also geht
es bei der „Vermögensverfügung“, von welcher der Senat
spricht, offensichtlich um das vom Gesetz als „Handlung,
Duldung oder Unterlassung“ umschriebene Opferverhalten.
Ungenau formuliert hat der Senat auch insofern, als bei der
vorliegend einschlägigen räuberischen Erpressung – anders
als beim Raub – die Raubhandlung des Täters und das Opferverhalten nicht nur durch einen subjektiven Finalzusammenhang, sondern durch einen objektiven Kausalzusammenhang
verknüpft sein müssen.16 Eine bloße subjektiv-finale Verknüpfung, die Bezugspunkt des Merkmals „bei der Tat“ i.S.d.
§ 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB sein muss, reicht also nicht
aus.
Die Bemerkung des Senats ist, entkleidet man sie ihrer
ungenauen Formulierung, jedoch insofern interessant, als sie
– gemessen an der Prämisse des Senats, dass die Qualifikationsverwirklichung in der Beendigungsphase der §§ 249, 255
13
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8.
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8.
15
Vgl. Eser, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 27. Aufl. 2006, § 253 Rn. 8 f.; Sander, in: Joecks/
Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2005, Bd. 3, § 253 Rn. 13 ff., beide m.w.N. auch zur
Gegenansicht der Rechtsprechung.
16
Vgl. die Nachweise bei Eser (Fn. 15), § 253 Rn. 7; Kindhäuser, in: ders./Neumann/Paeffgen (Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch, 2. Aufl. 2005, Bd. 2, § 253 Rn. 31
m. Fn. 41.
14
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ZIS 7/2009
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BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09
Dehne-Niemann
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StGB überhaupt möglich ist17 – gleichsam zu viel beweist:
Bezieht sich das Merkmal „bei der Tat“, wie der Senat strafrahmenorientiert und teleologisch zutreffend schlussfolgert,18
auf „eben diese Verknüpfung“ (scil. die Verknüpfung der
Gewaltanwendung mit der Erzwingung der Wegnahme
[§ 249 StGB] oder mit dem abgenötigten Opferverhalten
[§ 255 StGB], J.D.-N.), so könnte das Qualifikationsmerkmal
der schweren körperlichen Misshandlung i.S.d. § 250 Abs. 2
Nr. 3 lit. a StGB stets nur bei der eigentlichen Tathandlung,
der Gewaltanwendung vorliegen, damit nicht nach Gewahrsamserlangung und somit schon per definitionem nicht im
Zeitpunkt zwischen Vollendung und Beendigung erfüllt werden. Denn einen (objektiven) Kausalzusammenhang zwischen Gewaltanwendung und schädigendem Opferverhalten
kann es nur dort geben, wo das schädigende Opferverhalten
zum Zeitpunkt der Gewaltanwendung noch nicht vorgenommen worden ist – und dass das schädigende Opferverhalten
schon vorgenommen wurde, ist Vollendungsvoraussetzung
des § 255 StGB. Ohne es ausdrücklich zu sagen, hat der
5. Strafsenat des BGH, wie er in einer früheren Entscheidung
zu § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB schon angedeutet hatte,19 jedenfalls für den Bereich der Raubdelikte in der Sache von der
bisherigen Rechtsprechung zur Qualifikationsverwirklichung
in der Beendigungsphase Abschied genommen.
Ass. iur. Jan Dehne-Niemann, Karlsruhe
17
BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 7.
Vgl. BGH, Urt. v. 25.3.2009 – 5 StR 31/09, Rn. 8 f.
19
BGHSt 52, 376 (377 f.) = NJW 2008, 3651 f. = NStZ 2009,
36 = StV 2008, 641 m. Anm. Deiters, ZJS 2008, 672 – zur
Beendigungsphase nach § 252 StGB.
18
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Fahl
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08
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Zur Verjährungsfalle im Bußgeldverfahren
Hat ein Rechtsanwalt gegenüber der Verwaltungsbehörde
im Bußgeldverfahren eine als „außergerichtlich“ bezeichnete Vollmacht vorgelegt (sog. „Verjährungsfalle“),
so ist die Zustellung des Bußgeldbescheids an ihn dennoch
als wirksam anzusehen (§ 51 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 OWiG),
wenn er gleichzeitig oder im Folgenden eine typische Verteidigertätigkeit in Bußgeldsachen ausübt.
(Amtlicher Leitsatz)
OWiG § 51 Abs. 3
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08*
Anmerkung:
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe vom 1.7.2008 ist kurz
nach jener des OLG Düsseldorf vom 17.4.2008 ergangen, auf
die Bezug genommen wird und die ich bereits zustimmend
kommentiert habe.1 Da sie im Ergebnis auf dasselbe hinauskommt, möchte ich auch ihr zustimmen und lediglich auf
Folgendes hinweisen: Anders als im Fall des OLG Düsseldorf hat der Verteidiger hier ohne weitere Vollmachtvorlage
„im Namen des Betroffenen“ Einspruch eingelegt. Erst ca.
einen Monat später, nachdem er bereits eine Verschiebung
des Hauptverhandlungsbeginns und die Entbindung des Betroffenen von der Pflicht zum Erscheinen beantragt hatte, hat
er eine weitere Vollmacht vorgelegt. In dem Fall, den das
OLG Düsseldorf zu entscheiden hatte, hatte der Verteidiger
sich zusammen mit der Einspruchseinlegung zum Verteidiger
bestellt und später eine schriftliche Vollmacht – mit demselben Datum wie die Einspruchsschrift – nachgereicht.
In der Sache ergibt sich daraus jedoch kein Unterschied.
Es kommt nämlich nicht darauf an, aufgrund welcher Vollmacht gegen den Bußgeldbescheid Einspruch eingelegt wurde und ob diese als „außergerichtliche“ oder als „Verteidigervollmacht“ bezeichnet wurde, sondern darauf, ob nicht
schon die in beiden Fällen zunächst vorgelegte Vollmacht
entgegen ihrer Bezeichnung als außergerichtliche Vollmacht
in Wahrheit eine Verteidigervollmacht war.
In beiden Fällen hatten die Verteidiger, bevor sie Einspruch einlegten, bereits Akteneinsicht in die Ermittlungsakte
(bestehend aus Messprotokoll, Originalbeweisfotos, Eichschein, Beschilderungsplan usw.) genommen. Bereits das
stellt eine „typische Verteidigertätigkeit“ in Bußgeldsachen
dar.2 Darauf, ob die Vollmacht, aufgrund derer sie beantragt
wurde, bloß als „außergerichtliche“ bezeichnet wurde,
kommt es wiederum nicht an, wenn das, wozu sie ermächtigt,
materielle Verteidigertätigkeit ist. Denn die Bevollmächtigung als Verteidiger bedarf keiner bestimmten Form, sie
* NStZ 2009, 295.
1
OLG Düsseldorf JR 2008, 522 m. zust. Anm. Fahl.
2
So OLG Karlsruhe NStZ 2009, 295 (296); ebenso schon
OLG Düsseldorf JR 2008, 522.
kann deshalb auch aus den äußeren Umständen geschlossen
werden.3
In diesem Zusammenhang hat bereits das OLG Dresden ausgeführt: „Es erscheint dem Senat ausgeschlossen, dass ein
Betroffener, dem aufgrund eines ihm vorgeworfenen Verkehrsverstoßes, bei dem Dritte nicht beteiligt sind und der mit
der Verhängung eines Regelfahrverbotes rechnen muss, sich
in dem Verfahren vor der Bußgeldbehörde eines Rechtsanwalts lediglich zur Klärung zivilrechtlicher Fragen und nicht
als Beistand i.S.d. § 137 Abs. 1 StPO, § 46 Abs. 1 OWiG
bedient. Vielmehr sollte die gewählte Form der Vollmachtsurkunde erkennbar dazu dienen, eine förmliche Zustellung
des Bußgeldbescheides an den Betroffenen zu vermeiden, um
anschließend zu einem geeigneten Zeitpunkt die Stellung als
Verteidiger zu bestreiten und sich auf eine vermeintlich eingetretene Verfolgungsverjährung zu berufen.“4
Damit ist die sog. Verjährungsfalle beschrieben, die sich
offenbar großer Beliebtheit erfreut und als zu einer „de lege
artis“ geführten Verteidigung in Straßenverkehrssachen gehörend in Kursen und auf Fortbildungsveranstaltungen gelehrt
und weitergegeben wird.
Angefangen hat alles mit der Erteilung einer „Verteidigervollmacht“ ohne gleichzeitige „Zustellungsvollmacht“. Da
heißt es in der Vollmachtsurkunde z.B. „Eine Ermächtigung
zum Empfang von Zustellungen gem. § 51 Abs. 3 OWiG
besteht nicht, die insoweit gesetzlich vermutete Ermächtigung
wird entzogen“5 oder die Vollmacht enthält – in Nr. 10 – den
Hinweis „Keine Zustellungsvollmacht in Straf- und Bußgeldsachen“6 oder in der linken oberen Ecke den kleingedruckten
Zusatz: „Der beauftragte Rechtsanwalt ist nicht zustellungsbevollmächtigt“.7
Dieser Praxis hat die Rspr. einen Riegel vorgeschoben,
indem sie entschied, dass § 51 Abs. 3 OWiG – wie § 145a
Abs. 1 StPO – eine gesetzliche, „im Interesse der Rechtssicherheit“ unbeschränkbare Zustellungsvollmacht enthalte.8
3
Vgl. BGH NStZ-RR 1998, 18; Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 51. Aufl. 2008, Vor § 137 Rn. 9;
vgl. auch Fahl, JR 2008, 524 (526) mit der Parallele zum
Beschuldigtenbegriff.
4
OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63.
5
OLG Dresden NStZ-RR 2005, 244.
6
OLG Jena NJW 2001, 3204 = StraFo 2001, 413 = VRS 101,
123.
7
OLG Brandenburg ZfSch 2005, 571 m. Bespr. Samimi,
ZfSch 2006, 308 – später legte der Rechtsanwalt eine von
dem Betroffenen unterzeichnete Vollmachtsurkunde vor, die
sich von der ersten lediglich dadurch unterschied, dass sie
den die Zustellung ausschließenden Zusatz und das Wort
„außergerichtliche“ nicht enthielt.
8
OLG Jena NJW 2001, 3204 – unter Hinweis auf Müller, in:
von Heintschel-Heinegg/Stöckel (Hrsg.), KMR, Kommentar
zur Strafprozessordnung, 4. Lieferung, Stand: August 1988,
§ 145a Rn. 7; s. ferner OLG Köln NZV 2004, 595 = NJW
2004, 3196; OLG Rostock VRS 107, 442; OLG Dresden
NStZ-RR 2005, 244; Meyer-Goßner (Fn. 3), § 145a Rn. 2;
Seitz, in: Göhler, Ordnungswidrigkeitengesetz, Kommentar,
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Fahl
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08
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Daher kann die Verteidigervollmacht weder von vornherein
in diesem Sinne beschränkt werden noch kann die Zustellungsvollmacht „unter Aufrechterhaltung der Verteidigervollmacht im Übrigen“ nachträglich entzogen werden. Das
alles dient nur dazu, die Zustellung an den Verteidiger zu
provozieren, die nachher als fehlerhaft gerügt werden soll.
Zuweilen wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Verwaltungsbehörde den Bußgeldbescheid an den Verteidiger und
nicht (auch) an den Betroffenen – was ihr freisteht und ihr in
Zweifelsfällen zuweilen geraten wird9 – zustellt, noch durch
Begleitschreiben erhöht, in denen es etwa heißt, dass man
„den Betroffenen anwaltlich vertrete“10 oder „mit seiner anwaltlichen Beratung und Vertretung beauftragt“ sei11 und
darum bitte, „jede weitere Korrespondenz in dieser Angelegenheit ausschließlich über seine Kanzlei zu führen“.12
In seiner Entscheidung vom 17.4.2008 führte das OLG
Düsseldorf13 aus, für die gewählte Vorgehensweise gebe es
nur einen plausiblen Grund – durch die Vorlage der außergerichtlichen Vollmacht solle die Verwaltungsbehörde dazu
veranlasst werden, den Bußgeldbescheid nicht an den Betroffenen, sondern an den von ihm beauftragten Rechtsanwalt
zuzustellen, um anschließend in dem gerichtlichen Bußgeldverfahren dessen damalige Stellung als Verteidiger, die
Wirksamkeit der Zustellung und damit die Verjährungsunterbrechung nach § 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG in Abrede zu stellen
– und setzte hinzu, ob die Errichtung einer solchen Verjährungsfalle „als rechtsmissbräuchlich oder noch als zulässiges
Verteidigungsverhalten anzusehen“ sei, bedürfe vorliegend
keiner Entscheidung.
Tatsächlich ist es gar nicht so einfach, ein Recht zu benennen, das der Verteidiger zweckfremd eingesetzt, also
„missbraucht“ haben könnte. Auf die „Verjährungsfalle“ trifft
vielmehr die Figur der „Gesetzesumgehung“ zu:14 Darunter
versteht man im juristischen Sprachgebrauch die Vermeidung
einer unerwünschten oder Herbeiführung einer erwünschten
Norm,15 wobei das Herbeiführen der einen Norm (§ 31 OWiG)
und das Vermeiden der anderen (§ 33 Abs. 1 Nr. 9 OWiG)
gegen den „Sinn und Zweck“ des Gesetzes verstoßen – die
Frage der Gesetzesumgehung ist damit eine solche nach der
„Auslegung“ der vermiedenen bzw. herbeigeführten Norm16
und die richtige Antwort auf ein solches Verhalten liegt nicht
in dem Entzug oder in der Beschränkung des missbrauchten
Rechts auf eine den Zwecken, zu denen es eingeräumt wurde,
entsprechende Ausübung wie sonst beim Rechtsmissbrauch,
sondern in der Auslegung, und zwar des § 51 Abs. 3 OWiG,17
wie es das OLG Karlsruhe in der hier zu besprechenden Entscheidung und vor ihm das OLG Düsseldorf getan haben.
Das heißt aber nicht, dass ein solches Verteidigerverhalten zu
einer „de lege artis“ geführten Verteidigung gehört, vielmehr
ist es mit der Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege18 unvereinbar, „arglistig oder vorsätzlich prozessuale
Fallen aufzustellen“.19
Wenn ein Rechtsanwalt gleichwohl vortrage, nicht Verteidiger gewesen und zu der Zeit nur zivilrechtlich bevollmächtigt gewesen zu sein, so ist das, wie es das OLG Dresden ausdrückte,20 unzutreffend und augenscheinlich nur „der
Rechtsprechung vereinzelter Oberlandesgerichte geschuldet“.
Damit sind die Entscheidungen des OLG Hamm vom
27.11.200321, des OLG Brandenburg vom 23.5.200522 und
des KG Berlin vom 9.12.200523 gemeint, die § 51 Abs. 3 S. 1
OWiG jeweils mit der Begründung unangewendet gelassen
haben, der dortigen „außergerichtlichen Vollmacht“ mit nahezu identischem Inhalt wie hier sei die Mandatierung des
Rechtsanwalts als Verteidiger nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen.
Zur Vermeidung der Vorlage nach § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG,
§ 121 Abs. 2 GVG verweist das OLG Karlsruhe auf die „Gesamtschau der im Einzelfall vorliegenden Tatsachen“, die
hier „eindeutig“ auf die Bevollmächtigung als Verteidiger
schließen ließen. Schon das OLG Dresden sah eine solche
Vorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG nicht veranlasst, weil die
Verteidigervollmacht in den abweichenden Entscheidungen
nachträglich eingeschränkt worden sei,24 bzw. weil die Vollmachten sich in ihrem Wortlaut unterschieden.25
Darin spiegelt sich der schon bei den Strafsenaten des
Bundesgerichthofes oft beschriebene „horror pleni“ auch bei
den Oberlandesgerichten wider, den man nicht nachvollziehen, sondern zumindest aus Sicht der Prozessrechtswissenschaft nur bedauern kann.26 Gerade bei – im weitesten Sinne –
„Rechtsmissbrauchsfragen“ sollte der BGH nicht auf Dauer
heraus gehalten werden. Viele Entscheidungen des BGH aus
der jüngsten Vergangenheit belegen, dass das eigentlich zur
Entscheidung über den Rechtsmissbrauch im Strafprozess
berufene oberste deutsche Fachgericht seiner Funktion und
17
Fahl, JR 2008, 524 (526).
Zur viel bekämpften „Organtheorie“ statt vieler Beulke,
Strafprozessrecht, 10. Aufl. 2008, Rn. 150.
19
So schon Erker, Das Beanstandungsrecht gemäß § 238
Abs. 2 StPO, 1988, S. 170.
20
OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63.
21
DAR 2004, 105 = VRS 106, 126 = StraFo 2004, 96.
22
ZfSch 2005, 571.
23
VRS 112, 475.
24
OLG Dresden NStZ-RR 2005, 244.
25
OLG Dresden VerkMitt 2007, Nr. 63. Das OLG Düsseldorf, JR 2008, 522 (523), benutzt Erwägungen zu Heilbarkeit
von Verstößen gegen § 51 OWiG, um die Vorlagepflicht zu
verneinen, vgl. dazu Fahl, JR 2008, 524 (527).
26
Fahl, JR 2008, 524 (527); vgl. schon Korte, NStZ 2002,
583 (586).
18
15. Aufl. 2009, § 51 Rn. 44a; Fahl, Rechtsmissbrauch im
Strafprozess, 2004, S. 650, Fn. 4551.
9
Samimi, ZfSch 2006, 308 (309).
10
KG Berlin VRS 112, 475.
11
OLG Brandenburg ZfSch 2005, 571.
12
KG Berlin VRS 112, 475 (476).
13
OLG Düsseldorf JR 2008, 522 (523).
14
An anderer Stelle spricht OLG Düsseldorf JR 2008, 522
(523), richtigerweise von einem Mittel, „die verjährungsunterbrechende Wirkung der Zustellung zu umgehen“ – zur
Umgehungen von Verjährungsvorschriften durch StA und
Gericht s. Fahl (Fn. 8), S. 226 f.
15
Fahl (Fn. 8), S. 18.
16
So schon Zeiss, Die arglistige Prozesspartei, 1967, S. 58.
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Fahl
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 1.7.2008 – 2 Ss 71/08
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der Verantwortung für die Eindämmung des in den letzten
Jahren immer weiter um sich greifenden Missbrauchs gerecht
geworden ist.27
Prof. Dr. Christian Fahl, Rostock
27
Vgl. etwa BGHSt 51, 88 ff. m. zust. Anm. Fahl JR 2007, 34.
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Gropp
Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe
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B uc hre ze ns io n
Armin Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe, Mohr
Siebeck Verlag, Tübingen 2008, XII, 412 S., € 94,Die von Engländer verfasste Monographie wurde im Wintersemester 2007/2008 vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz als Habilitationsschrift angenommen. Betreut wurde
die Arbeit von Michael Hettinger, das Zweitgutachten verfasste Volker Erb.
I. Ziel der Arbeit ist es, „eine Nothilfekonzeption zu entwickeln, die die von § 32 StGB eingeräumte Befugnis zur
Verteidigung eines anderen zu begründen vermag, zugleich
deren Grenzen bestimmt, das bestehende System abgestufter
Notrechte plausibel macht, sowie die Unterschiede zum staatlichen Gefahrenabwehrrecht auf eine neue Weise erklärt und
so eine Forschungslücke im Allgemeinen Teil des Strafrechts
schließt.“1
Nach diesem „Programm“ werden im Laufe der Darstellung die Grund- und Grenzfragen der Nothilfe aufbauend auf
der Darlegung der Grund- und Grenzfragen der Notwehr
entwickelt: Die ratio legis (§ 2) und die Akzessorietät der
Nothilfe (§ 3), Nothilfe und staatliche Gefahrenabwehr (§ 4),
Nothilfelage (§ 5) und Nothilfehandlung (§ 6) sowie Einschränkungen der Nothilfe (§ 7). Mit einer gelungenen Zusammenfassung der Ergebnisse endet die Arbeit (§ 8).
Im Gegensatz zu der sonst üblichen allenfalls „stiefmütterlichen“ Behandlung der Nothilfe am Rande der Notwehr2
stehen somit Probleme im Vordergrund, die sich speziell auf
die Nothilfe beziehen: u.a. das Verhältnis zwischen Angegriffenem und Nothelfer in Bezug auf die Bereitschaft, auf den
Angriff überhaupt zu antworten, die Frage des mildesten
Mittels, wenn es insoweit Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten des Angegriffenen und des Nothelfers gibt, sowie
schließlich Fragen der „Rettungsfolter“, wobei hier eine zusätzliche „Großbaustelle“ eröffnet wird, wenn der Staat als
Nothelfer auf der Bühne erscheint.
Engländer will seine Arbeit als strafrechtsdogmatische
und rechtsphilosophische zugleich verstanden wissen: Die
auf der Grundlage von 32 StGB als lex lata erarbeiteten dogmatischen Aussagen werden auf ihre „Richtigkeit“ hin philosophisch überprüft.
II. Breiten Raum nimmt zunächst zu Recht die Grundfrage ein, wie man die durch § 32 StGB eingeräumte Befugnis
zur umfassenden Abwehr von menschlichen Angriffen rechtsdogmatisch und philosophisch erklären könnte. Engländer
schließt es hier zunächst nicht aus, als möglichen Zweck von
Notwehr und Nothilfe jedenfalls auch die Verteidigung der
empirischen Geltung der Rechtsordnung zu verstehen. Nach
der von ihm letztlich favorisierten Konzeption erhält die
Notwehr ihr Gepräge jedoch durch die Verteidigung der
Individualgüter, d.h. der gegenüber dem Angreifer bestehen-
den subjektiven Rechte des Angegriffenen.3 Engländer stützt
sich insoweit auf Überlegungen von Heiko Hartmut Lesch,
Klaus Adomeit und Ulfrid Neumann, räumt allerdings ein,
dass sich das Abstellen auf die Verteidigung der Individualrechtsgüter bereits im 19. Jahrhundert bei Hugo Hälschner
und schließlich sogar bei Albert Friedrich Berner finden
lässt. Hälschners bis heute gerne zitierte Aussage, dass „das
Recht dem […] Unrecht nicht zu weichen“ braucht, sei in
diesem individuellen Sinne zu verstehen: Recht nicht nur als
Gesamtrechtsordnung, sondern spezifisch als subjektives
Recht des Angegriffenen gegenüber dem Angreifer. Das
Recht zur Verteidigung in § 32 StGB legitimiert sich damit
letztlich aus dem Recht zur Selbsterhaltung.4 Damit ist der
aristotelische Fixpunkt, der Kern des Notwehr- und daraus
hervorgehend des Nothilfebegriffs, gefunden. Die darauf
beruhende Definition von Notwehr, die gleichzeitig auch die
Ausgangsbasis aller weiteren Überlegungen zur Nothilfe
bietet, lautet schließlich: „Zwangsbefugnis zur Durchsetzung
eines subjektiv-rechtlich gewährleisteten Güterschutzes für
den Fall der aktuellen Missachtung der güterschützenden
subjektiven Rechte durch einen Angreifer, […]“.5 Nicht zu
unterschätzen ist im Rahmen dieser Definition der Begriff der
„Missachtung“, denn er wird im Bereich der Auslegung des
§ 32 eine nicht unerhebliche Rolle spielen.
III. Dieser Notwehrbegriff – Durchsetzung eines subjektiv-rechtlich gewährleisteten Güterschutzes (Verteidigerseite)
gegen die Missachtung der güterschützenden subjektiven
Rechte (Angreiferseite) – lässt Rückschlüsse auf spezielle
Fragestellungen aus dem Bereich der Nothilfe zu:
1. Hinsichtlich der Akzessorietät der Nothilfe (§ 3), d.h.
der Beachtlichkeit eines entgegenstehenden Willens des Angegriffenen, lässt er z.B. die Unterscheidung zwischen einem
„Verzichtswillen“ des Angegriffenen aus Sorge um die Person des Nothelfers und einem „Verbotswillen“, etwa im Falle
der Absicht einer eigenhändigen Verteidigung bzw. der
Furcht vor einer Eskalation des Geschehens oder vor dem
Fehlgehen der Verteidigungshandlung, zu. Im Falle des Verzichtswillens besteht das Recht zur Nothilfe, im Falle des
Verbotswillens hingegen nicht.6
2. Eine erste Bewährungsprobe muss die individualrechtliche Nothilfekonzeption bei der Erörterung des Verhältnisses
von Nothilfe und staatlicher Gefahrenabwehr (§ 4) bestehen.
Hier geht Engländer im Grundsatz zwar von einer Subsidiarität der privaten Nothilfe gegenüber der staatlichen Gefahrenabwehr aus. Jedoch hindere eine präsente staatliche Nothilfe
die Verteidigung durch eine private nicht, wenn der Hoheitsträger zwar präsent ist, aber nicht handeln darf, nicht handeln
will oder „lediglich eine Maßgabe ergreift, die gegenüber der
konkret in Frage stehenden privaten Verteidigungshandlung
ein höheres Fehlschlagsrisiko aufweist“.7 Diese subsidiäre
private Abwehrmöglichkeit ist deshalb von großer Bedeutung, weil staatliches Handeln auch zum Zwecke der Nothilfe
3
1
S. 6.
2
Vgl. z.B. Mitsch, in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht,
Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 9; Gropp, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 2005, § 6 Rn. 69.
S. 67 f.
S. 78.
5
S. 98.
6
Vgl. S. 102, 373.
7
S. 176.
4
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Gropp
Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe
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wegen des Vorbehalts des Gesetzes nur auf der Grundlage
einer verfassungskonformen und damit an Verhältnismäßigkeitsgrundsätze gebundenen Befugnisnorm zulässig ist.8 Die
Möglichkeiten der staatlichen Gefahrenabwehr bleiben folglich hinter denen der privaten Nothilfe zurück. Erwähnenswert ist Engländers Begründung für die eingeschränkte
Reichweite der staatlichen Abwehrbefugnisse: Der Staat sehe
um bestimmter Ideale willen von einer Verteidigung des
Angegriffenen um jeden Preis ab, schreibe seinen Bürgern für
ihr Handeln die Berücksichtigung dieser Ideale jedoch nicht
vor.9
Fraglich ist, ob diese Begründung zu praktikablen Ergebnissen führt. Denn eine staatliche Nothilfe unter Missachtung
jener Ideale soll – unter Rückgriff auf Hans-Ludwig Günthers
Lehre vom „Strafunrechtsausschluss“10 – dazu führen, dass
seitens des Hoheitsträgers kein strafrechtlicher Unrechtswert
gegeben ist, sondern lediglich „der Unrechtsgehalt einer
Missachtung der für das Handeln staatlicher Organe geltenden Prinzipien“.11 Damit stellt sich sofort die Frage, ob solch
eine idealwidrige staatliche Nothilfe ihrerseits ein „rechtswidriger Angriff“ im Sinne von § 32 ist. Engländer müsste
dies wohl verneinen und der Angreifer müsste eine derartige
Staatsnothilfe dulden. In der Tatsituation bleibt dann freilich
von der beschworenen Bindung der staatlichen Nothilfe an
Ideale nicht mehr viel übrig.
3. Auf die soeben angesprochene Rechtswidrigkeit des
Angriffs in § 32 wirkt sich die individualrechtliche Nothilfekonzeption Engländers unmittelbar aus: Denn wenn Nothilfe
auf der Angreiferseite die „Missachtung der güterschützenden subjektiven Rechte durch den Angreifer“12 voraussetzt,
dann folgt daraus, dass eine Nothilfelage nicht gegeben ist,
wenn es an jener Missachtung fehlt. Dies ist der Fall, wenn
Personen angreifen, die zu jener Missachtung überhaupt nicht
fähig sind. Engländer zählt hierzu Kinder und Geisteskranke,
aber auch Angreifer, die sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befinden. Jene Personen greifen zwar an, ihr Angriff ist aber nicht rechtswidrig. Unter der Voraussetzung,
dass das Unrecht des Angreifers auch personales Unrecht
sein muss, kann man dem uneingeschränkt zustimmen.13
Nach Engländers Konzeption zur staatlichen Gefahrenabwehr müsste an dieser Stelle auch der Hoheitsträger genannt
werden, der unter Missachtung der für das Handeln staatlicher Organe geltenden Ideale aktiv wird, denn auch er handelt nicht rechtswidrig. Wie gegenüber Geisteskranken, Kindern und sonst Schuldunfähigen bzw. im unvermeidbaren
Verbotsirrtum Handelnden müsste damit aber auch gegen-
8
Vgl. u.a. S. 188.
S. 210.
10
Vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß. Studien zur Rechtswidrigkeit als Straftatmerkmal
und zur Funktion der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht,
1983.
11
S. 232.
12
S. 98.
13
Vgl. Gropp (Fn. 2), § 6 Rn. 73.
9
über dem staatlichen Hoheitsträger zumindest unter Notstandsgesichtspunkten eine Abwehr möglich sein.
4. Eine Nothilfelage verneint Engländer im Falle des Einverständnisses und der Einwilligung des Trägers subjektiver
Rechte. In dem von Engländer gebildeten Beispiel ist die
Großmutter G mit der Ansichnahme eines Colliers durch
ihren in einer wirtschaftlichen Notlage befindlichen Enkel E
einverstanden.14 Zwar begeht E in Folge der irrigen Annahme
einer Wegnahme in Zueignungsabsicht immerhin einen versuchten Diebstahl, jedoch ist eine Abwehr dieses untauglichen Angriffs nicht erforderlich, weil die Tat ohnehin nicht
vollendet werden kann.
5. Am meisten beeindrucken und überzeugen die Ausführungen Engländers zur Frage von Nothilfe und Folterverbot –
zur Zulässigkeit der Aussageerzwingung.15 Während Engländer eine Aussageerzwingung durch Hoheitsträger mangels
entsprechender gefahrenabwehrrechtlicher Regelungen ablehnt16, gibt das auf dem Selbsterhaltungstrieb aufbauende
Konzept von Notwehr und Nothilfe die Möglichkeit, eine
Rettungsfolter durch Private im Wege der Nothilfe zu konstruieren. Engländer bildet das folgende Beispiel: „Bordellbesitzer B verabreicht seinem Konkurrenten K ein Gift, das
innerhalb der nächsten halben Stunde tödlich wirken wird,
wenn K nicht zuvor ein Gegengift einnimmt. Um das Leid
des K noch zu steigern, teilt B ihm diesen Sachverhalt auch
mit. Das Gegengift sei sogar ganz in der Nähe versteckt, doch
werde K es kaum rechtzeitig finden. Nach kurzer Zeit ist K
zu geschwächt, um noch etwas zu unternehmen. Sein Freund
F, der die Situation zufällig mitbekommen hat, fordert B nun
auf, ihm den Aufbewahrungsort des Gegengiftes zu nennen.
B weigert sich. Auch die darauf folgende Androhung von
Gewalt lässt ihn kalt. Selbst ein schmerzhaftes Zupacken
bewirkt nichts. Erst als F dem B den Arm bricht, verrät ihm
dieser, wo er das Gegengift versteckt hat.“17 Ob es sich bei
jener Giftgabe des B an den K wirklich um Folter handelt,
mag trotz des immer konturloseren Folterbegriffs bezweifelt
werden. Der Fall lässt sich jedoch relativ „wasserdicht“ zum
Folter-Fall abwandeln, wenn man annimmt, dass das Gift
große Schmerzen verursacht und B dem K das Gift verabreicht habe, um aus ihm ein Geschäftsgeheimnis herauszupressen.
Hier wird man Engländer zustimmen müssen, dass es jedenfalls K, falls er noch die Kraft dazu hat, erlaubt sein müsste, den B seinerseits so lange zu quälen, bis B dem K sagt, wo
sich das Gegengift befindet. In diesem Falle sozial-ethische
Einschränkungen des Notwehrrechts geltend zu machen, die
der K zum Schutz der Menschenwürde des B beachten müsste, wäre absurd. Engländer liefert eine komfortable Begründung dafür: Versteht man Notwehr als ein Mittel zur Selbsterhaltung, dann dürfen Angriffe mittels Folter durch den
Gefolterten wiederum durch Folter abgewehrt werden. Wollte
man dem Angegriffenen eine die Menschenwürde verletzen14
Vgl. S. 275.
Vgl. S. 331 ff.
16
S. 349 ff.
17
S. 333.
15
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Engländer, Grund und Grenzen der Nothilfe
Gropp
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de Abwehr versagen, dann müsste der Angreifer – mit den
Worten Engländers – „seinen Angriff lediglich so gestalten,
dass das Opfer ihn nicht ohne eine Missachtung seiner Würde
abzuwehren vermag.“18 Der Übertragung jener Befugnisse
zur Selbstverteidigung auf die Nothilfebefugnis19 wird man
zustimmen können. Auf eine Aussageerzwingung durch
Hoheitsträger lassen sich diese Überlegungen freilich nicht
übertragen.20
IV. Die Arbeit Engländers ist in einer sehr gefälligen und
exakten Sprache abgefasst. Deshalb werden es die Freunde
der lateinischen Sprache Engländer zumindest verzeihen,
wenn er ausführt, es gebe „vier Alternativen“ des Vorliegens
eines der Nothilfe entgegenstehenden Willens.21 Eines stabilen Magens bedarf der Leser auch angesichts der Freude
Engländers an der Schöpfung neuer Wortungetüme, mit
denen die zu erörternden Auffassungen zu Beginn eines jeden
Abschnitts „etikettiert“ werden. Im Kapitel über die Reichweite der Abwehrbefugnisse z.B. muss sich der Leser in
diesem Sinne mit Begriffen wie „proportionalitätsorientierte
Harmonisierungslösung“ oder „strafrechtliche Harmonisierungslösung“ oder „Differenzierungslösung“ anfreunden.
Oder wie wäre es mit dem „Normtexteinwand“, dem
„Schutzlückeneinwand“, dem „Kohärenzeinwand“ und dem
„Unübersichtlichkeitseinwand“ in Bezug auf das Erfordernis
der prinzipiellen Schuldfähigkeit des Angreifers als Voraussetzung für den rechtswidrigen Angriff?22 Dennoch muss
man zugeben, dass auch diese Wortschöpfungen immerhin
hilfreich sind, um innerhalb der betreffenden Abschnitte die
Übersicht nicht zu verlieren. Danach kann man sie allerdings
wieder vergessen.
Zu erwähnen wäre noch, dass die Arbeit über ein vorzügliches Sachverzeichnis sowie über ein ausführliches Personenverzeichnis verfügt. Freilich sollten sich die dort genannten Persönlichkeiten nicht allzu früh freuen. Denn die allermeisten von ihnen sehen ihre Gedankengebäude angesichts
der Treffsicherheit Engländers alsbald in Schutt und Asche
gelegt.
Alles in allem scheint mir die Habilitationsschrift Engländers eine gelungene Monographie, an der Spezialisten
zum Thema Nothilfe nicht vorbei gehen können und Autoren
von Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil des StGB nicht vorbei gehen dürfen!
Prof. Dr. Walter Gropp, Gießen
18
S. 341.
S. 342.
20
S. 349.
21
S. 106.
22
Vgl. S. 260 f.
19
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com
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Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts
Duttge
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B uc hre ze ns io n
Sabit Osman Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter
besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts (Münchener Universitätsschriften, Bd. 221), Verlag C.H. Beck,
München 2008, 248 S., € 44,90
Der Blick auf die jüngere Entwicklung einer benachbarten
Rechtsordnung verspricht interessante Auf- und Rückschlüsse zugleich über den aktuellen Stand, mögliche Vorzüge und
bestehende Defizite innerhalb des eigenen Rechtskreises.
Dies gilt um so mehr, wenn es sich um eine so sorgfältige
und reflektierte Untersuchung wie die vorliegende handelt,
die es sich in profunder Kenntnis der deutschen Strafrechtswissenschaft zur Aufgabe gemacht hat, die Strukturen und
Begründungstopoi des türkischen Strafrechts samt seiner
wissenschaftlichen Bearbeitung kritisch zu durchleuchten.
Dieser Fokus der vergleichenden Betrachtung drängt sich
nicht nur der traditionell engen Verbindung zwischen deutscher und türkischer Strafrechtslehre wegen (neuerdings
zunehmend auch auf das Medizinrecht übergreifend) auf,
sondern insbesondere auch aufgrund des Inkrafttretens eines
vollständig reformierten türkischen Strafgesetzbuchs am
1.6.2005, das „substantielle, weiterbringende Neuerungen zu
bieten hat und die Fortschritte der modernen Strafrechtswissenschaft dem türkischen Strafrecht auch in Gesetzesform
nahebringt“ (S. 15). Wenn hiermit nicht weniger als der Beginn einer „neuen Ära im türkischen Strafrechtssystem“
(S. 14) gesehen wird, so macht sehr neugierig, inwieweit das
Schuldprinzip – an den „neueren Entwicklungen im deutschen Strafrecht“ gespiegelt und unter punktueller Einbeziehung auch der strafgesetzlichen Regelungen weiterer europäischer Länder (S. 2) – in formeller wie materieller Hinsicht
tatsächlich seinen Niederschlag gefunden hat. Dass der Autor
zu Beginn seiner Studie, eine unter der Betreuung von Roxin
entstandene Münchener Dissertation, die Behandlung des
materiellen Schuldbegriffs noch von sich weist (S. 3), ist –
am Inhalt seines Werkes gemessen – eher vorsichtige Bescheidenheit aus Sorge vor übertriebenen Erwartungen; in der
Sache verweist er zu Recht zustimmend auf eine Bemerkung
Arthur Kaufmanns, wonach keine Diskussion über das
Schuldprinzip auf eine inhaltliche Bestimmung des Schuldbegriffs verzichten kann.1 Wenig überraschend macht er sich
hierzu die Konzeption seines akademischen Lehrers zu Eigen, wonach im unrechten Handeln trotz „normativer Ansprechbarkeit“ die Essenz dessen liegen soll, was dem Täter
von Rechts wegen vorgeworfen wird (S. 120 ff., 140);2 dass
Isfen die Überzeugungskraft dieser Lehre nicht nur innerhalb
der strafrechtlichen Binnenstruktur, sondern auch in eingehender Auseinandersetzung mit dem Grundproblem der
„Willensfreiheit“ und den aktuellen Forderungen der modernen Neurowissenschaften zu erweisen sucht (S. 92 ff.,
108 ff.), macht die Arbeit auch für jene wertvoll, die sich
jenseits spezifisch rechtsvergleichender Interessen für die
1
Kaufmann, Jura 1986, 225 (232).
Vgl. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl.
2006, § 19 Rn 36 ff.
2
Grundlagen und zentralen Fragen des heutigen Strafrechts
interessieren: Wenn der deutschen Strafrechtswissenschaft
der Gegenwart insoweit ein „Defizit an interdisziplinärem
Austausch mit der Philosophie“ (S. 135) bescheinigt wird, ist
bei der nicht weniger kritischen Haltung des Autors gegenüber der türkischen Strafrechtslehre (z.B. S. 92: „erschöpft
sich […] in vagen Grundsatzbekenntnissen“) ebenso bemerkens- wie bedenkenswert. Das mit dem vorliegenden Werk
verbundene Anliegen, zum ersten Mal eine zusammenhängende, fundierte Darstellung des Schuldprinzips im türkischen Strafrecht vorzulegen (S. 3), ist dem Autor auf beeindruckende Weise gelungen.
Ein Abriss über die „geschichtliche Entwicklung des türkischen Strafrechts“ und zu den Vorläufern des geltenden
Strafgesetzbuchs (S. 5 ff.) eröffnet die Untersuchung und
illustriert die lange vorherrschende autoritäre Grundhaltung,
die etwa im Streit um den Grundsatz „error iuris nocet“ bzw.
strafrechtsdogmatisch um Schuld- oder Vorsatztheorie und
das Verständnis der „Vermeidbarkeit“ (zur Begründung des
potentiellen Unrechtsbewusstseins) bis zur Gegenwart fortlebt (S. 150 ff.). Wenn der Autor hier oder im Kontext des
„Koinzidenzprinzips“ (bei rauschbedingter Herbeiführung
der Schuldunfähigkeit, vgl. §§ 20, 323a StGB) einen noch
immer „von rechtspolitischen Überlegungen geleiteten und
generalpräventiv geprägten Erklärungsansatz“ (S. 176 f.) ausmacht, so wird hierdurch sein schon zu Beginn unverhüllt
erklärtes und sich durch die gesamte Arbeit hindurch ziehendes Plädoyer für ein grundlegendes „Umdenken“ im türkischen Strafrechtsverständnis (S. 35) unmittelbar fassbar. Die
Kritik zielt zugleich strafrechtssystematisch auf den noch
immer weithin vertretenen „klassischen Verbrechensbegriff“
(S. 17 ff.) mit seiner „säuberlichen Trennung“ von objektiven
(Handlung, Erfolg, Kausalität) und subjektiven Elementen
(S. 26 f.), der bekanntlich jedoch die bedeutsame Divergenz
schon im Unrecht zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger
Straftatbegehung verkennt (S. 30). Bemerkenswert findet sich
im neuen türkischen StGB ausweislich seiner Regelungen zur
Teilnahme (vgl. Art. 40 Abs. 1 tStGB: „limitierte Akzessorietät“) und zum Versuch (vgl. Art. 35 Abs. 1 tStGB) die Ergänzung des Erfolgs- um ein Handlungsunrecht samt seiner subjektiven Dimension bereits anerkannt, so dass die Gesetzeslage hier der strafrechtswissenschaftlichen Entwicklung deutlich voraus ist, statt ihr wie sonst gemeinhin zu beobachten
erst zu folgen. Erklären kann dies nur die Vorgeschichte zur
jüngsten Strafrechtsreform, infolge derer das türkische StGB
„in unverkennbarer Weise die Handschrift von drei jüngeren
Strafrechtslehrern“ trägt, „die ihre akademischen Hauptwerke
bei ihren Forschungsaufenthalten in Deutschland“ verfasst
haben und sich „in erster Linie vom deutschen Strafrecht
leiten ließen“ (S. 13). Diese Prägung trifft nicht weniger auf
den Autor selbst zu, der die „Personalisierung“ des Handlungsunrechts im Kontext des Fahrlässigkeitsdelikts – einer
neueren strafrechtswissenschaftlichen Lehre folgend – mit
Recht nur bei konsequenter Individualisierung der unrechtsbegründenden „Pflichtwidrigkeit“ als gegeben ansieht (S. 34
Fn. 107). Zur „äußeren Seite des Schuldprinzips“ folgt Isfen
hingegen, ohne die komplexe Thematik zu vertiefen, seinem
akademischen Lehrer und fordert – vom derzeitigen Kausali-
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Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts
Duttge
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tätsverständnis im Sinne der Adäquanztheorie ausgehend
(näher S. 35 ff.: „gemischte Adäquanztheorie“) –, „dass die
Lehre von der objektiven Zurechnung schnellstmöglich eine
breite Ausarbeitung und Akzeptanz in der türkischen Strafrechtswissenschaft und Praxis“ erfahren möge (S. 41). Mit
dieser weit reichenden Festlegung wird freilich übergangen,
dass sich die „objektive Zurechnungslehre“ insbesondere in
ihrem Kernstück des „erlaubten Risikos“ neuerdings wieder
vermehrt einer Grundsatzkritik ausgesetzt sieht (dagegen nur
die ältere Literatur zitierend: S. 37 Fn. 121, S. 41 Fn. 149).
Der detaillierte Bericht über zentrale Regelungen aus dem
Allgemeinen Teil des neuen türkischen StGB gibt höchst
interessante Einblicke, u.a. auch in die fortbestehenden Unsicherheiten bei der strafrechtsdogmatischen Klassifizierung
des Notwehrexzesses (Art. 27 Abs. 2 tStGB [S. 48, 59]) oder
der neuen Notstandsregelung (Art. 25 Abs. 2 tStGB), die
Isfen trotz des Verhältnismäßigkeitserfordernisses (ohne
weitere Begründung) im Sinne eines Entschuldigungsgrundes
auffasst (S. 44). Dass der in Art. 26 Abs. 1 tStGB normierte
Rechtfertigungsgrund der „Ausübung eines Rechts“ in Zeiten
gewachsener Bedeutung der Patientenautonomie den ärztlichen Heileingriff jedenfalls allein, d.h. unabhängig von der in
Art. 26 Abs. 2 tStGB gesondert geregelten Einwilligung nicht
mehr zu legitimieren vermag (vgl. dagegen S. 44 Fn. 164), ist
im westeuropäischen Grundverständnis der Arzt-PatientenBeziehung nicht mehr zweifelhaft. Der sog. Erlaubnistatumstandsirrtum3 findet sich in Art. 30 Abs. 3 tStGB (erstaunlicherweise gemeinsam mit dem Entschuldigungssachverhaltsirrtum: „Gründe, die die strafrechtliche Verantwortlichkeit
aufheben“) im Sinne der „strengen Schuldtheorie“ bewertet;
aus strafrechtsdogmatischen Gründen fordert der Autor jedoch unverkennbar dazu auf, diese „Entscheidung des Gesetzgebers“ im Wege der (methodisch zulässigen?) Auslegung zugunsten der „eingeschränkten Schuldtheorie“ abzuschwächen (S. 46 f.). Nur kurz werden (freilich im europäischen Vergleich, S. 52 Fn. 204, S. 54 Fn. 215) die Legaldefinitionen zu Vorsatz und Fahrlässigkeit (vgl. Art. 22 Abs. 2
und 3 tStGB: „objektive Sorgfaltspflichtverletzung“) referiert; die Fragwürdigkeit der begrifflichen Kennzeichnung
des dolus eventualis in Art. 21 Abs. 2 tStGB (durch seinen
Verzicht auf das voluntative Element und infolgedessen seine
Kollision mit der bewussten Fahrlässigkeit, Art. 22 Abs. 3
tStGB) wird dabei zutreffend erkannt (S. 53 Fn. 205), nicht
jedoch jene weitere der in Art. 21 Abs. 1 tStGB enthaltenen
allgemeinen Vorsatzdefinition, die mit ihrer Bezugnahme auf
die „in der gesetzlichen Beschreibung der Straftat enthaltenen
Merkmale“ (S. 52 f.) keine klare Abgrenzung zwischen Tatumstands- und Verbotsirrtum ermöglicht; wenn Art. 30 Abs. 1
tStGB nochmals abweichend hiervon als Bezugsgegenstand
des Tatumstandsirrtums die „materiellen (objektiven) Elemente/Merkmale der Straftat“ nennt, so ist die Verwirrung
komplett und offenbart den hier bestehenden Änderungsbedarf (S. 59 Fn. 239).
In der Suche nach dem „materiellen Schuldbegriff in der
türkischen Verbrechenslehre“ (S. 60 ff.) liegt erkennbar der
Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit, die den Autor veranlasst, in kritischer Auseinandersetzung mit verschiedenen
Ansätzen und Konzeptionen innerhalb der türkischen Strafrechtswissenschaft weiter auszuholen. Die wohl noch heute
weit verbreitete Akzentuierung des psychologischen Anteils
sieht Isfen im Wesentlichen im Bestreben begründet, die
beiden „Schuldarten“ infolge der fehlenden Anerkennung
einer personalen Unrechtslehre nicht „heimatlos“ werden zu
lassen (S. 74). Der vor allem bei der Fahrlässigkeit aber nicht
zu übersehende „normative Bezugspunkt“ (zutreffend S. 80;
missverständlich S. 83, wonach die „Begründung der Fahrlässigkeit […] ohne psychische Beziehung zur Tat auskommen“ müsse; richtig dagegen S. 89: keine „psychische Beziehung“ der unbewussten Fahrlässigkeit „zum Taterfolg“) wirft
jedoch die Frage nach dem näheren Gehalt dieses normativen
Anteils auf, die sich nicht mit der „inhaltsleeren Aussage“
zufrieden stellend beantworten lässt, wonach Schuld (auch)
„Vorwerfbarkeit“ sei (S. 72). „Konturen“ gewinnt der (für
Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat gemeinsame) Schuldbegriff in
den Augen des Verf. durch Bezugnahme auf die „berechtigte
Erwartung der Gesellschaft […], dass sich Menschen
rechtstreu verhalten“ (S. 102). Ein hieraus konstruierbarer
„funktionaler Schuldbegriff“ (z.B. im Sinne Jakobs) wird
allerdings abgelehnt, weil dies einer „Instrumentalisierung
des Individuums“ gleichkomme, „das nicht als autonomes
Wesen mit einem Freiheitsanspruch gegen den Staat auftritt,
sondern nur noch als Werkzeug gesellschaftlicher Stabilisierungsinteressen dient“ (S. 98 f.); Schuld erschöpfe sich daher
nicht in „reiner Normativität“, sondern setze ein „ontologisches, personales Substrat […] im konkret handelnden Täter“
voraus (S. 97): „Unterhalb“ des niemals beweisbaren „konkreten Anders-Handeln-Könnens“ zum Tatzeitpunkt lasse
sich die „empirische Grundlage des Schuldvorwurfs“ in der
„normativen Ansprechbarkeit“ ausmachen (S. 101 f., 119 et
passim), d.h. in der „allen Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft“ kraft ihrer alltäglichen sozialen Interaktion „gemeinsamen – empirisch fassbaren – Erfahrung“, dass „Normen
und Werte bestimmend auf die menschlichen Entscheidungsprozesse einwirken können“ und „unter normalen Umständen
von allen Menschen mit intakter Selbststeuerungsfähigkeit
[…] erwartet werden kann, dass sie sich von den entsprechenden Verhaltensnormen der Rechtsgemeinschaft leiten
lassen“ (S. 102)4.
Allen Beteuerungen zum Trotz, wonach es sich hierbei
um eine hinreichende „erfahrungswissenschaftliche Basis“
des Schuldvorwurfs handle, der sich damit wirklich auf Empirie stützen könne und nicht als bloßes Konstrukt gleichsam
in der Luft hänge, räumt Isfen gleichwohl – zu Recht – seinen
letztendlichen Zuschreibungscharakter ein: Es „wird der
Täter im Wege einer normativen Setzung als frei behandelt,
wenn er bei der Tatbegehung normativ ansprechbar war“
(S. 121). Die Berechtigung zu dieser „normativen Zuschrei-
3
4
Zur Terminologie vgl. Duttge, in: Dölling/ders./Rössner
(Hrsg.), Handkommentar, Gesamtes Strafrecht, 2008, § 16
StGB Rn. 11, § 35 StGB Rn. 20.
Ganz in diesem Sinne auch Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 36:
regelmäßiges Vorhandensein der „für den Anruf der Norm“
erforderlichen „psychischen Steuerungsmöglichkeit“.
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Isfen, Das Schuldprinzip im Strafrecht – unter besonderer Berücksichtigung des türkischen Rechts
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bung“ (S. 102 f.) entnimmt der Autor zum einen der generellen Steuerungsfähigkeit des Täters „in gleich liegenden Fällen“ (S. 119) und zum anderen dem „Selbstverständnis“, d.h.
dem „unbestrittenen Freiheitsbewusstsein“ aller „gesunden“
Mitglieder der Rechtsgemeinschaft und dem realen „Phänomen der Verantwortung als gesellschaftliche Realität“
(S. 103, 125 f., 128); diese „sittliche Praxis der rechtstreuen
Bürger“ habe sich die strafende Rechtsordnung zum „Vorbild“ zu nehmen (S. 127): „Wenn die Gesellschaft ein rechtstreues Verhalten von ihren Mitgliedern erwartet, so muss
dieser gesellschaftlichen Erwartungshaltung notwendigerweise auch die Behandlung des Täters als frei folgen; denn eine
solche Erwartung setzt a priori die Möglichkeit des Eintritts
eines erwartungswidrigen Zustands voraus, den die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft zu meiden haben“ (S. 104). Mit
dieser Überlegung wird die Argumentation aber augenfällig
tautologisch, weil sie wiederum sogleich die Frage nach der
Berechtigung einer solchen „Erwartung“ aufwirft. Ob die
dabei zugrunde gelegte „soziale Konvention“5 für sich den
Schuldvorwurf zu tragen vermag, wird zweifelhaft, wenn
bedacht wird, dass diese auch auf einer trügerischen Annahme ruhen kann: Dann wäre aber, wie Isfen sehr richtig erkennt, „nichts ersichtlich, was den Staat berechtigen könnte,
einen auf einer Illusion, einer Lüge beruhenden Schuldvorwurf gegenüber dem unfreien Täter zu erheben“; man muss
nicht erst an den „Kannibalen von Rotenburg“6 denken, um
zu erkennen: „Auch Irre finden sich meistens völlig normal“
(S. 115). Bezogen auf die von den Vertretern der Neurowissenschaften dezidiert herausgestellte Divergenz zwischen
Selbst- und Fremdzuschreibung: „Auch wenn das menschliche Freiheitsempfinden eine Verantwortungszuschreibung
aus der Erste-Person-Perspektive rechtfertigen mag, geht es
bei der Frage nach der strafrechtlichen Schuld um einen sozialethischen Tadel, also um eine Fremdzuschreibung von
Verantwortung durch die Rechtsgemeinschaft“; für beide
„Arten der Verantwortungszuschreibung“ können aber unterschiedliche Maßstäbe gelten (S. 114 f.). Bei aller berechtigten
Methodenkritik an den Libet-Experimenten wie auch an den
nachfolgenden „Verfeinerungen“ durch Haggard und Eimer
(S. 110 ff.) bleibt also das Fundament der Schlussfolgerung
brüchig, wonach die (nicht bestrittene) Unbeweisbarkeit der
„Willensfreiheit“ nicht „in dubio pro reo“ die Legitimation
eines Schuldstrafrechts in Zweifel ziehe, sondern umgekehrt
„die Neuro-Deterministen“ bis auf weiteres in der „Bringschuld“ stünden, „die Basis einer solchermaßen verstandenen
Zuschreibung zu Fall zu bringen“ (S.114, 133). Soweit mit
dieser auf eine generelle Steuerungsfähigkeit in „Normalsituationen“ abgehoben wird, ist damit aber niemals die entsprechende Wahl- und Entscheidungsfreiheit auch und gerade in
der handlungsrelevanten Lage gewährleistet (vgl. §§ 20, 323a
StGB). Soweit am Ende die zugeschriebene „Willensfreiheit“
nur noch als „Postulat der praktischen Vernunft“ fungiert, das
5
Roxin, in: Bemmann/Spinellis (Hrsg.), Festschrift für Georgios Alexandros Mangakis zum 75. Geburtstag, 1999, S. 237
(S. 245).
6
Vgl. BGHSt 50, 80.
von einer „praktisch-vernünftigen Disziplin“ wie dem Strafrecht trotz „in dubio pro reo“ einfach zugrunde gelegt werden
dürfe (S. 134), muss Isfen kaum mehr befürchten, sein überraschendes Zugeständnis jemals einlösen zu müssen: dass
nämlich im Falle einer sich künftig einmal doch erweisenden
„Richtigkeit der neurodeterministischen Thesen […] das
Strafrecht nolens volens Abschied vom Schuldgedanken
nehmen und sich dann als reines Zweckstrafrecht verstehen“
müsste (S. 115). Wer in die blackbox der „personalen Präferenzen“7 keinen Einblick gestattet (S. 135 ff.), muss eine
Widerlegung der Kompatibilitätsbehauptung selbst dann
nicht befürchten, wenn das Schuldprinzip – mit Recht – nicht
lediglich als begrenzender, sondern als konstituierender Faktor „verdienter“ Übelszufügung durch Strafe verstanden wird
(überzeugend S. 131 ff.)8.
Der letzte Teil des Werkes lässt diese Ebene der metatheoretischen Grundlagen, um deren Aufklärung sich der Autor
mit viel „Herzblut“, Intelligenz und Fleiß bemüht, hinter sich
und wendet sich wieder den „praktischen Auswirkungen des
Schuldprinzips“ innerhalb des strafrechtlichen Systems zu,
erneut vor allem mit spezifischem Blick auf die jüngere Entwicklung des türkischen Strafrechts (S. 140 ff.). Von jenen
„Problemfeldern“, die im neuen türkischen StGB ausdrücklichen Niederschlag gefunden haben, finden sich vier konkrete
Themen ausgewählt, von denen das am Ende eher knapp
erörterte der (missverständlich) sog. „Haftung für das Verhalten Dritter“ (S. 217 ff.) im Wesentlichen die sog. „Kaskaden-“
bzw. „Stufenhaftung“ nach dem türkischen Pressegesetz zum
Gegenstand hat. Bei den früher ebenfalls von jedwedem
„subjektiven Zusammenhang“ gelösten und daher einer rein
„objektiven Erfolgshaftung“ (S. 210 f.) nahe kommenden
Erfolgsqualifikationen (lediglich begrenzt durch die beiden
Erfordernisse der Willentlichkeit der Handlung sowie der
Kausalität im Sinne der Adäquanztheorie) ist nach dem neuen
türkischen StGB nunmehr die Vereinbarkeit mit dem Schuldprinzip im formellen Sinne hergestellt (durch Einfügung des
Fahrlässigkeitserfordernisses in Anlehnung an § 18 StGB, § 7
Abs. 2 öStGB); der z.T. drastische Strafrahmensprung lässt
den Autor aber an einer Vereinbarkeit mit dem materiellen
Schuldprinzip zweifeln und zur Strafbarkeitsbegrenzung
(mangels Anerkennung eines sog. „gefahrspezifischen Zusammenhangs“ in der Strafrechtsprechung der Türkei) beachtenswert die generelle Reduktion des strafbaren Bereichs auf
Fälle der „Leichtfertigkeit“ fordern (S. 214 ff., 216)9. Einen
der beiden Schwerpunkte der strafrechtsdogmatischen Betrachtungen bildet das „Koinzidenzprinzip“, das anlässlich
der in Art. 34 Abs. 2 tStGB enthaltenen, aus früherer Zeit
übernommenen Ausnahmeregelung bei einer Straftatbegehung nach „willentlich konsumiertem Alkohol oder Rausch7
Näher Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche
Konsequenzen der Hirnforschung, 2. Aufl. 2005.
8
Insoweit abw. von Roxin (Fn. 2), § 19 Rn. 9, 46, 49.
9
Für das deutsche Strafrecht auch Duttge (Fn. 3), § 18 StGB
Rn. 1 a.E. m.w.N.; vertiefend Radtke, in: Müller-Dietz u.a.
(Hrsg.), Festschrift für Heike Jung zum 65. Geburtstag, 2007,
S. 737.
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Duttge
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mittel“ in vergleichender Auseinandersetzung mit den zu
§ 20 dStGB vertretenen „Ausnahmemodellen“ zu interessanten Überlegungen führt (S. 173 ff.). In letzter Konsequenz
vermisst Isfen hierfür eine „befriedigende dogmatische Begründung“ (S. 182) und fordert, auch insoweit ausdrücklich
in Anlehnung an § 18 dStGB (S. 192, ohne freilich das Fahrlässigkeitserfordernis zu vertiefen), als Minimalerfordernis
die Voraussehbarkeit der späteren Rauschtat (S. 195 ff., 204
mit ausformuliertem Gesetzesvorschlag). Die Bewertung des
„Verbotsirrtums“ (S. 150 ff.) schließlich wird unter Verweis
auf die einschlägigen Arbeiten Nauckes hinsichtlich ihrer
grundlegenden staatstheoretischen Bedeutung gut beleuchtet
(S. 156 ff.); der Autor sieht im „Vermeidbarkeits-“ Erfordernis einen geeigneten Anknüpfungspunkt für die von ihm
präferierte „staatsbürgerfreundliche Anwendung“ der neuen,
mit § 17 S. 1 dStGB nahezu identischen Regelung des Art. 30
Abs. 4 tStGB (S. 161, 164). Im Gegensatz zu der von ihm
prognostizierten „strengen Auslegung in der Strafrechtspraxis“ (S. 165) soll die „Vermeidbarkeit“ durch eine „kriminalpolitisch orientierte Auslegung“ (im Sinne Roxins) auf der
Basis einer „individuellen Befähigung zur Normkenntnis“ als
empirischer Grundlage des Schuldvorwurfs angemessen
begrenzt werden (S. 171 f.). Man kann dem Verf. nur wünschen, dass seine durchdachten, sorgfältig begründeten und
überzeugend vorgetragenen Vorschläge alsbald die türkische
Strafrechtswissenschaft und -praxis befruchten mögen.
Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen
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Hettinger/Zopfs/Hillenkamp/Köhler/Rath/Streng/Wolter, Festschrift für Wilfried Küper
Laubenthal
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B uc hre ze ns io n
Michael Hettinger/Jan Zopfs/Thomas Hillenkamp/Michael
Köhler/Jürgen Rath/Franz Streng/Jürgen Wolter (Hrsg.),
Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, Verlag
C.F. Müller, Heidelberg 2007, XIV, 781 S., € 238,Wilfried Küper feierte am 1.5.2007 seinen 70. Geburtstag. 50
überaus namhafte Autorinnen und Autoren ehrten ihn mit
insgesamt 49 Beiträgen in der vorliegenden 781 Seiten umfassenden Festschrift. Die thematische Spannweite der Beiträge schließt dabei – dem umfangreichen Betätigungsfeld
des Jubilars entsprechend – ein breites Spektrum (straf-)
rechtswissenschaftlicher Fragestellungen ein.
Behandelt werden von den Verf. materiell-strafrechtliche
Problematiken des Allgemeinen Teils ebenso wie solche des
Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs. Auch Bereichen des
Nebenstrafrechts sind Darstellungen gewidmet. Zudem finden sich strafprozessuale Materien erörtert, ferner Ausführungen mit rechtsphilosophischem oder rechtshistorischem
Kontext sowie Themenstellungen, die einen internationalen
Bezug aufweisen. Die Mehrzahl der Abhandlungen orientiert
sich dabei an den Forschungsschwerpunkten des Jubilars,
indem die Verf. insbesondere von Küper favorisiert behandelte Aspekte aufgreifen. Zu diesen gehören etwa der Notstand
einschließlich der Pflichtenkollision, Fragen des Versuchs
und des Rücktritts, Materien des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs. Eine Gliederung der Beiträge in Abschnitte
nach Themen unterbleibt; vielmehr folgen diese geordnet
nach ihren Autoren in alphabetischer Reihenfolge.
Dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs entnimmt
Georg Freund beispielsweise Ausführungen zu den Definitionen von Vorsatz und Fahrlässigkeit, während Michael Hettinger Problematiken im Zusammenhang mit den Strafrahmen nach dem 6. Strafrechtsreformgesetz aus dem Jahr 1998
kritisch beleuchtet. Von Hans Joachim Hirsch dargestellt
finden sich zudem – unter anderem am Beispiel des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) – die sich bei einem defensiven
Notstand ohnehin nicht zu rettender Personen stellenden
Fragen. Ein weiterer von Kristian Kühl verfasster Beitrag
befasst sich mit Versuchsstrafbarkeit und Versuchsbeginn.
Hier erörtert der Autor die Phasen der Tatverwirklichung
beginnend mit dem Vorbereitungsstadium bis hin zur Beendigung einer Tat sowie Besonderheiten bei der Versuchsstrafbarkeit. Eine von Manfred Maiwald erstellte Abhandlung
befasst sich rechtsvergleichend mit Kausalitätsproblemen bei
einer Tatverwirklichung durch Unterlassen. Der Verf. zieht
dabei einen Vergleich zwischen der italienischen und der
deutschen Doktrin zum Unterlassungsdelikt, wobei er insbesondere auf die Entscheidung des Kassationsgerichtshofs im
„caso Franzese“ eingeht. Weitere Beiträge, etwa von Wolfgang Mitsch sind der viel diskutierten Problematik einer actio
libera in causa gewidmet oder dem Rücktritt nach § 24 StGB;
hier diskutiert Friedrich-Christian Schroeder umfassend die
Frage, inwieweit der Erfolgseintritt einem Rücktritt entgegensteht.
Des Weiteren befassen sich Bernd Schünemann mit den
besonderen persönlichen Merkmalen des § 28 StGB, Franz
Streng mit dem Rücktritt vom erfolgsqualifizierten Versuch.
Eingehender beleuchtet wird von Frank Zieschang ferner der
Begriff des „Hilfeleistens“ in § 27 StGB; dabei findet sich
unter anderem das Näheverhältnis zwischen der Begünstigung nach § 257 StGB und der Beihilfe i.S.d. § 27 StGB
detailliert untersucht.
Dem Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs zuzuordnen
bleiben Werner Beulkes Ausführungen zu „Pflichtenkollisionen“ im Rahmen des § 323c StGB. Der Autor erörtert hier
anhand eines Beispiels die Problematik des Aufeinandertreffens einer Garantenpflicht i.S.d. § 13 StGB und der allgemeinen Hilfspflicht nach § 323c StGB. Darlegungen zur Sachbeschädigung durch Veränderung des Erscheinungsbildes einer
Sache von Dieter Dölling sowie zum Urkundsbegriff von
Günther Jakobs bereichern die Festschrift. Eingegangen wird
von Rudolf Rengier überdies auf die wegweisende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 45, 259, welche für die Auslegung des Merkmals der Heimtücke von
elementarer Bedeutung war, sowie auf deren Einfluss auf die
daran anknüpfende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
Durch Ausführungen zur Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten als einem strafbegründenden Tatbestandsmerkmal im Umweltstrafrecht erschließt Hero Schall in der
Festschrift nebenstrafrechtliche Bereiche. Strafprozessuale
Erwägungen von Jürgen Wolter finden sich zur Wohnungsüberwachung, wobei dieser auf Einschränkungen der Menschenwürdegarantie eingeht und Überlegungen zu Beweisverwertungsverboten im Strafprozess anstellt. Schließlich
widmen sich einige Autoren rechtsphilosophisch nuancierten
Themenstellungen, wie etwa Karl Heinz Gössel, der Probleme einer rein normativen Begriffs- und Systembildung im
Strafrecht sowie damit einhergehend deren Verhältnis zum
Naturalismus in der Handlungslehre diskutiert. Des Weiteren
bereichern Joachim Hruschka das Werk mit Ausführungen zu
den Kriterien eines bürgerlichen Zustandes in Kants Rechtslehre und Claus Roxin mit Überlegungen zur Selbständigkeit
und Abhängigkeit des Strafrechts im Verhältnis zu Politik,
Philosophie, Moral und Religion. Internationalen Bezug
weisen die Beiträge von Heike Jung zu Frankreich und seinen
Strafrichtern am Beispiel des „Outreau-Verfahrens“ sowie Walter
Perron zu Perspektiven der europäischen Strafrechtsintegration auf.
Die Herausgeber haben zu Ehren des Jubilars ein bemerkenswertes Werk geschaffen, da die Reichweite der behandelten Themen dem Betätigungsfeld des Jubilars in besonderer Weise entspricht und sich damit eng an die Schwerpunkte
seines wissenschaftlichen Wirkens anlehnt. Eine solche Orientierung stellt bei Weitem keine Selbstverständlichkeit dar, Werke mit vergleichbarer Zielsetzung lassen sie nicht selten vermissen. In besonderer Weise wird durch die vorliegende
Festschrift gerade Wilfried Küper Hochachtung gezollt.
Prof. Dr. Klaus Laubenthal, Würzburg
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Pelz
Janke, Kompendium Wirtschaftskriminalität
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B uc hre ze ns io n
Günter Janke, Kompendium Wirtschaftskriminalität, Peter
Lang Verlagsgruppe, Frankfurt am Main 2008, 300 S.,
€ 39,80
Von den üblichen Überblicksdarstellungen zur Wirtschaftskriminalität, die i.d.R. mit einem mehr oder weniger umfassenden Ansatz einen Kurzabriss der im Unternehmensbereich
wichtigsten Straftatbestände geben, unterscheidet sich das
hier zu besprechende Werk deutlich. Janke ist kein Jurist,
sondern Betriebswirt und Professor für Rechnungswesen an
der Hochschule Zwickau. So verwundert es nicht, dass Janke
keine juristisch-dogmatischen Ausführungen machen will,
sondern Wirtschaftskriminalität als empirischen Untersuchungsgegenstand betrachtet und daraus Folgerungen für die
Unternehmensführung ableitet.
Ausgangspunkt seiner Untersuchungen ist die Feststellung, dass Unternehmen in zweierlei Hinsicht Opfer von
Wirtschaftskriminalität werden können, nämlich indem Straftaten aus dem Unternehmen heraus oder in deren Namen
begangen werden oder indem Unternehmen Ziel von Straftaten Dritter werden und dadurch finanziellen oder anderen
Schaden erleiden. Gegen beide Angriffsrichtungen müssen
sich Unternehmen wappnen.
Ausgehend von den tatsächlichen Bedrohungen, die sich
für ein Unternehmen durch wirtschaftskriminelles Handeln
ergeben, nimmt Janke eine Systematisierung von Wirtschaftsstraftaten vor. Für alle besprochenen Arten von Straftaten verwendet Janke im Wesentlichen dieselbe Gliederung.
Er stellt typische wirtschaftskriminelle Angriffe auf Unternehmen dar, erläutert diese anhand von echten Fällen, fasst
charakteristische Merkmale zusammen und leitet daraus ab,
welche Prophylaxe und Gegenmaßnahmen ein Unternehmen
entwickeln kann (und muss), um sich vor derartigen Gefahren
zu schützen. Dabei spannt Janke einen weiten Bogen, der
sich von Bilanzdelikten über Insolvenzdelikte, Kreditbetrug,
Anlageschwindel, Umweltdelikte, Korruption bis hin zu
Betrug, Untreue und Unterschlagung erstreckt. Ein besonderes Kapitel ist neuen Formen der Wirtschaftskriminalität,
nämlich Computerkriminalität und Angriffe auf die ITSicherheit sowie Wirtschafts- und Computerspionage, gewidmet.
Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, auf alle
Erscheinungsformen von Wirtschaftskriminalität, die Janke
beschrieben hat, im Einzelnen einzugehen, so dass hier nur
exemplarisch Bilanzdelikte und Betrug/Untreue durch die
Unternehmensführung und Mitarbeiter vorgestellt werden
sollen.
Zunächst legt Janke kurz dar, was unter Bilanzdelikten zu
verstehen ist und legt dar, dass nicht jede Bilanzkosmetik
(„windowdressing“) eine strafbare Bilanzmanipulation sein
muss (S. 21 ff.). Anhand exemplarischer Skandale der letzten
Jahrzehnte, Enron, WorldCom, Parmalat, Flowtex und Neuer
Markt stellt er typische Bilanzstraftaten dar. Bei der Entwicklung von Prophylaxe- und Gegenmaßnahmen skizziert Janke
zunächst die unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die Aufsichtsrat, interner Revision und Ab-
schlussprüfer zukommen (S. 54 ff.), ehe er einen Indizienkatalog entwickelt, der bei der Prüfung von Bilanzen und Bilanzpositionen die Entdeckung krimineller Handlungen erleichtern soll (S. 62 ff.).
Im Bereich des Top-Management-Fraud führt Janke zunächst in die Problemstellung ein und stellt typische Anreizsituationen dar. Anschließend zählt er eine große Zahl von
Symptomen auf, die zu Fraud einladen oder solchen erleichtern (S. 176 f.). Ebenso stellt er bei der Mitarbeiterkriminalität zunächst Erkenntnisse verschiedener Untersuchungen und
Beispielsfälle vor (S. 178 ff.). Im Anschluss hieran berichtet
er, welche Schwachstellen in einem Unternehmen Mitarbeiterkriminalität erleichtern (S. 182), bevor er verschiedene red
flags für Straftaten in den Bereichen Buchhaltung, Einkauf,
Vertrieb oder Personalwesen auflistet (S. 185 ff.).
Breiten Raum nimmt die Darstellung zu neuartigen Bedrohungen durch Hacker, Viren und andere Formen von
Datenausspähung ein. Damit wird der Bedeutung und der
Gefahr, die durch IT-Kriminalität ausgeht, Rechnung getragen. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass viele Unternehmen diese Gefahren völlig unterschätzen und kaum ein
Gebiet so raschen und sich ändernden Angriffsformen und
-richtungen unterworfen ist, wie der IT-Bereich. Janke stellt
zunächst die wesentlichen Angriffsrichtungen gegen ITSysteme und die dabei verwendeten Mittel und Werkzeuge
(S. 207 ff.) sowie die in der Praxis beobachteten Hauptbegehungsweisen von IT-Angriffen dar (S. 214 ff.). Dann gibt er
eine Vielzahl wichtiger und nützlicher Hinweise, wie Unternehmen ihre durch bewusste Nutzung und Vermeidung gefahrträchtiger Praktiken ihre IT-Architektur schützen und ein vernünftiges IT-Sicherheitskonzept erarbeiten können (S. 253 ff.).
Das „Kompendium Wirtschaftskriminalität“ ist zwar nicht
primär an Juristen und erst recht nicht an Strafrechtler gerichtet. Wer sich allerdings mit Präventionsberatung, Compliance
oder Sicherheitskonzepten beschäftigt, wird in diesem Werk
vielfältige Anregungen und Hinweise finden. Wegen der
Praxisnähe des Werkes ist dieses für die Konzipierung und
Umsetzung von Maßnahmen sehr hilfreich und nützlich.
Rechtsanwalt Dr. Christian Pelz, Fachanwalt für Strafrecht, Fachanwalt für Steuerrecht, München
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Nestler
Franke/Wienroeder, Betäubungsmittelgesetz
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B uc hre ze ns io n
Ulrich Franke/Karl Wienroeder (Hrsg.), Betäubungsmittelgesetz (BtMG), C.F. Müller Verlag, 3. Aufl., Heidelberg
2008, XX, 710 S., € 75,Hohes Niveau im Kompakt-Format: Nunmehr in der dritten
Auflage erschienen ist der Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz von Ulrich Franke und Karl Wienroeder. Mag das
Werk im äußeren Umfang gegenüber der Vorauflage reduziert worden sein, so gilt dies keineswegs für seinen Inhalt
sowie dessen Qualität. Überzeugend strukturiert liefert er
einen umfassenden Überblick zu den wesentlichen Problemen des Betäubungsmittelrechts, beantwortet dem Leser aber
ebenso ihn speziell interessierende Fragen präzise.
Die Verf. haben dabei in die neue dritte Auflage die umfangreiche jüngere Rechtsprechung ebenso eingearbeitet wie
Änderungen des Betäubungsmittelgesetzes selbst. Besondere
Beachtung findet etwa die Entscheidung des Großen Senats
vom 26.10.2005 (BGHSt 50, 252), die den regelmäßig gegen
die (weite) Auslegung des Merkmals des Handeltreibens vorgebrachten Bedenken eine Absage erteilte. Die Verf. schließen sich der Entscheidung an, wobei sie die Abgrenzung
zwischen Täterschaft und Teilnahme sowie die diesbezüglichen Ausführungen des Großen Senats dem Konzept der
Kommentierung von § 29 BtMG entsprechend in den Focus
ihrer Ausführungen stellen.
Der Kommentar gliedert sich in zwei Teile: Der von
Franke und Wienroeder verfasste Teil I behandelt das Betäubungsmittelgesetz; Teil II wurde von Wienroeder erstellt und
widmet sich dem Strafprozessrecht unter dem besonderen
Blickwinkel der Betäubungsmittelkriminalität. Der in den
Vorauflagen vorhandene Teil III, welcher Ausführungen zur
Strafzumessung enthielt, ist jetzt in die Vorbemerkung zu
§§ 29 ff. BtMG eingearbeitet, was die Arbeit mit den Erläuterungen – der Intention der Autoren entsprechend – erheblich
erleichtert. Im Anhang finden sich die Anlagen I bis III zum
Betäubungsmittelgesetz, die Betäubungsmittelverschreibungsverordnung sowie (auszugsweise) das Arzneimittelgetz, neben
weiteren für die Materie relevanten Regelungswerken. Den
mit Fragen des Betäubungsmittelrechts Befassten gewährleisten Franke/Wienroeder damit eine umfassende sowie genaue
und gründliche Orientierung über das Gebiet des Betäubungsmittelrechts.
In Teil I werden die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes einer Erläuterung unterzogen, die vor allem durch
ihre klare Schwerpunktsetzung auf das Betäubungsmittelstrafrecht besticht. So legen Franke/Wienroeder bei der
Kommentierung das Hauptaugenmerk auf die §§ 29 ff.
BtMG, wobei nicht nur der besonders umfangreichen Kommentierung des § 29 BtMG eine aufschlussreiche Übersicht
vorangestellt ist. Besonders begrüßenswert erscheint, dass die
Autoren hier wesentliche Fragen des Allgemeinen Teils des
StGB gelungen in die Darstellung einbinden. So widmet der
Kommentar im Rahmen der Erläuterungen zu § 29 BtMG
jedem Merkmal einen eigenen Abschnitt über die Problematik um Täterschaft und Teilnahme sowie den Konkurrenzfragen. Hervorzuheben bleibt überdies, wie Franke/Wienroeder
dem oftmals Staatsgrenzen überschreitenden Charakter von
Betäubungsmittelkriminalität Rechnung tragen, indem sie
Fragen des Strafanwendungsrechts in der Kommentierung
aufgreifen. Ausführlicher eingegangen wird zudem auf das
Merkmal „nicht geringe Menge“ und die damit verbundenen
(sehr praxisrelevanten) Grenzwerte im Zusammenhang mit
§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG.
Teil II des Werkes behandelt für das Betäubungsmittelstrafrecht relevante Aspekte des Strafprozessrechts. Hierbei
geht Wienroeder u.a. auf die Regelungen der §§ 110a-110e
StPO ein, wodurch die Darstellung etwa der enormen Bedeutung des Einsatzes verdeckter Ermittler in Betäubungsmittelstrafsachen gerecht wird. Ein eigener Abschnitt ist dem Einsatz von V-Leuten gewidmet. Im Feld des Betäubungsmittelstrafrechts kommt der Bemühung dieser Personen, insbesondere in Funktion eines sog. Lockspitzels oder agent provocateurs, aufgrund des überproportionalen Dunkelfelds größte
Relevanz zu. Umso verdienstlicher erscheint es, wenn der
Autor 35 Randnummern in der Kommentierung ausschließlich dieser Ermittlungsmethode widmet.
Fazit: Den Autoren gelingt es auch in der dritten Auflage
des Kommentars, ohne durch zusammenhanglose Detailinformationen zu verwirren, die wesentlichen Problematiken
des Betäubungsmittel(straf)rechts darzustellen. Zu Einzelfragen, deren Behandlung mit Tiefgang den Rahmen des Werkes sprengen würde, finden sich die nötigen Nachweise auf
jeweils einschlägige Rechtsprechung und Literatur. Der
Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz von Franke/Wienroeder
ist somit eine gute Wahl für den mit Fragen des Betäubungsmittelrechts Befassten, um sich in der komplexen Materie
sowie der sehr differenzierten Rechtsprechung zu orientieren,
sich in das Rechtsgebiet einzuarbeiten oder weiterführende
Hinweise zu speziellen Detailfragen zu finden.
Wiss. Assistentin Dr. Nina Nestler, Würzburg
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ZIS 7/2009
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