Wenn Erinnerungen Geschichte werden

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Wenn Erinnerungen Geschichte werden
Wenn Erinnerungen Geschichte werden
Gedanken der Generation ’78 bis ’82 zur Wiedervereinigung
Von Katharina Guderian
B
ueenos Aires (AT) – Sie haben den Fall der Mauer miterlebt. Ihre Erinnerung an die Wiedervereinigung ist aber oft nur
vage. Die ehemalige Trennung
spüren sie hingegen deutlich. Die
Generation der zwischen 1978
und 1982 geborenen Deutschen
erinnert sich an den Mauerfall und
blickt in die Zukunft.
„Ich saß beim Fall der Mauer
mit meinen Eltern vor dem heimischen Fernseher. Die Bilder aus
dem TV zeigten eine Mauer, die
niedergerissen wurde und sehr viele Leute, die sich in die Arme fielen. Ich war damals acht Jahre alt.
So wirklich verstanden habe ich
nicht, was da passiert“, erzählt
Nadine Köhler, 27, geboren in
Schweinfurt. Das ist die typische
Erinnerung der meisten, die zur
Zeit des Mauerfalls zwischen
sechs und elf Jahre alt waren und
im westlichen Teil Deutschlands
aufwuchsen. Fernsehprogramme,
Sondersendungen und ein vages
Gefühl, dass irgendetwas Wichtiges vor sich ging. Was? Keine
Ahnung. Wer nahe an der Grenze
aufwuchs, erlebte den Mauerfall
intensiver. „Als Berliner Junge hat
man die geteilte Stadt natürlich
mitbekommen. Mit meinen stolzen neun Jahren damals, weiß ich
noch wie meine Eltern mich mitgenommen haben und wir zum
Grenzübergang Check Point Charlie gefahren sind. Ein ungewohntes Gefühl, unbekannte Leute lagen sich in den Armen und haben
gefeiert, viel Polizei und überall
die stinkenden Trabis. Jeder Ostdeutsche hat ja damals als Begrüßungsgeschenk 100 Deutsche
Mark bekommen. Ich weiß noch,
in den Wochen danach konnte
man die Ostdeutschen immer daran erkennen, dass sie entweder
einen Videorecorder oder Fernseher unter dem Arm hatten und bei
der Pizzeria in der riesigen Schlange gerade auf ihre erste Pizza warteten. Ein komisches Gefühl,
wenn man merkt, dass solche Sachen nicht für jedermann zugänglich sind“, beschreibt André
Preussler, 28, geboren in Westberlin. Auch diese Generation der im
Osten Aufgewachsenen hat kaum
bewusste Erinnerungen, wenn
auch die Wiedervereinigung für
sie mehr Neues mit sich brachte.
„Die erste Erinnerung, die ich
wirklich präsent habe, ist der erste Besuch im Westen. Das wurde
dermaßen geplant und zelebriert,
dass man als Kind dachte man
fährt in ein paradiesisches Land.
Da meine Eltern beide berufstätig
waren, sind wir also nicht gleich
bei nächster Gelegenheit los, sondern erst an einem späteren Samstag. Ziel war das 25 Kilometer
entfernte Coburg und der Trabi
wurde bepackt als würden wir unterwegs übernachten. Meine Eltern hatten Essen, Kissen und Dekken mitgenommen, da sie gehört
hatten, dass man am Grenzübergang durchaus einige Stunden
wartend verbringen würde. Das
war auch der Grund warum wir
morgens um fünf Uhr in Hildburghausen losgefahren sind, man
wollte ja noch was vom Tag im
Westen haben. Wir kamen am
„Grenzübergang“ an, es stand ein
Auto vor uns, wir waren sofort
dran, wurden durchgewunken und
waren nach 45 Minuten in Coburg, morgens 5.45 Uhr. Unterwegs durften sich meine Eltern ihr
Begrüßungsgeld abholen. Von
dem Geld haben wir uns später am
Tag unter anderem mit Schokolade eingedeckt. Die Fahrten in den
Westen wurden relativ schnell
normal und meine Mutter und ich
sind oft zum einkaufen „rüber“ gefahren“, erinnert sich Rebekka
Huhn, 26, geboren in Neuhaus am
Rennsteig.
Sie alle waren noch zu klein um
große Hoffnungen und Wünsche
in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung zu hegen, politische Gedanken kamen nicht auf.
„Ich habe gedacht, dass wir bei
Olympia mehr Medaillen holen“,
erinnert sich Moritz Schildgen,
29, geboren in München. „Ich
habe gedacht, dass nun alle Ostdeutschen in den Westen kommen
und habe mir überlegt, wo die
denn alle wohnen wollen“, beschreibt Marion Hußlein, 27, geboren in Werneck.
Foto: Fabian May
Mauerrest - Relikt aus 40 Jahren Teilung.
Ihnen allen ist klar, dass der
Mauerfall für ihre Eltern eine wesentlich größere Bedeutung hatte,
als für sie. „Wir sind einfach zu
jung gewesen, als die Mauer gefallen ist, wir haben viele Widrigkeiten nicht mitbekommen“, so
André. „Für die jüngere Generation ist die Wiedervereinigung viel
leichter zu bewältigen, weil wir
damit aufgewachsen sind. Für die
Generation unserer Eltern ist das
schwieriger, weil sie den gesamten Kalten Krieg miterlebt haben“,
glaubt Nadine. “Das prägendere
Erleben der Ereignisse bleibt den
älteren Generationen, die die Teilung und den Mauerbau hautnah
miterlebt haben, vorbehalten. Jüngere Generationen können die
Umstände und Entwicklungen nur
aus Geschichtsbüchern und TV-
Mitschnitten nacherleben beziehungsweise versuchen nachzuempfinden“, stimmt Michael
Scharnagl, 30, geboren in Hanau,
zu.
Für die Kinder des Westens hat
sich scheinbar durch den Mauerfall nicht viel verändert. Außer
dem Solidaritätszuschlag, den die
mittlerweile Berufstätigen zahlen
müssen. Wer im Osten aufwuchs,
spürte Veränderungen im Alltag,
war aber noch jung und unbedarft
genug, um die neue Situation
schnell als normal zu empfinden.
„Für mich sind damals alltägliche
Rituale weggefallen. Zum Beispiel der Pioniersgruß oder der
morgendliche Appell auf dem
Schulhof. Außerdem weiß ich
noch, dass ich mit meiner Mutter
vor dem Kleiderschrank saß und
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meine Uniform und Pionierstuch
(auf das ich so stolz war) rausgesucht habe, weil ich es ja jetzt
nicht mehr brauchte. Mit der Zeit
hat man gemerkt, dass sportliche
Ereignisse weniger wurden und
der Nachmittagshort nicht mehr
Pflicht war. Ich weiß noch, dass
auf einmal eine Klassenkameradin
spontan mit ihren Eltern weggezogen ist, ohne Vorankündigung.
Ansonsten wurde es schnell Normalität, dass die Mauer gefallen
war“, erinnert sich Rebekka.
Auch wenn sie die Zusammenführung nicht bewusst erlebt haben, spüren sie die Schwierigkeiten, die sie mit sich brachte, deutlich. „Die aktuelle Situation sehe
ich als sehr schwierig an. Ein
Blick auf die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen und deren Verteilung auf West und Ost genügt da
schon“, meint Michael. „Fährt
man durch’s „Hinterland“, wo der
„Aufschwung“ noch lange nicht
angekommen ist, sieht man kleine Ortschaften mit heruntergekommenen Häusern, verwilderten
Gärten, ohne Bürgersteige, Schutthalden und Müllbergen. Man
spricht mit Menschen, die durch
den Mauerfall eher ins Straucheln
kamen als dass sie davon profitiert
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haben, die jetzt arbeitslos sind,
weil viele Betriebe, insbesondere
die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG),
dicht gemacht haben und es deren
Berufsbild gar nicht mehr gibt, die
zu alt sind, um umgeschult zu
werden und die zu DDR-Zeiten
durch das System aufgefangen
wurden, jetzt aber tief fallen. Damit wird es für den Osten auch
immer schwieriger, mit dem Westen gleichzuziehen. Die qualifizierten Arbeitskräfte gehen
schließlich weg“, beschreibt Martina Faust, 28, geboren Frankfurt
am Main, ihre Erfahrungen. „Aus
den versprochenen blühenden
Landschaften ist nichts geworden.
So wurden wegen der Wiedervereinigung große und durchaus dringend benötigte Infrastrukturmaßnahmen im Südwesten Deutschlands nicht oder nur eingeschränkt
durchgeführt. Der Wiederaufbau
des Ostens stellt nach wie vor eine
große finanzielle Belastung für
den Bund und die Länder dar. Ich
frage mich natürlich auch, warum
von meinem Verdienst der Soli abgezogen wird. Steuerliche Umverteilungen lösen nicht die Ursachen, für die heute nicht allzu rosige Situation im Osten. Nach der
Wiedervereinigung wurden
schwerwiegende politische und
wirtschaftliche Fehler gemacht.
Im Osten wurden das Lohnniveau
und die Lebenshaltungskosten viel
zu schnell an das Westniveau angepasst. Somit ging jeglicher komparativer Kostenvorteil verloren.
Unternehmen hatten keinen Nutzen mehr an Investitionen im
Osten im Vergleich zum Westen,
mit der Folge von Arbeitslosigkeit, schlechter Wirtschaftsentwicklung im Osten und der
„Flucht“ junger Menschen an Unis
im Westen“, analysiert Alexander
Volk, 28, geboren in Tübingen.
Eine echte Einheit gibt es ihrer
Meinung nach noch lange nicht.
„Nach außen hin sicher, aber es
gibt bestimmt viele Menschen –
egal aus welcher Region – die insgeheim oder auch lautstark der
anderen Seite die Schuld für die
eigene Lage zuschieben. Außerdem scheint jeder mehr oder weniger unter sich zu bleiben und die
Regionen vermischen sich noch
nicht allzu sehr“, meint Rebekka.
„Nach innen betrachtet ist der Integrationsprozess noch lange nicht
abgeschlossen. Die Diskrepanzen
sind einfach noch zu tief verankert. Erscheinungsweisen und Ge-
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gebenheiten sind da sehr vielfältig und nicht selten. Wie etwa das
Belächeln der Nummernschilder
auf der Autobahn oder der Kassiererin im Supermarkt mit ostdeutschem Dialekt“, so Michael.
„Ich denke es wird wohl noch einmal so lange dauern, bis das Ossi/Wessi-Denken verschwinden
kann und man nicht mehr in neue
und alte Bundesländer aufteilt“, so
Nadine. „Und solange man noch
von „Wessis“ und „Ossis“ spricht
- so liebevoll das auch gemeint
sein mag - gibt es in vielen Köpfen immer noch die Mauer“, beschreibt Martina. „Es wird noch
ein wenig dauern, bis die Wiedervereinigung auch in den Köpfen
der Menschen abgeschlossen ist,
aber von Generation zu Generation wird das Ost-/West-Denken
immer weniger ein Thema sein“,
glaubt Michael. André fügt hinzu:
„Noch spielen diese Gedanken bei
vielen, vielleicht aber nur bei denjenigen die davon direkt betroffen
waren, im Unterbewusstsein eine
Rolle. Doch mit der Zeit wird das
verschwinden, besonders wenn
die Leute nicht mehr leben, die es
live miterlebt haben. Dann wird
die Wiedervereinigung auch nur
ein Teil der Geschichte sein.“
Große Brüder
Zwölf Monate lebten und arbeiteten die deutschen Jugendlichen Jan-David und
Fabian in Sozialprojekten der Diözese Quilmes
Von Barbara Neumann
Q
uilmes (AT) - “24...67...90...”. “Linea!” Eduardo hat gewonnen!
Vier Karamellbonbons für die Reihe und acht für die ganze Karte.
Jan-David zählt noch einmal genau nach ob Eduardo auch nicht gemogelt hat. Dann überreicht er ihm den süßen Gewinn. Eduardo strahlt.
Noch eine Runde spielt Jan-David mit den älteren Herrschaften “Bingo” an diesem Nachmittag. Dann sind die Bonbons alle und es ist Zeit
für eine Siesta nach dem Mittagessen in der Essensausgabe (comedor)
der Caritas Quilmes. “Das gehörte immer zu meinen Lieblingsarbeiten
dort”, erinnert sich der 21-jährige Deutsche jetzt. Gemeinsam mit Fabian Günther verbrachte Jan-David Echterhoff ein freiwilliges soziales
Jahr in der Diözese Quilmes, Provinz Buenos Aires.
Zwischen Abitur und Studium wollten Fabian aus Bielefeld und JanDavid aus Verl bei Paderborn neue Erfahrungen machen, einmal für
andere da sein, ein fremdes Land kennen lernen. Dass es sich dabei
aber keineswegs um zwölf Monate Urlaub handelte, wurde jedem schnell
klar, der die beiden in ihrem derzeitigen Zuhause besuchte. Das teilten
sie sich mit 16 weiteren Jungen, die ebenfalls im Kinderheim der lokalen Organisation “Madre Teresa de Calcuta” wohnen. Sie kommen aus
zerrütteten Familien oder haben ein Leben auf der Straße hinter sich.
Ihnen sollten Jan-David und Fabian Begleiter und Vorbild sein. “ Ich
fühlte mich aber nicht wie einer der Erzieher”, beschreibt Fabian ihre
Rolle.” Wir waren eher so etwas wie große Brüder.” Er habe den besten
Zugang zu den Jungs bekommen, wenn er einfach mit ihnen Fußball
spielte oder auf dem Markt etwas einkaufen ging. “Gespräche mit einzelnen Kindern, wenn sie einem etwas von sich selbst erzählen”, das
seien die schönsten Erfahrungen, findet Jan-David.
Im Heim bewohnten die beiden Deutschen jeweils ein winziges Zimmer. Mit Fotos von Freunden, Bildern oder einem bunten Tuch an der
Wand machten sie sich aus den kargen Räumen ihr Zuhause. Dennoch
fehlten ihnen viele Dinge. “Ich habe so etwas wie ein Vereinsleben ver-
Fabian (vorne, rechts) und Jan-David (vorne, links) aus
Deutschland waren ein Jahr lang “große Brüder” für die Jungen
des Heims “Madre Teresa de Calcuta”in Quilmes.
misst”, sagt Fabian. “Ich fand es anstrengend, keinen richtigen Ort zu
haben, wohin ich Freunde einladen kann”, fügt Jan-David hinzu. Gefahr auf den Straßen, schlechte hygienische Situation, Spanisch lernen
– vieles hatten sich die beiden anders, manches leichter vorgestellt. Trotz
der Offenheit der Menschen sei es beispielsweise schwer gewesen, gute
Freunde zu finden. Viele Bekanntschaften blieben auf einer oberflächlichen Ebene. Da waren sich Jan-David und Fabian oft gegenseitig die
einzigen Ansprechpartner. “Und das obwohl wir uns am Anfang ziemlich auf die Nerven gegangen sind”, gibt Jan-David schmunzelnd zu.
Freitag, 3. Oktober 2008
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Auch Fabian grinst: ”Ja, wir sind sehr verschieden”, erklärt er. Die beiden wirken wie alte Freunde.
Außerhalb ihres Lebens im Jungenheim arbeiteten sie in unterschiedlichen lokalen Sozialprojekten mit, die auch überwiegend Teil der Caritas sind. Fabian beispielsweise gab in einer Essensausgabe mit angeschlossenem Gemeinschaftszentrum Computerunterricht für 8- bis 12jährige Jungen und Mädchen. Er arbeitete in einem Kindergarten mit
und beteiligte sich an Gruppenstunden in einem “gemischten” Heim
von Jungen und Mädchen. Jan-David gab neben seinen regelmäßigen
Besuchen in der Suppenküche (comedor) für Senioren, Unterricht für
Vorschulkinder in einer Ganztagsbetreuung und arbeitete im JugendFreizeitreff “Copa de leche” mit 8- bis 15-Jährigen.
Manchmal fragen sich die beiden Deutschen, warum so wenig junge
Argentinier bereit sind, in sozialen Organisationen vor Ort mitzuarbeiten. “Ich glaube, viele Jugendliche, zum Beispiel aus der Hauptstadt
wissen gar nicht, wie viele Hilfsprojekte es dort gibt”, erklärt sich Fabian die Tatsache, dass sie als freiwillige Helfer stets unter sich blieben.
“Dabei bräuchten die Kinder, mit denen wir gelebt haben, dringend
gute Vorbilder”, sagt Jan-David. Im Heim blieben die Jungen auch in
Hat auch niemand gemogelt? Jan-David
spielt mit den Senioren Bingo.
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ihrer Freizeit ausschließlich unter sich. Auf Besuche in der nur rund 50
Zugminuten entfernten Hauptstadt, das Erlernen eines Instruments oder
einer Sportart hätten die meisten gar keine Lust. Sie stritten sich lieber
um die wenigen PCs im Gemeinschaftsraum, an denen sie Computerspiele spielen können, schliefen oder “hingen einfach nur rum”, beschreiben die beiden Deutschen den Alltag im Heim. Die Jugendlichen
wirkten “abgestumpft” und “antriebslos”. “Obwohl sie es dort mit Sicherheit deutlich besser haben als in vielen staatlichen Heimen”, wie
Fabian betont, fehle es ihrer Ansicht nach vor allem an guten Erziehern, die Vorbilder sein und die jungen Erwachsenen motivieren können, ihr Leben kreativer zu gestalten. Etwas, was Jan-David und Fabian
kaum leisten konnten. Denn sich mit argentinischen Männern zu identifizieren fiele den Heimjungen fraglos wesentlich leichter. Zumal die
beiden Deutschen auch “nur” zwölf Monate mit ihnen gemeinsam verbrachten, wenig Zeit um nachhaltigen Einfluß auf die Erziehung auszuüben. Gleichzeitig war es viel Zeit um die Lebenswelt der Heimkinder kennenzulernen, die direkten Auswirkungen von Bildungs- und finanzieller Armut zu erleben und schließlich das eigene Weltbild neu zu
überdenken. “Ich habe dort so viel, vor allem mehr Toleranz gelernt”,
resümiert Fabian.
Auf die Erlebnisse in einer kulturell wie gesellschaftlich so fremden
Situation waren die beiden freiwilligen Sozialarbeiter gründlich vorbereitet worden. Insgesamt 3 Monate lang, über ein dreiviertel Jahr verteilt, nahmen sie an Seminaren der Steiler Missionare teil. Der katholischen Ordensgemeinschaft aus dem niederländischen Ort Steil gehört
der Leiter der Caritas Quilmes an. Er organisierte nun schon zum siebten Mal den einjährigen Aufenthalt für deutsche Jugendliche in der
Diözese Quilmes. Ziel dieses “freiwilligen sozialen Jahres”, das viele
junge Männer auch als ihren Zivildienst absolvieren, ist neben der Arbeit in den Hilfsprojekten auch die persönliche Weiterbildung der Jugendlichen. Während den Vorbereitungsseminaren in Wien, Freiburg
und Steil reflektierten sie daher einzeln oder in Gesprächsrunden mit
anderen über ihre Erwartungen an “ihre” zwölf Monate, über die Gründe, dem komfortablen deutschen Leben eine Zeit lang Lebewohl zu
sagen aber auch über Ängste und eventuelle Schwierigkeiten.
Wenn Jan-David dienstags vormittags den Bus zur Senioren-Suppenküche nahm und dort von seinen “Omis und Opis” strahlend begrüßt wurde, wußte er ganz genau, warum er sich für dieses Jahr in
Quilmes entschieden hat und auch, dass es sich für ihn gelohnt hat.
Kleine Taten können Großes bewirken
„Che Pibe“ – unerschütterlicher Idealismus im Elend von Buenos Aires
Von Katharina Guderian
B
uenos Aires (AT) - Kein Einhei-mischer würMaradona, bleibt ein Einzelfall. „Die Kinder sind
de hier jemals freiwillig einen Fuß hinsetunter solchen Umständen am verletzlichsten“, hat
zen. Villa Fiorito ist eines der gefährlichsten Arder 42-jährige Argentinier Sergio Val erkannt.
menviertel im Großraum Buenos Aires. Der AllMit unerschütterlichem Idealismus betreibt er,
tag dort wird bestimmt von Arbeitslosigkeit, Gegemeinsam mit seiner ein Jahr älteren Schwewalt, Drogen und Hunger. Eine blonde, auslänster Marcela, in Villa Fiorito seit über 20 Jahren
dische Frau fällt auf. Das Mobiltelefon in den
eine soziale Einrichtung für Kinder, die mehr will
BH gesteckt, die Kamera in die Unterhose, bloß
als sie mit Lebensmitteln zu versorgen. ‚Che
niemandem in die Augen sehen, nur sprechen,
Pibe’ will das Leben verändern.
wenn es unbedingt sein muss und dann nur ganz
Im von bunt bemalten Betonwänden umrahmleise. Möglichst unauffällig.
ten Hof vor dem ‚Casa del Niño’ spielen ein paar
Der Weg führt über die Hauptstraße Baradero
Jungs mit Karten. Sie springen sofort auf und
– die einzige geteerte Straße des Viertels. Die
rennen auf den Besuch zu, als er durch das MeAutos müssen dort großen herausgerissenen Teertallgittertor tritt. Der 20-jährige Ruben Stegbauklötzen ausweichen, die überall auf der zerklüfer aus Feudenheim bei Mannheim, einer der zwei
teten Straßendecke liegen. Die anderen Straßen
Deutschen, die seit einem Jahr Sozialdienst bei
ähneln ausgespülten Erdrinnen. Auf ihnen ste‚Che Pibe’ machen, wird laut jubelnd begrüßt.
hen große Pfützen in denen Abfall schwimmt.
Er und die zwei Mädchen, die er mitgebracht hat,
Wenn der nahe gelegene Fluss über die Ufer tritt,
werden mit Fragen gelöchert. „Sind in Deutschist das ganze Viertel überschwemmt. Nicht einland alle blond? Sind deine Augen echt, oder
mal die öffentlichen Busse können dann noch
trägst du Kontaktlinsen? Ist eine davon deine
fahren. Die Häuser sind zerfallen oder nur halb
Freundin?“
fertig und haben meist Gitter an den Fenstern.
Im ersten Stock in einem Klassenzimmer mit
Früh übt sich, wer später ein
Eine Familie mit vier Personen muss im
großer Tafel malen ein paar Kinder konzentriert
Fußballstar werden will.
Durchschnitt mit 600 Pesos pro Monat auskommit Buntstiften in ihre Hefte. Sie haben gerade
men. Wer hier aufwächst hat wenig Perspektiven. Die mehrfach ver- von der Betreuerin eine Geschichte über den ehemaligen Präsidenten
filmte Erfolgsgeschichte des bekanntesten Sohnes des Viertels, Diego
Domingo Sarmiento gehört und lassen jetzt ihrer Kreativität auf dem
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Papier freien Lauf. Nur wenn Fotos gemacht werden, können sie einfach nicht mehr still sitzen, sondern werfen sich sofort aufgedreht in
Pose. Danach schlagen sie sich fast darum, wer die Fotos zuerst anschauen darf. Eine Digitalkamera sehen sie nicht oft. In die ‚Casa del
Niño’ gehen Kinder von fünf bis 14 Jahren, entweder vormittags oder
nachmittags. Je nachdem, wann sie die Schule besuchen. Denn um zu
‚Che Pibe’ gehen zu dürfen, muss, wer im Schulalter ist, auch in die
Schule gehen. Das ist Grundvoraussetzung. In der ‚Casa del Niño’ bekommen sie Nachhilfe, spielerisch wird gelernt und sich bei Freizeitaktivitäten wie Fußball oder Puppenspielen ausgetobt.
Ein Angebot für
Eltern und Kinder
Der „Jardin de Infantes“, ein paar Straßenblöcke weiter, ist die Einrichtung für die ganz Kleinen von 45 Tagen bis fünf Jahren. „Wir bereiten sie hier auf die Schule vor und bringen ihnen Sozialverhalten bei.
Das ist schon von klein auf ganz wichtig“, erklärt Fatima Nuñez, die
Leiterin des Hauses für die Kleinen. Die Eltern hätten das erkannt und
würden das Angebot von ‚Che Pibe’ – das vollständig kostenlos ist –
sehr zu schätzen wissen: „Sie bringen ihre Kinder nicht her, um sie
loszuwerden, sondern weil sie wissen, dass sie hier etwas lernen.“ Auch
die Eltern lernen etwas. „Die Mütter sind oft so jung, dass wir ihnen
erst beibringen ihr Kind zu waschen und zu füttern“, erzählt Fatima. Im
Gegenzug werde aber auch erwartet, dass sich die Eltern in der Organisation engagieren. Und die meisten machen das. „Sie kommen regelmäßig zu den Treffen und nehmen an unseren verschiedenen Aktionen
teil“, erkennt Fatima an.
Die verschiedenen Jahrgangsstufen im ‚Jardin de Infantes’ sind –
wie das in Argentinien üblich ist – in Farben aufgeteilt. Im Raum hinten rechts im Gebäude sitzen die Fünfjährigen mit den gelben Leibchen
im ‚Sala Amarilla’ und schreien laut stampfend ein Lied zum Abschied.
Im Flur warten schon ihre jungen Mütter, um sie abzuholen. Im ersten
Stock ist die Kinderkrippe. Hier bolzen die kleinen Maradonas mit den
Gummibällen, die ihnen an diesem Tag geschenkt wurden, während die
Betreuerin einen kleinen Jungen auf einer Matte auf dem Boden wikkelt. Hinter dem Gebäude des „Jardin de Infantes“ liegt der zugehörige
Fußballplatz, direkt an ihn grenzt ein Meer aus Wellblechdächern.
Filmkurs
statt Paco
Vor dem Gebäude für die Kleinen steht ein niedriges, schuppenähnliches Haus, in dem sich die Jugendlichen von 15 bis 19 Jahren treffen.
Anstatt auf der Straße rumzuhängen und sich mit Drogen und Schlägereien die Zeit zu vertreiben, nehmen sie im ‚Casa del Joven’ an verschiedenen kreativen und sportlichen Freizeitaktivitäten teil. Besonders
beliebt ist der Filmworkshop, für den ein Filmprofi auf freiwilliger Basis
jeden Donnerstag in die Villa kommt. Für ihren Kurzfilm ‚Solo’ erhielten sie sogar vom Erziehungsministerium von Buenos Aires 2006 einen Preis. Die gerahmte Auszeichnung hängt zwischen mit Büchern
durcheinander voll gestopften Regalen, Autoreifen und alten Möbeln
im großen Raum an der Wand.
Der 16-jährige, in dem Bezirk geborene, Walter Nogueira meint, er
habe großes Glück gehabt. Im Gegensatz zu seinen Altersgenossen ginge
es ihm super. Neben der Schule arbeitet er als Breakdance-Lehrer in
der nächsten großen Stadt Lanús und hat sogar vor zu studieren. Am
liebsten Chemie. Andere Kinder in seinem Alter ziehen nachts durch
die Straßen und sammeln Karton, Plastik und Glas aus dem Müll. Für
ein Kilo Plastik gibt es an den Recyclinghöfen 1,20 Pesos. Dafür müssen sie etwa 100 kleine Colaflaschen sammeln. Doch auch Walter kennt
die Probleme der Menschen aus den Villas gut. „Wer hier lebt, hat nicht
viel Selbstvertrauen. Und es ist schwer, überhaupt eine Arbeit zu bekommen, weil einem auch die Arbeitgeber nicht vertrauen“, erzählt er.
Drogen sind ein Problem, denn sie sind sehr leicht zu bekommen. Wer
ganz verzweifelt ist, raucht Paco, ein chemischer Stoff der bei der Kokainproduktion abfällt. Es ist billig – eine Menge für etwa 30 Pesos
reicht zwei Wochen. Doch Paco hinterlässt geistige Schäden.
Die Mädchen werden früh schwanger. Da Abtreibung illegal ist,
schlucken sie ein paar Tabletten gegen sauren Magen, dann ist das Problem gelöst. „Eigentlich sind diese Tabletten verschreibungspflichtig,
doch irgendwie kommen sie immer dran, wenn sie wollen“, weiß Walter. Oder sie bekommen die Kinder, obwohl sie selbst noch Kinder sind.
Drei der fünf Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren, die an diesem Tag
im ‚Casa del Joven’ sind,
haben schon einen Sohn
oder eine Tochter, eine von
ihnen ist schwanger. Rückhalt in den Familien ist selten. „Das ist eine Ignoranz,
die aus Armut entsteht“,
beschreibt Walter. Jeder
kümmert sich um sich
selbst. Niemand denkt an
die Zukunft, sondern nur
an den Moment. „’Che
Pipe’ gibt uns sozialen
Rückhalt, es hilft uns bei
den psychischen Problemen, ist eine Anlaufstelle
bei Ärger mit der Familie.
Und es hilft uns unsere
Rechte kennen zu lernen –
Rechte gegen soziale Diskriminierung und ganz
grundlegende Menschenrechte.“
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Ruben mit seinen “kleinen Brüdern”
im “Jardín de Infantes.
Beim Essen
fängt es an
An diesem Tag kochen die Jugendlichen gemeinsam. Das Essen ist
überhaupt ein wichtiger Bestandteil von ‚Che Pibe’, alle Häuser haben
eine Küche, und jedes Kind bekommt hier täglich eine Mahlzeit. „Ohne
‚Che Pibe’ würden die meisten Kindern nur einmal am Tag etwas zu
essen bekommen. Oft muss auch ein Glas Milch eine Mahlzeit ersetzen“, erzählt Ruben. Den Eltern hilft das enorm, denn sie können es
sich meist schlicht nicht leisten, ihre Kinder ausreichend zu ernähren.
Sergio selbst macht die Einkäufe im Großmarkt. Mit seinem grauen
Pickup fährt er auf der staubigen Straße vor und schleppt palettenweise
Eier, Obst, Brot und Gemüse ins Haus. Die Organisation finanziert sich
hauptsächlich durch Sachspenden und einem Zuschuss von der Regierung. Doch der reicht natürlich hinten und vorne nicht aus. Das Geld
wäre genug für 260 Kinder, insgesamt zählt ‚Che Pipe’ derzeit aber
etwa 350. „Wir müssen dann eben unsere Ressourcen optimieren. Billiger einkaufen, Spenden annehmen, die Mitarbeiter müssen bei ihrem
Gehalt zurückstecken“, erklärt Sergio pragmatisch. Trotzdem – neben
dem Erziehungsangebot ist die Nahrungsversorgung gleich wichtig. Da
werden keine Abstriche gemacht. Denn Sergio plant weiter: „Man
braucht etwas im Magen, um denken zu können.“
Politische
Bewegung
Nur auf den ersten Blick ist ‚Che Pibe’ ein normaler Kindergarten,
Kinderbetreuung und Jugendtreff mit Essensausgabe. Die Organisation will viel mehr als Sozialhilfe leisten, sie will politisch etwas bewegen. Überall an den Wänden hängen Plakate der Organisation ‚Movimiento Nacional de Chicos del Pueblo’, mit der sich ‚Che Pibe’ gemeinsam für die Kampagne ‚El hambre es un crimen’ stark macht. Es
werden Märsche und Demonstrationen organisiert, die auch schon mal
vor das Provinzrathaus in Lomas de Zamora führen, um für eine Asphaltierung der Straßen und die Schaffung einer Kanalisation zu demonstrieren. „Daraufhin hat die Regierung sogar versprochen etwas zu
unternehmen, aber in Argentinien dauert immer alles ein bisschen länger“, erinnert sich Ruben. Schon die Siebenjährigen kommen auf die
Märsche mit, oft wird gemeinsam mit dem großen Bus, den Maradona
der Organisation gespendet hat, zu den Demonstrationen gefahren.
Politik ist die zweite große Säule, auf der ‚Che Pipe’ aufgebaut ist.
Sergio handelt im Kleinen und denkt im Großen. Jedes Kind, das von
ihm eine Banane bekommt, und jedes Kind, das bei ‚Che Pibe’ ein Buch
aufschlägt, sieht er im großen politischen Rahmen. Es ist kaum möglich, sich mit ihm nur über den Aufbau der Stiftung zu unterhalten. Er
driftet sofort in weltpolitische Dimensionen ab. Auf die Frage, was die
Stiftung für die Kinder tut, antwortet er: „Am wichtigsten ist, dass sie
den Hunger im Land bekämpft, die Produktivität Argentiniens wieder
belebt – und ein Gesundheitssystem muss eingeführt werden.“ Die Privatisierung der Unternehmen und die Kommerzialisierung hätten den
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Ein Schokoriegel für alle
Großes Herz und groß Ziele: der Gründer Sergio.
produktiven Apparat des Landes zerstört. „Eigentlich produziert Argentinien vier Mal so viel Nahrungsmittel, wie seine Bevölkerung braucht.
Doch sie werden aus Profitgier exportiert, oder für Treibstoffe verwendet. Und das wenige, das übrig bleibt, verwalten wenige große Unternehmen aus fremden Ländern, die auch nur an Profit interessiert sind“,
erläutert er weiter. Sergio hätte sogar die umstrittenen, von der Regierung angestrebten Exportzölle gut geheißen. Denn so wären die Produzenten gezwungen gewesen, wieder mehr im Land zu verteilen. Zehn
Kinder sterben täglich alleine im Großraum Buenos Aires an Unterernährung. Dabei könnte es laut Sergio so einfach sein, dem ein Ende zu
bereiten: „Die Regierung hat derzeit 50 Milliarden Pesos Reserven, die
sie nur ansammelt, um noch mehr Reserven zu haben. Dabei müssten
sie nur vier Milliarden Pesos pro Jahr investieren, und niemand müsste
mehr hungern.“ Er glaubt fest daran, etwas verändern zu können. Während Sergio als junger Jurastudent in einem Gefängnis arbeitete, lernte
er viele, zum großen Teil noch sehr junge Männer aus Fiorito kennen.
Diese erzählten ihm ihre Geschichten und Sergio beschloss die Situation in dem Viertel mit der Gründung von ‚Che Pibe’ zu ändern. Seinen
Idealismus hat er sich über Jahrzehnte hinweg bewahrt. Auch wenn er
weiß, gegen welche festgefahrenen Machtgefüge er dabei ankämpft.
„Kann ich wirklich sagen, was ich denke?“ fragt er zaghaft, nachdem
das Tonbandgerät ausgeschaltet ist. „Der Kapitalismus ist der größte
Feind der Kinder. Dieses System zerstört die Erde und hat längst bewiesen, dass es sich gegen die Menschheit richtet“, fügt er rasch hinzu. Es
ist ihm wichtig, den Kindern, der nächsten Generation an Entscheidern,
seinen Idealismus und seinen Tatendrang mitzugeben. ‚Che Pibe’ heißt
so viel wie ‚Hey Junge’ – eine Aufforderung wie: Hey, los, du kannst
etwas unternehmen. Zu diesem Zweck lernen dort die Kinder ihre Rechte,
erkennen überhaupt erst in welcher Situation sie sich befinden und was
ihnen eigentlich zusteht. Und sie lernen, dass sie gemeinsam etwas bewirken können, anstatt alleine zu resignieren.
Auch Ruben hat in dem vergangenen Jahr viel gelernt. „Es hat meine Zukunft beeinflusst. Ich werde zum Beispiel nun nicht mehr das
studieren, mit dem ich später wohl am meisten Geld verdienen kann,
sondern das, worauf ich Lust habe“, stellt er fest. Er gehört bereits zur
vierten Generation an deutschen Freiwilligen, die immer zu zweit für
ein Jahr lang bei ‚Che Pibe’ mithelfen. Die mit den Kindern Fußball
spielen, ihnen Englischunterricht geben, mit ihnen auf Demonstrationen und zum Camping fahren und wie große Brüder für sie sind. (Mädchen haben sich zu dem Projekt bisher nicht getraut.) „Ich habe auch
gelernt zu teilen“, erzählt Ruben weiter. Denn die Gemeinschaft ist bei
‚Che Pibe’ grundlegend. Alle sind gleichwertig, alle sollen das Gleiche
bekommen. „Am Anfang war es für mich schon komisch, dass ich mir
bei Ausflügen nicht mal einen Schokoriegel kaufen konnte. Denn den
hätte ich dann mit allen teilen müssen, oder für alle einen kaufen“, erinnert sich Ruben. Die Kinder eignen sich den Gleichheitsgedanken, das
Zusammengehörigkeitsgefühl und den Tatendrang an und tragen sie weiter in ihr Leben außerhalb von ‚Che Pibe’. Die Arbeit der Organisation
trägt Früchte. Zum Beispiel hat die Gemeinde bereits angefragt, ob ‚Che
Pibe’ einen Plan von der Umwelt- und Sicherheitslage des Viertels erstellen könne. „Das ist perfekt für uns, denn die Kinder kennen jede
einzelne Straßenlaterne im Viertel, die nicht funktioniert“, sagt Ruben
anerkennend. Licht bedeutet Sicherheit auf den grauen Straßen von Villa
Fiorito. Und wenn der Gemeinderegierung einmal ganz genau vor die
Nase gehalten wird, mit welchen einfachen Maßnahmen sie das Leben
der gesamten Viertels verbessern könnte, hat sie kaum eine Ausrede
mehr, es nicht zu tun.
Für viele ist die “Casa del Joven” ein Familienersatz, so Walter.
Sonne, Krone und Sissis langer Schatten
Das Otto-Wulff-Gebäude aus der Kaiserzeit
Von Federico B. Kirbus
N icolás Mihanovich (1846 1929) war im kleinen Dorf
Doli nahe Ragusa (das heutige
Dubrovnik) in Dalmatien geboren,
die Heimat auch von Franz von
Suppè, seinerzeit zu ÖsterreichUngarn gehörend.
Mihanovich hatte es als Reeder
zu ungeheuren Reichtum gebracht, sein Unternehmen beschäftigte zeitweise 5000 Mitarbeiter und betrieb Dutzende von
Fluss- und Seeschiffen. Wegen
seines Ansehens war er 1899 zum
k.u.k. Ehrenkonsul in Argentinien ernannt worden, eine Auszeichnung, der er durch etwas Aussergewöhnliches gerecht werden
wollte: nämlich durch den Bau
eines monumentalen Repräsentativgebäudes, das durch eben seine Erhabenheit die Bedeutung des
Kaiser- und Königreiches unterstreichen sollte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
pulsierte die Stadt mit ihren Kontoren, Lagerbarracken, Fabriken
und dem Hafen noch weitgehend
südlich der Plaza de Mayo: in den
Stadtvierteln Monserrat, San Telmo, Barracas und La Boca del
Riachuelo. Hochhäuser in unserem Sinne gab es seinerzeit noch
keine. Die Kirchtürme waren die
am weitesten sichtbaren Wahrzeichen. Lediglich an der Paseo Colón Ecke Alsina erhob sich das später von Aerolíneas Argentinas benutzte Edificio de los Ferrocarriles Británicos, das Railway Building: 1910 konzipiert, 1914 in
Betrieb genommen, 16 Stock, weit
und breit das höchste Gebäude der
Altstadt. Und am entgegengesetzten Ende (Norden) der Stadt das
1909 von Tornquist fertiggestellte Plaza Hotel, ein Doppelblock,
allerdings nur neun Stockwerke
hoch.
Doch Konsul Mihanovich
wollte höher hinaus. An der Belgrano (damals noch Strasse, erst
ab 1948 Avenida) Ecke Perú fand
man ein geeignetes Baulos für das
Vorhaben, 20 mal 30 spanische
Varas.
Freitag, 3. Oktober 2008
Mitbesitzer der Parzelle und eigentlicher Auftraggeber war Otto
Wulff, ein durch Holzschlagbetriebe (Obrajes) im Chaco und
dann im benachbarten Uruguay zu
Wohlstand gelangter deutscher
Einwanderer und mit Mihanovich
sowohl befreundet als auch geschäftlich verbunden. Die „Barraca Otto Wulff“ war in Colonia del
Sacramento bedeutsam, und dort
hatte der Mann auch ein grosses
Stück Land, wo es heute noch den
Parque Otto Wulff gibt.
Während Mihanovich also die
Gallionsfigur des Vorhabens blieb,
war Otto Wulff der eigentliche
Bauherr dessen, was in Architekturzirkeln bei uns noch heute als
„Torre Otto Wulff“ bekannt ist.
Gute bzw. bekannte Architekten waren allerdings zu dem Zeitpunkt rar, weil allerorten gefragt
und beschäftigt, also die Palanti,
Tamburini, Le Monnier, Christophersen, Altgelt oder Torres Armengol. Der Bauherr griff daher
kurzentschlossen auf einen Quereinsteiger zurück, nämlich auf den
dänischen Architekten Morten F.
Rönnow, der in Buenos Aires ansonsten nur für die Dänische Kirche (Carlos Calvo 257) verantwortlich zeichnet.
Den Bau übernahm die Firma
Dirks und Dates. Im Jahr 1912
ARGENTINISCHES TAGEBLATT
stand der Entwurf, nur zwei Jahre
später war die Konstruktion fertig.
Ein in seiner Art einmaliges
Gebäude, heute zwar geschwärzt
vom Rauch und Ruß der Zeit, aber
absolut eklektisch, Destillat von
Jugendstil, Art Nouveau, Modern
Style oder was immer man um die
vorige Jahrhundertwende darunter
verstand. Mit knapp 60 Metern
sollte das Otto-Wulff-Gebäude der
für viele Jahre noch höchste Bauklotz von Buenos Aires bleiben.
Rönnow baute in das von (sehr
selten!) zwei Kuppeln getoppte
Eckhaus alles hinein, was man seinerzeit an Dekoration schick fand.
Die Hauptfassade etwa wird von
acht Atlanten getragen, nicht von
Steinmetzen ziseliert, wie damals
üblich, sondern aus einer Zementmischung modelliert. Jede Figur
stellt den Vertreter eines Berufsstandes dar, der mit der Verwirklichung des Gebäudes zu tun hatte: Schmid, Zimmermann, Maurer,
Bildhauer usw., an der Eckfassade der Architekt und der Baumeister höchstpersönlich.
Andere Gesimsskulpturen stellen hingegen autochthone Tierfiguren dar: zwei flugbereite Kondore (jede ihrer Schwingen etwa
fünf Meter hoch!), Pinguine, Eulen, Waschbären, aber auch Ein-
Gesamtansicht des Otto-Wulff-Gebäudes, Belgrano Ecke Perú.
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Doppelkuppelaufbau des Gebäudes.
geborenenkaziken und Indianer.
Dazu 28 individuelle Balkons und
ein Rundumgang mit Balustrade
– eine ungeheure Ornamentalik.
Wer von unten alles näher betrachten möchte, sollte wohl schon einen Feldstecher dabei haben.
Die Krönung des Bauwerks,
übrigens eines der ersten bei uns
aus Eisenbeton, sind die beiden
Kuppeln, die an sich die Depots
für das fliessende Wasser beinhalten. Die eine Kuppel trägt die Sonne und ist dem „guten“ Habsburger Kaiser Franz Josef I. gewidmet. Auf der zweiten ruht eine
Krone und ein Mond (noch bis vor
kurzem vorhanden), die Kaiserin
Elisabeth Amalie Eugenie, Prinzessin in Bayern, genannt Sissi,
zugeeignet ist.
Nur vier Jahre lang, von seiner
Eröffnung 1914 bis 1918, jenes
Jahr, das das Ende der Donaumonarchie bedeutete, funktionierte
hier die diplomatische Vertretung
des Kaiserreichs.
Doch auch das Gelände, auf
dem sich der gigantische Bau erhob, war schon reich an Geschichte. Hier befand sich nämlich die
Residenz des vorletzten Vizekönigs am Río de la Plata (18011804), Joaquín del Pino Sánchez
de Rojas Romero y Negrete. Dieses Haus versuchten die Briten bei
ihrer Invasion 1807 in Bue-nos
Aires, allerdings vergeblich, zu
stürmen und zu besetzen, obwohl
sie bis auf die Terrasse (Azotea)
vorgedrungen waren. Nach Del
Pinos Tod lebte hier seine Witwe,
weshalb das Anwesen im Volksmund die Bezeichnung Casa de la
Vieja Virreina erhielt.
Rönnow machte von der Casa
de la Virreina, bevor es abgerissen wurde, eine minutiöse Bestandsaufnahme nebst Detailplänen, die er der Architekturakademie zukommen liess.
Ein knappes Jahrhundert nach
seinem Entstehen ist das Gebäude Otto Wulff noch immer ein imposanter Anblick, weiterhin bewohnt, wiewohl eine Renovierung
erheischend.
Sechseckige Laternen
krönen die Kuppeln.
Freitag, 3. Oktober 2008
ARGENTINISCHES TAGEBLATT
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Das Heimatlied
Vom deutschen Radio in Argentinien
Von Diana Hörger
B
uenos Aires (AT) - “Hallo,
guten Morgen Deutschland!”
Wie jeden Sonntag um Punkt 10,
ist Tom Astors Hit in Claypole,
im Studio des kleinen Radiosenders im südlichen Vorort von
Buenos Aires, zwischen den
holzverkleideten Wänden und der
Blumen-Stofftapete zu hören.
Noch bis ins Zentrum der Millionenstadt kann man den Sunnyboy
mit dem Stetson-Hut und dem
Karohemd auf Radio Popular
empfangen. Der Moderator der
wöchentlichen deutschen Sendung “Treffpunkt Deutschland”,
Hans Dieter Mussing, trägt sein
Karohemd, anders als der Country-Sänger aus dem Sauerland, ordentlich gebügelt. Während der
letzten Takte des Liedes bereitet
er sich ein letztes Mal auf die
Sendung vor. Sorgfältig nimmt er
die Moderationstexte aus dem
schwarzen Aktenkoffer. Alle
Blätter sind sortiert und mit Heftklammern in verschiedenen Farben gekennzeichnet. Ein Exemplar bekommt der Techniker, der
“Radiooperador” Gustav Bauer,
eines der “Co-Moderator” und
Übersetzer Ricardo Kaiser. “Es
gibt zwei Möglichkeiten eine
Sendung zu gestalten”, erklärt
Mussing, “man kann reden wie
einem der Schnabel gewachsen
ist, oder zweitens, man ist vorbereitet.” Mussing bevorzugt eindeutig letztere Methode. Er ist davon überzeugt, dass eine korrekte deutsche Sprache zur Qualität
der Sendung beiträgt. “Immerhin”, so gibt der 71-Jährige zu
Bedenken, “hören uns auch einige Universitätsprofessoren.”
“Treffpunkt Deutschland” ist
nicht die einzige deutsche Radiosendung in Argentinien. Rund
zehn Programme auf unterschiedlichen Frequenzen gibt es allein
im Großraum Buenos Aires. Die
deutschsprachigen Sendungen
wie “Unsere Leute” oder “Fiesta
Alemana” sind allesamt “Fensterprogramme”, meist zweistündige
Enklaven, auf spanischsprachigen
Sendern. Viele von diesen Radioanstalten sind offiziell gar nicht
genehmigt. Mussing schmunzelt:
“Aber es ist hier wie mit Vielem
in Argentinien: Es gibt Dinge, die
existieren gar nicht und es gibt sie
trotzdem!”
Aquí Alemania
Hier Deutschland
Gisela Ranks Kommunalsender 88 FM ist die Ausnahme, die
die Regel bestätigt. Auf dem Flur
des Senders hängt, neben weiteren Urkunden, die offizielle Genehmigung in einem schmalen
schwarzen Rahmen. Im Jahr 1988
beantragte ihr Mann erfolgreich
die Lizenz und verhalf der winzigen Station in Vicente López im
Norden von Groß-Buenos Aires
so zu ihrem Namen und zu ihrer
Frequenz. Auch der Stil ihres
zweistündigen deutschen Programms “Aquí Alemania-Hier
Deutschland” setzt sich vom Konzept, wie es in “Treffpunkt
Deutschland” verfolgt wird, ab.
Von Mussings Moderationsphilosophie aus betrachtet, hat Rank
sich eindeutig für die erste der
beiden möglichen Varianten entschieden. Jedes Mal, kurz bevor
die rote “Aire“-Lampe im etwa
fünf Quadratmeter großen Studio
aufleuchtet, singt Jürgen von der
Lippe noch die ersten beiden Sätze seiner Morgenmuffel-Hymne:
“Guten Morgen liebe Sorgen” und
gibt dann das Wort ab an Gisela
Rank. “Eine Minute fehlt bis zehn
Uhr morgens. Falta un minuto
para las diez de la mañana.” Ganz
locker liest sie dann das Wetter
aus der Zeitung vor: “Ich glaube
es gibt noch mehr als 18 Grad
heute. Es ist eigentlich viel zu
warm für diese Jahreszeit.” Die
58-Jährige moderiert die Sendung
alleine. Einzig Verónica Zeller
sitzt am Schaltpult hinter der
Glasscheibe, die sie vom winzigen mit Teppichboden isolierten
Studio trennt. Auf Giselas Ansage hin spielt Verónica jetzt das
“Schlümpfelied” von Vater Abraham. Musik ist für die Moderatorin der Dreh- und Angelpunkt ihrer Sendung, die jeden Sonntag
zwischen 9.30 und 11 Uhr ausgestrahlt wird. Während die blauen
Winzlinge und ihr rauschebärtiger
Begleiter im Hintergrund von ihrem Herkunftsort singen, erzählt
die gebürtige Argentinierin von
den Anfängen ihrer Sendung.
“Wir hatten also die Musik, die
unsere Großeltern mitgebracht
hatten, aber wussten nichts von
neuen Sängern, neuen Gruppen.
Von moderner Musik kam hier
nichts an.” Ihre Verwandtschaft in
Deutschland war dann die Lösung. “Und dann hat der liebe On-
Dieter Mussing mit seinem Team im Studio.
kel Wolfgang Musik direkt aus
dem Sender aufgenommen und
mir dann auf Kassette mit der Post
geschickt”, lacht die fröhliche
Blondine. ”So habe ich dann angefangen.” Erst seit es das Internet gibt, ist vieles einfacher geworden, sagt sie. Seit vier Jahren
findet man “Aquí Alemania” auch
im Netz.
Treffpunkt
Deutschland
Hans Dieter Mussing ist mit
der neuen Technik ebenfalls bestens vertraut. Während der Sendung, ist der gelernte Maschinenbauer mehrmals damit beschäftigt, die synchrone Aufzeichnung
der Sendung zu kontrollieren. Das
Kabel zu seinem Laptop hat anscheinend einen Wackelkontakt.
Bei einem Klick auf das kleine
blaue Quadrat auf der Internetseite von “Treffpunkt Deutschland”,
sieht man, wie viele Menschen
weltweit den Onlinetauftritt der
Sendung besucht haben. Bald
werden es 34.000 sein. Die meisten, fast 70%, kommen aus Argentinien. Danach folgen
Deutschland und die USA. “Im
Schnitt haben wir 20 Einschaltungen pro Tag” sagt Mussing. “An
einem Sonntag können es schon
mal 60 sein.” Seine Sendung, die
seit 1996 vierstündig ist, wird im
Gegensatz zu Ranks Programm
über Mittelwelle gesendet und hat
daher eine größere Reichweite.
1994 kam der gebürtige Kieler
erstmals mit dem Radio in Argentinien in Berührung. Damals wurde er Teil der “Deutschen Stun-
de” in Quilmes, die von der Österreicherin Mizi Hammer bis zu ihrem Tod geleitet wurde.
Auch wenn deutschsprachiges
Radio in Argentinien Tradition
hat, einfacher macht es die Sache
dadurch nicht. Zwar kann “Treffpunkt Deutschland” sich mit der
Schirmherrschaft der deutschen
Botschaft schmücken, und einige
Hörer spenden ab und an, der
Großteil der anfallenden Arbeit
wird allerdings ehrenamtlich erledigt. So etwas wie Krankheitsvertretungen gibt es nicht. Deshalb wohl hat sich Mussing auch
an diesem Sonntag trotz Erkältung
ins Studio bemüht. Professionell
hustet er bis zum Ende der Ausstrahlung immer nur während der
Musikstücke zwischen den Moderationen. Er ärgert sich über Menschen, die diese Art von Einsatz
nicht zu schätzen wissen. Viel Anlass geben ihm seine Hörer jedoch
nicht dazu. Kaum hat das Programm begonnen, klingelt im Sender auch schon das Telefon. Teresa Frei nimmt heute die Anrufe
entgegen und notiert sie alle in einem kleinen Buch. Mausi Käfer
bedankt sich für die schöne Musik und lässt auch schön grüssen.
Viele der Zuhörer sind aktiv am
Vereinsleben der deutschsprachigen Gemeinschaft in Buenos Aires beteiligt. An sie ist das Programm von “Treffpunkt Deutschland” auch hauptsächlich gerichtet. Die Themen kreisen daher um
die Besprechung von Vereinsfesten, Geburtstagsgratulationen
und um die deutsche Geschichte.
In der heutigen Sendung wird das
Freitag, 3. Oktober 2008
ARGENTINISCHES TAGEBLATT
Jede Sendung hat ihren eigenen Charakter – Dieter Mussing...
Bundesland Sachsen musikalisch
beleuchtet. “Auf sechs Achsen”
geht es da mit Truck Stop quer
durch Sachsen bis hinauf zu den
sächsischen Bäumen auf denen,
laut den Jacob Sisters, angeblich
die schönen Mädchen wachsen.
Am Schluss steht dann natürlich
noch der alte Holzmichel vor der
Tür. „Wolle mer ihn reinlasse?“
Eine Live-Aufnahme der Randfichten. Die Stimmung steigt auch
im Studio merklich. Trotz der thematischen Gestaltung gibt es aber
Lieder, die in jeder Sendung gespielt werden. “Alte Kameraden
etwa, der Schneewalzer oder Patrona Bavaria sind beim Publikum
so beliebt, dass wir sie immer
spielen müssen”, bekundigt Mussing glaubhaft. Ricardo Bauer allerdings freut sich am meisten,
wenn der Moderator einen
Marsch ansagt. Dann steht der Argentinier mit den deutschen Vorfahren heftig dirigierend hinter
seinem Schaltpult.
Die Jugend
schläft noch
Gisela Ranks Musikauswahl
will sich von der, anderer deutschsprachiger Sendungen absetzen.
“Ich mische immer neue und alte
Lieder ins Programm” sagt Rank,
die seit 8 Jahren die Besitzerin des
Senders 88 FM ist. Wenn man sie
nach den aktuellen Bands in
Deutschland fragt, weiß sie gut
Bescheid: “Moderne Musik, ja,
Freundeskreis, Silbermond” gibt
sie an. “Aber von solcher Musik
suche ich sehr sorgfältig aus. Die
ganz verrückten spiele ich nicht.
Es ist ja Sonntagmorgen und die
Jugend schläft noch und die älteren Leute werden dann böse und
rufen an.” Auf dem quadratischen
Tisch mitten im Studio liegen deshalb CDs von Udo Lindenberg
und Karel Gott. Ziel ihrer Sendung sei es, die deutsche Kultur
und Sprache in Argentinien bekannt zu machen. Jede Ausstrahlung beginnt daher mit einem
Deutschkurs namens: “DeutschWarum nicht?”. Heute ist Kapitel
14 an der Reihe: “Das soll sehr
interessant sein”. Eine Kinderstimme erzählt von Mackie Messer und der Dreigroschenoper.
Seit 2007 arbeitet Rank auch mit
dem Goethe-Institut in Buenos
Aires zusammen. Der Leiter der
Sprachabteilung, Josef Bornhorst,
gestaltet seither Beiträge für die
8
... und Gisela Rank.
Sendung, die Moderatorin anschließen ins Spanische übersetzt.
“Wenn Goethe sprechen könnte”
heißt die Rubrik. Wenn Goethe
heute noch sprechen könnte, dann
würde er sich vermutlich darüber
wunder, dass seine Kultur und
Muttersprache auf einem anderen
Kontinent noch so gepflegt wird.
“Deutschtum” nennt Mussing diese Einheit, deren Erhalt er mit seiner Sendung bewirken möchte.
Andere, die behaupten “deutsche”
Radioprogramme zu sein aber die
deutsche Sprache nicht korrekt
beherrschen, findet er “lächerlich”. Wenn beispielsweise Weihnachtslieder an Ostern gespielt
werden oder Marlene Dietrichs
“Sag mir wo die Blumen sind” für
ein Frühlingslied gehalten wird.
Mussing kann da nur den Kopf
schütteln. Auch Gisela Ranks
Meinung von der deutschen Radiolandschaft in Argentinien ist
nicht nur eitel Sonnenschein:
“Jede deutsche Sendung hat ihren
eigenen Charakter. Oft bleiben die
Betreiber aber in ihrer Zeit. Es
wird alte Musik gespielt und man
leitet alte Brauchtümer weiter,
aber sie gehen nicht mit der Zeit.
Das ist aber etwas, das man tun
muss, damit man sich weiterentwickeln kann.”
Heimat ist
immer ein Ideal
Entwicklung versus Konservierung. Während Rank ihre Sendung
als “Brücke” zwischen Deutschland und Argentinien sieht, setzt
Mussing darauf, dass die deutsche
Gemeinschaft in Buenos Aires
nicht ausstirbt: “Hoffentlich geht
es bei uns weiter!” sagt er. Der
Moderator wünscht sich auch, das
ramponierte Image der Deutschen
nach dem Krieg, durch “Treffpunkt Deutschland” wieder etwas
“aufpolieren” zu können. Auch
wenn ihm bewusst ist, dass die
Bilder, die die Sendung erzeugt,
durchaus “idealisierend und veraltet” sind. “Manche Deutschstämmigen haben Ansichten von
Deutschland, die zu Kaiser Wilhelms Zeiten stehen geblieben
sind”, sagt Mussing nachsichtig.
Er selbst kennt Deutschland ja persönlich. Er besucht seine Schwester dort in regelmäßigen Abständen seit er 1963 mit dem Schiff
nach Buenos Aires kam. Auf der
Überfahrt lernte er auch seinen ersten spanischen Satz: “Para mi no-
ARGENTINISCHES TAGEBLATT
Freitag, 3. Oktober 2008
via.” Eigentlich sollte er nur so
lange bleiben bis er die Sprache
richtig beherrscht. Heute ist er
immer noch da. “Mein ganzes Studium hat der deutsche Staat bezahlt”, sagt Mussing. Die deutsche
Radiosendung ist sein Weg, sich
dafür zu bedanken. Der Dank an
eine Heimat, die offensichtlich
ihre Charakterzüge im selben
Maße zum Positiven verändert, indem man sich von ihr entfernt.
Von Argentinien aus wirkt die
Bundesrepublik scheinbar immer
friedlich, schön und liebenswert.
“Er ist ohne weiteres übertrieben”,
sagt Mussing zum PostkartenBlick auf Deutschland, “aber es ist
schon gut, wenn man im Ausland
die Heimat idealisiert.” Die Heimat an sich ist immer ein Ideal,
sonst wäre sie wohl nicht die Heimat. Manche unschönen Aspekte
werden von der Wahrnehmung
wohlweislich ausgesperrt. Genauso wie der Holzmichel besser
draußen vor der Tür bleibt. Am
Ende ist er gar nicht so nett, wenn
man ihn erstmal am Kaffeetisch
sitzen hat. So bleibt das deutschsprachige Radio in Argentinien
meist unter sich, in Argentinien
eben.
Gisela Rank und Hans Dieter
Mussing werden auch weiterhin
dafür sorgen, dass die deutsche
Sprache hier in Buenos Aires nicht
vergessen wird. Und so lange es
Zuhörer gibt, wird Tom Astor je-
9
den Sonntagmorgen aufs Neue beteuern: “Hallo, guten Morgen
Deutschland... Ich lebe hier, weil
ich dich mag!”
Treffpunkt Deutschland,
Mittelwelle 660. Internet:
www.cibersoft.com.ar/radio/
Aquí Alemania - Hier
Deutschland, FM 88,7,
Nordzone, www.fm887.com.ar
Des Nazis Garten Eden
Über alternative Theorien zu Hitlers Selbstmord
Von Nils Ole Reuter
B
uenos Aires – Immer wieder ranken sich alternative, teils wilde
Theorien um den Tod Adolf Hitlers oder eher gesagt, sein Leben
nach dem Krieg. Viele Leute, vor allem unter seinen Anhängern, konnten oder wollten seinen Freitod im Führerbunker, begangen am 30. April
1945, nicht akzeptieren. Der “Führer” konnte sie doch nicht so einfach
im Stich gelassen haben. Hatte er ihnen doch den Endsieg inklusive
Weltherrschaft versprochen. Stattdessen vermuteten manche, dass er
aus dem von der Roten Armee belagerten Berlin geflohen wäre und
sich in irgendeinem entlegenen Winkel dieses Planeten versteckt gehalten hätte. Damit er zum rechten Zeitpunkt wie Phönix aus der Asche
auferstehen und seine Aufgabe vollenden könnte. Ob nun Australien,
die Antarktis oder Grönland - jeder noch so ausgefallene Ort wurde ins
Spiel gebracht. Andere vermuteten, er habe sich nach Chile oder Paraguay abgesetzt. Und es gibt Autoren, die behaupten, Hitler hätte Argentinien als Refugium gewählt; genauer gesagt, Patagonien. Abel Basti und Patrick Burnside sind zwei davon. Jedoch ist die Beweislage
sehr überschaubar und wenig überzeugend. In ihren Werken stützen sie
sich hauptsächlich auf Zeugenaussagen sowie vom FBI herausgegebene Dokumente, deren historischer Wert eher begrenzt ist. Doch zunächst
und vor allem begründen die Autoren ihre Thesen mit diversen Unklarheiten und Widersprüchen bezüglich des Selbstmordes von Adolf Hitler.
Zweifel am
Selbstmord Hitlers
Patrick Burnside stellt eingangs seines Buches El Escape de Hitler
die rhetorische Frage, wer denn hundertprozentig beweisen könne, dass
Adolf Hitler sich im Führerbunker selbst gerichtet habe. Antwort: natürlich niemand. Gegen die allgemeingültige Ansicht führt er unter anderen als Argument an, dass die Zeugenaussagen sich gegenseitig widersprächen und im Laufe der Jahre teilweise abgeändert worden wären. Außerdem wären die Leichen von Hitler und Eva Braun niemals
einwandfrei identifiziert worden. In der Tat gab es in den ersten Tagen
nach dem Tod einige Verwirrung darum, welcher Körper nun derjenige
Im Hotel Eden der Familie Eichhorn
soll Hitler auch gesehen worden sein.
Hitlers und der seiner Gattin war. Russische Quellen vom 10. Mai 1945
beziehen sich auf vier nicht eindeutig identifizierbare Leichen, die allesamt Hitler zugeordnet werden konnten. Überdies nähren sowjetische
Berichte über eine mögliche Flucht Hitlers so manch weiteren Zweifel.
Ende Mai 1945 äußerte der russische Diktator Josef Stalin dem USRepräsentanten Harry Hopkins gegenüber seine Ansicht, Hitler sei geflohen und verstecke sich irgendwo im Ausland. Später fügte er hinzu,
dass der “Führer” sich möglicherweise in Spanien oder Argentinien
aufhalte. Etwa zur selben Zeit, sprach der russische Berlin-Bezwinger
Marschall Georgi Schukow davon, dass Hitler im Flugzeug entkommen wäre.
In einem offiziellen russischen Dokument vom 5. Mai 1945 werden
zwar die halb verbrannten Leichen von einem Mann und einer Frau
erwähnt, der Name Hitlers in diesem Zusammenhang allerdings nicht.
Doch die allgemeine Verwirrung zu Kriegsende legte sich alsbald und
Hitlers Leiche wurde eindeutig anhand des Gebisses identifiziert und
zusammen mit dem Körper seiner Frau, deren Identität inzwischen ebenfalls festgestellt worden war, sowie den sterblichen Überresten zehn
weiterer Bunkerinsassen durch den KGB nach Magdeburg geschafft.
Dort wurden sie an geheimem Ort auf einem Kasernengelände vergraben. Als im Jahre 1970 dort Bauarbeiten anstanden, ließ der damalige
KGB-Chef Juri Andropow die Verstorbenen exhumieren, verbrennen
und die Asche in die Elbe streuen. Vielleicht war dies auch die Ursache
für den zeitweiligen Ruf als am meisten verschmutzter Fluss Europas.
Widersprüche und
Ungereimtheiten
Hitlers Fluchtvehikel? Das U-977 im Hafen von Mar del Plata.
Neben der Verwirrung um eine zweifelsfreie Identifikation der Leichen gibt es laut Burnside einige Widersprüche und Ungereimtheiten
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ARGENTINISCHES TAGEBLATT
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in Bezug auf die als Hitler und
Braun identifizierten Überreste. Die Körper seien gut zehn
Zentimeter zu klein und wiesen überdies mehrere Frakturen auf, deren Ursache sich
nicht erklären lasse. Außerdem fehlten diverse Körperteile, unter anderen auch ein
Hoden von Hitler, obwohl dieser doch nachweislich komplett bestückt gewesen wäre.
Ebenso für Verwunderung
sorgt bei Burnside der Zustand, in dem das Ehepaar Hitler aufgefunden wurde. Alle
anderen im Führerbunker entdeckten Leichen waren intakt
und damit eindeutig identifizierbar, nur die von Adolf Hitler und Eva Braun waren verkohlt und damit auch nicht so
einfach zu identifizieren. Wieso waren ausgerechnet der
prominenteste Insasse und
dessen Frau bis zur UnkenntNaziversammlung in Comodoro Rivadavia.
lichkeit verbrannt? Das riecht
doch förmlich nach Täuschung!
rechten Moment wie ein As aus dem Ärmel zu schütteln und den Sowjets
Wem das noch nicht reicht, der möge doch bitte die Widersprüche so den entscheidenden Schlag zu versetzen. Überdies begründet Basti
bezüglich der Identifizierung anhand des Gebisses registrieren. Diese diese hanebüchene These mit der ideologischen Nähe zwischen Naziwurde durch die drei Zahnärzte Hitlers vorgenommen, und zwar mit- deutschland und den rassistisch geprägten USA, insbesondere des ultels Röntgenaufnahmen seines Gebisses, deren Existenz mindestens trarechten Flügels. Als Beleg für die tiefen politischen Verbindungen
zweifelhaft sei. Misstrauen an dieser Version weckte eine Aussage vom der Vereinigten Staaten mit den Nationalsozialisten führt er die wirtkanadischen Professor für Zahnheilkunde an der Universität von Kali- schaftliche Aktivität amerikanischer Unternehmen in Deutschland an,
fornien, Ryder Saguenay. Der behauptete 1974 in einer Radiosendung, die umfangreicher sei als angenommen. Dazu ließe sich anmerken, dass
Hitlers gesamte Krankenakte, inklusive der Röntgenaufnahmen seines schon vor Hitlers Aufstieg zur Macht viele US-Unternehmen GeschäfGebisses, sei auf dessen Geheiß in einem Flugzeug von Berlin nach te in und mit Deutschland machten. Darüber hinaus sind die Sympathieinem unbekannten Ort verbracht worden. Daher existierten bloß aus en eines Prescott Bush, Großvater von George W. und finanzieller Undem Gedächtnis eines seiner Zahnärzte heraus erstellte Zeichnungen, terstützer der NSDAP, für den Faschismus hinreichend bekannt, reidie keinesfalls beweiskräftig genug seien, um Hitlers Leiche zweifels- chen als Beleg für eine Fluchthilfe und anschließende Vertuschungsakfrei zu identifizieren.
tion seitens der USA jedoch nicht aus.
Wer jetzt noch an den Selbstmord Hitlers glaubt, den müssten schließBurnside versteigt sich gar nicht erst in solche Theorien, seiner Meilich die mangelnden Übereinstimmungen späteren Revisionen einiger nung nach habe Hitler selbst und ohne Hilfe von außen die Planung für
Zeugenaussagen umstimmen. Diesbezüglich werden unter anderen die seine Flucht unternommen. Patagonien wurde schon länger als mögliAussagen vom ehemaligen Kammerdiener des Diktators, Heinz Linge, ches Refugium in Betracht gezogen und entsprechende Vorbereitungen
und von Otto Günsche, einem früheren Sturmbannführer der SS, her- für den Fall der Fälle waren längst getroffen worden. Da nun die Rote
angezogen. Beide gehörten zu den Entdeckern der prominenten Lei- Armee im Begriff stand, Berlin endgültig einzunehmen, blieb dem Nachen. 1950 hat Günsche noch ausgesagt, Hitler und Braun nebeneinan- ziführer als einziger Weg zur Rettung seiner Haut die Umsetzung des
der sitzend auf dem selben Sofa vorgefunden zu haben. Zehn Jahre
Notfallplans.
später hieß es dann, sie hätten in verschiedenen Sesseln gesessen. Linge hingegen behauptete, die beiden Leichen hätten an entgegengesetzDer Garten
ten Enden des Sofas gesessen. Bezüglich des Selbstmordes sagte LinEden in Córdoba
ge, Hitler hätte sich in die linke Schläfe geschossen. Später korrigierte
Eingangs des Buches erwähnt Burnside eine Begegnung mit dem
er sich allerdings und behauptete, es sei die rechte Schläfe gewesen. Südtiroler Geistlichen Cornelius Sicher, der ihn auf die Spuren Hitlers
Auf diese Weise stimmte seine Aussage dann auch mit der Günsches in Argentinien brachte. Als junger Pfarrer traf Sicher im Jahre 1918 auf
überein. Diese beiden Zeugnisse stehen allerdings im Gegensatz zu Wilhelm Canaris, den später berühmten Chef der “Abwehr”, der deutdenen des Historikertrios Trevor-Roper, Shirer und Bullock, die be- schen Auslandsspionage. Im Ersten Weltkrieg diente Canaris als Adhaupteten, Hitler habe sich in den Mund geschossen.
jutant auf der SMS Dresden. Der Kreuzer hatte zu Kriegsbeginn eine
Nachdem laut der Autoren die Mär vom Selbstmord Hitlers wider- abenteuerliche Flucht durch die Fjorde Chilenisch-Patagoniens unterlegt wäre, kommen wir nun zu der Frage, warum der Suizid überhaupt nommen, um der Rache englischer Kriegsschiffe für erlittene Verluste
vorgetäuscht, beziehungsweise dessen Flucht vertuscht wurde.
im asiatischen Pazifikraum zu entgehen. Nachdem die Position der
Dresden in einer abgelegenen Bucht im Süden Chiles an die Briten
Kampf gegen
verraten wurde, versenkte die Besatzung ihr Schiff lieber selbst und
Kommunisten
beantragte Asyl. Daraufhin wurden sie auf einer nahegelegenen Insel
Abel Basti behauptet in seinem unfassbar schlecht verfassten Buch interniert. Canaris ertrug diese Schmach nicht und floh zu Wasser und
Hitler en Argentina, die USA hätten Hitler zur Flucht verholfen. Der zu Pferde, überquerte die Anden und gelangte schließlich auf die arGrund? Im am Horizont heraufziehenden Konflikt mit den Kommuni- gentinische Seite Patagoniens. Die Schönheit der Landschaft überwälsten würde der Naziführer noch gebraucht werden. Eine Konfrontation tigte ihn und fortan ließ ihn dieses “Paradies” nicht mehr los. Als sich
würde sich wahrscheinlich auf deutschem Gebiet abspielen und einzig im Zweiten Weltkrieg mit dem misslungenen Russlandfeldzug das
und allein der Gröfaz wäre dazu in der Lage, die deutschen Truppen in Kriegsglück zu wenden begann, sollte er in eben jenem Paradies einen
Kampfbereitschaft zu versetzen, weshalb man ihn in der Hinterhand Garten Eden für Hitler bereiten, der diesem und einigen weiteren Topbehalten müsste. Also wird Hitler in Argentinien versteckt, um ihn im
nazis als Zufluchtsstätte dienen sollte. Unterstützt werden sollten sie
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ARGENTINISCHES TAGEBLATT
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von dort bereits ansässigen Deutschen.
Der Fall der Fälle wurde, wie bereits erwähnt, schon von langer Hand
vorbereitet. Bereits 1941 überwies Nazideutschland angeblich beträchtliche Summen an mehrere argentinische Zeitungen und Politiker. Darunter befanden sich Publikationen wie die Deutsche La Plata Zeitung
oder El Pampero y Clarinada und politisch einflussreiche Persönlichkeiten wie Juan Domingo Perón oder Eva Duarte. Auf diese Weise sollte das im Krieg bis fast zuletzt neutral gebliebene Argentinien bei der
Stange gehalten werden. In der Tat haben sich viele Nazigrößen zum
Kriegsende nach Patagonien abgesetzt und dort noch lange ihrem “Führer” gehuldigt.
Aus dem Führerbunker
nach Patagonien
Wie ist es Hitler gelungen, das belagerte Berlin unerkannt und –
beschadet zu verlassen? Den Nachforschungen Burnsides zufolge, wurde
Adolf Hitler gemeinsam mit seiner Frau Eva Braun mit einem kleinen
und wendigen Flugzeug aus Berlin ausgeflogen. Am Steuer der Ar 234
Blitz saß vermutlich die kampferprobte Pilotin Hanna Reitsch. Zweideutige Bemerkungen in ihrer letzten Biografie sollen darauf hinweisen. Allerdings könnten auch Hans Rudel oder Robert Ritter von Greim
die Maschine geflogen haben. Die Blitz eignete sich hervorragend zur
Flucht, da sie wenig Platz für Start und Landung brauchte, eine große
Reichweite besaß und bis zu 10.000 Meter Flughöhe erreichen konnte.
Überdies war sie für den Notfall mit Bomben bestückt. So konnte das
höchste Maß an Sicherheit für den prominenten Gast gewährleistet werden. Von Berlin aus ging es nach Kristiansand. Der südnorwegische
Hafen war im Gegensatz zu Kiel noch bis zum 7. Mai, also noch eine
Woche nach Hitlers Flucht, funktionstüchtig. Dort bestiegen Hitler, seine
Frau und noch einige weitere prominente Mitglieder des Regimes mehrere Unterseeboote und stachen in See. Von Kristiansand aus ging es
über den Skagerrak und die Nordsee hinaus auf den Atlantik. Bei etwa
40 Grad südlicher Breite trennte sich die Flotte und Hitler landete in
einem von zwei U-Booten im rionegrinischen Caleta de Los Loros. Mit
an Bord sollen seine Frau und sieben weitere Topnazis gewesen sein.
Das genaue Datum der Landung ist ungewiss. Laut Burnside spielte
sich die Ankunft der Flüchtlinge wohl im Juli 1945 ab. Von Los Loros
aus machte sich der Tross, nachdem die U-Boote versenkt worden waren, auf den Weg Richtung Bariloche. Auf einer dreißig Kilometer östlich von Bariloche gelegenen Estancia namens San Ramón, nahe des
Nahuel Huapi, soll Hitler eine Weile gelebt haben. Vermutlich wechselte er mehrmals seinen Wohnsitz. Denn angeblich hat er auch nahe
der chilenischen Grenze, beim Lago Buenos Aires oder dem Lago Blanco
gewohnt, sowie in La Angostura auf dem Landgut des Perón-Vertrauten Jorge Antonio. Später dann soll er auf einem Landgut seiner wichtigsten finanziellen Unterstützer, Walter und Ida Eichhorn, in der Nähe
von Córdoba gewohnt haben. Bis mindestens 1957 soll Hitler sich in
Argentinien aufgehalten haben. Später siedelte er dann nach Paraguay
über, wo er unter dem Schutz des Diktators Alfredo Stroessner gestanden haben soll. Hitlers Todesdatum ist unbekannt. Jedoch soll er nach
seinem tatsächlichen Ableben zunächst in Argentinien beerdigt und
später wieder exhumiert und an einen unbekannten Ort verbracht worden sein.
Fragwürdige
Zeugenaussagen
Sowohl Basti als auch Burnside führen als Beleg für ihre Thesen
diverse Zeugen an, die Hitlers Anwesenheit in Argentinien bestätigen
sollen. Darunter befinden sich ehemalige Krankenschwestern, Zimmerleute und Dienstmädchen, die alle dem “Führer” begegnet sein wollen.
In Caleta de Los Loros traf Basti auf einen früheren Piloten, der behauptet, vor der Küste könne man an Tagen mit besonders ausgeprägtem Niedrigwasser die beiden versenkten Unterseeboote ausmachen.
Eine Dame namens Brunislava Kitajgrodzki de Koscheck* behauptete
laut ihrer Tochter María, im Jahr 1945 eines der U-Boote bei der Ankunft beobachtet zu haben.
Kurz darauf hat eine Polin namens Brunilda, Nachname unbekannt,
den Naziführer angeblich in Las Plumas gesehen. Als eine schwarze
Limousine neben ihr hielt, habe sie ihn an der Stimme, dem Gesicht
und den Augen erkannt. Zwar trug er seinen berühmten Schnauzbart
nicht mehr, aber da er mit “Mein Führer” angesprochen worden wurde,
muss es sich zweifellos um ihn gehandelt haben.
Doppelgänger Hitlers - Alejandro Schickorrd.
Die italienischstämmige ehemalige Krankenschwester María Falcón
de Batinic hat ihren Kindern immer wieder eine Geschichte erzählt,
nach der Adolf Hitler an einem Tag des Jahres 1952 an ihrer Arbeitsstelle in Comodoro Rivadavia erschien. Dieser Ort ist bekannt als Zufluchtsstätte für viele (ehemalige) Nationalsozialisten. Er habe einer
Gruppe von drei Deutschen angehört, die eine sechsstündige Autofahrt
auf sich genommen hatten, um einen schwerverletzten arabischstämmigen Mann ins örtliche Krankenhaus zu bringen. Anscheinend kamen
sie aus der Nähe des Lago Buenos Aires oder des Lago Blanco im Grenzgebiet zu Chile. Als ein Mann mit kurzem, weißen Haar und ohne
Schnurrbart am Bett des durch einen Pistolenschuss Verwundeten erschien, habe sie Adolf Hitler sofort an seinen Gesichtszügen und der
Stimme wiedererkannt. Zwölf Jahre zuvor war sie ihm nämlich schon
einmal begegnet. Als sie Dienst in einem Feldlazarett der Deutschen in
Frankreich tat, stattete Hitler den Verletzten “Helden” des Frankreichfeldzuges einen Überraschungsbesuch ab. Besonders diese Zeugenaussage ist fragwürdig. Wie wahrscheinlich ist es, dass der bekanntlich
von der Parkinsonkrankheit gezeichnete ehemalige Diktator eine zwölfstündige Autofahrt auf sich nimmt, um einen verletzten Nachbarn obendrein noch nicht einmal deutscher Herkunft - persönlich ins Krankenhaus zu bringen?
Angeblich hat Hitler sich regelmäßig in Comodoro Rivadavia aufgehalten. Dort soll sich nach Aussage anderer Zeugen eine Bank befinden, auf der Hitler gelegentlich gesessen und verträumt gen Europa
geblickt habe.
Es gibt noch einen weiteren unter den vielen Zeugen, der hier erwähnt werden soll. Hernán Ancín arbeitete von 1956-57 als Zimmermann für den ehemaligen kroatischen Machthaber und Hitler-Vertrauten Ante Pavelic, der sich historisch verbürgt nach Kriegsende in Mar
del Plata niedergelassen hatte. Ancín berichtet von sechs Gelegenheiten, bei denen er Hitler zu Gesicht bekommen haben will. Er sei immer
mit seiner Frau erschienen und habe mit dem Ehepaar Pavelic gespeist.
Bei einer Gelegenheit sei Ancín von seinem Chef in dessen Arbeitszimmer gerufen und Hitler vorgestellt worden, den er als sehr höflich
und kultiviert beschreibt. Ganz im Gegensatz zum groben Pavelic, dem
es an Manieren gemangelt habe.
Glaubwürdigkeit
der Zeugen
Zeugen, die Hitler in Argentinien, aber auch in anderen Teilen der
Welt, gesehen haben wollen, gibt es viele. Solche Aussagen sind im-
Freitag, 3. Oktober 2008
ARGENTINISCHES TAGEBLATT
mer mit größter Vorsicht zu genießen. Nimmt man sie vorbehaltlos ernst,
dann ist auch Elvis Presley noch am Leben. Viele “Zeugen” sind einfach nur Wichtigtuer, die nach Aufmerksamkeit lechzen. Manche meinen wohl wirklich, ihn gesehen zu haben, aber können sie da so sicher
sein? Immerhin, viele der Aussagen stimmen in ihrer Beschreibung des
vermeintlichen Hitler überein. Aber, ein alter, humpelnder Mann deutscher Herkunft, ohne Schnurrbart und mit weißem, kurz geschorenen
Haar? Das könnte auf viele betagte Herren zutreffen.
Die als Indiz für einen vorgetäuschten Selbstmord angeführten Zeugenaussagen sind ebenfalls kritisch zu betrachten. Teils erhebliche Diskrepanzen in der Beschreibung ein und desselben Ereignisses sind völlig normal. Psychologische Studien zeigen immer wieder, dass mehrere
Leute ein und dieselbe häufig völlig unterschiedlich wahrgenommen
und zum Teil Dinge gesehen haben, die überhaupt nicht passiert sind.
Daher gilt auch hier äußerste Vorsicht.
Insgesamt lässt sich zu den Werken der hier erwähnten Autoren sagen, dass es ihnen aufgrund diverser Schwachpunkte in Recherche und
Ausarbeitung an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit mangelt. Insbesondere das Buch “Hitler En Argentina” vom Journalisten Abel Basti
vermisst jegliche Struktur. Eine vernünftige Einleitung existiert nicht,
die wichtigen Eckdaten bezüglich Flucht, Ankunft, Aufenthalt in Argentinien sucht man vergebens. Ebenso fehlt ein Fazit, welches diese
Bezeichnung verdient. Ein für solch eine Arbeit notwendiges entsprechendes Verständnis der europäischen Geschichte ist nicht vorhanden.
Die unglaubliche Fülle von Irrtümern, fehlerhaften Datumsangaben und
falsch geschriebenen Namen lässt kaum positive Rückschlüsse auf die
Qualität der Recherche zu. In der Schweiz wird mit der Schweizer Mark
bezahlt, der letzte Irakkrieg begann im Jahre 2004 und aus J. Edgar
Hoover, dem legendären ehemaligen Chef des FBI, wird J. Edgard Hoover. Allein schon aufgrund der miserablen Niederschrift seiner Erkenntnisse, sollte es dem Autor wohl kaum gelingen, neutrale Leser von seiner These zu überzeugen. Zu guter Letzt entwertet Basti seine Arbeit
noch selbst, indem er – immerhin ehrlich – zugibt, dass es ihm aufgrund Zeit- und Geldmangels nicht gelungen sei, Hitlers Anwesenheit
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in Argentinien zu beweisen. Mit den entsprechenden Ressourcen sei
dies aber ein Leichtes. Aha. Dann braucht man dieses Buch also nicht
zu lesen?
Das Buch von Patrick Burnside hinterlässt aufgrund seiner durchaus
vorhandenen Stringenz einen seriöseren Eindruck, jedoch vermisst man
hier ebenfalls die notwendige wissenschaftliche Sorgfalt, jedoch in geringerem Maße als bei Basti. Insbesondere die Schreibweise deutscher
Namen ist fehlerhaft und die so manchen Zeugen ist regelmäßigen
Änderungen unterworfen. Es mag kleinkariert klingen, aber gerade wenn
man solch brisante Theorien veröffentlicht, sollte mit größter Sorgfalt
zu Werke gegangen werden, sonst leidet die Glaubwürdigkeit immens.
Abgesehen von den handwerklichen Mängeln der erwähnten Werke
ist die hauptsächlich auf Zeugenaussagen beruhende Theorie vom vorgetäuschten Suizid Hitlers und seiner anschließenden Flucht nach Argentinien wenig plausibel. Hitler war in den Monaten vor seinem Freitod bereits schwer gezeichnet von der parkinsonschen Krankheit und
wies starke Anzeichen von Demenz auf. Im Angesicht der sich abzeichnenden Niederlage gab er den Nerobefehl, damit die Alliierten nichts
als “verbrannte Erde” ernteten. Schließlich wandte er sich aus Enttäuschung von den Deutschen ab, die sich doch nicht als Herrenmenschen
erwiesen hatten. Sein Lebenswerk zerstört, Deutschland in Schutt und
Asche, die einst stolze Wehrmacht ein Hühnerhaufen: seine Träume
waren ausgeträumt. Daher erscheint der Selbstmord, obwohl tatsächlich nicht zu 100 Prozent bewiesen, als einzig logische Schlussfolgerung.
*Schreibweise des Namens ändert sich mehrmals im Buch.
Abel Basti:
Hitler en Argentina,
www.hitlerargentina.com.ar
Patrick Burnside:
El Escape de Hitler, Planeta

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